Brot

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Sam

Beitragvon Sam » 18.12.2009, 15:11

Brot


Spangenbachs kürzlich erschienener Aufsatz über die in manchen katholischen Sekten praktizierte Brotbuße, wurde nur am Rande zur Kenntnis genommen, was sehr bedauerlich ist. Aber verständlich, da er niemandem wirklich Angst gemacht hat.


Ein junger Mann betritt einen Supermarkt, geht zielstrebig in Richtung der Backwaren und nimmt sich ein Brot aus dem Regal. Er trägt Jeans und einen Kapuzenpulli, sauber, ordentlich, nicht zu groß. Sein Gesicht ist von der Pubertät ein wenig hergenommen, die Augen glanzlos, der Mund schmal. Auffällig sind seine gepflegten Hände, die langen Finger, die fast kreisrunden Nägel. Man kann sie deutlich sehen, als er das Brot umfasst, ein großes Stück aus dem Laib herausreißt und sich in den Mund schiebt. Doch statt zu kauen, schluckt er. Er bricht ein weiteres Stück und stopft nach. Schluckt erneut. Beim dritten Brocken beginnt er zu würgen, schiebt aber noch einen vierten hinterher. Jetzt gerät sein ganzer Körper in Bewegung, verkrampft sich in dem Bemühen, den Brechreiz zu unterdrücken. Noch ein letztes Stück, er presst es auf den Mund, als wolle er ihn damit endgültig verstopfen. Einen eigenartigen Tanz vollführt er, einen Brottanz, einen Erstickungstanz, sein Körper wehrt sich, will kein Brot mehr, will nur Luft.


„Unterernährt? Nein, nicht unterernährt, so was wäre bestimmt schon längst aufgefallen. Wobei manche der Jugendlichen in diesem Alter so aussehen, als hätte man sie gerade aus dem KZ – Sie verstehen...
Sicher, er war sehr leicht und dünn für sein Alter, aber keiner der Tests zeigte irgendwelche Mangelerscheinungen. Im Grunde war er sogar über dem Durchschnitt. Also wenn man diejenigen in Betracht zieht, die so jeden Tag Fastfood essen oder daheim nur Raviolidosen aufgeschraubt bekommen, da war er richtig gut drauf – zumindest blutwertechnisch.“



Eine Angestellte des Supermarktes, schon etwas älter und recht korpulent - Sie wissen schon, die morgens meistens das Gemüse und den Salat aufstapelt, immer mit einem etwas fleckigen Kittel, die Haare oftmals fettig oder unordentlich, wenn die einen Salatkopf ganz oben auf die Kiste legt, nehmen Sie immer den, der darunter liegt - läuft zu dem jungen Mann und versucht ihm die Hände vom Mund wegzudrücken. Der wehrt sich. Erst als ihn die Kräfte verlassen, gibt er nach. Der Körper erschlafft und kann den Hals nicht mehr freiwürgen.


„Ich glaub, der wäre gerne cool gewesen. Aber irgendwie hatte er immer so einen Stock im Arsch. So Typen gibt’s halt. Stehen meist alleine rum, und wenn man dann mal auf sie zugeht, weichen sie gleich zwei Schritt zurück. Kommen sie aber von selber, dann sind sie furchtbar ungeschickt und verkrampft. Das funktioniert einfach nicht. Nein, ich glaub, der wäre irgendwie gerne cool gewesen und hätte es vielleicht auch sein können, wenn da nicht dieses religiöse Dingens gewesen wäre. Ob er das toll fand, weiß ich ja nicht, aber seine Eltern werden es halt gewollt haben. Zum Rebellen hat ihm offenbar der Mumm gefehlt. Zumindest war da nicht viel drin mit locker sein, Disco, Tanzen, Spaß haben. Aber vielleicht wollte er ja so ein Freak sein. Ist mir eigentlich auch egal. Und was hat der nun gestohlen? Ein Brot? Und deswegen der ganze Aufriss?“


„Ganz normaler Junge. Absolut unauffällig. Höchstens ein wenig nachdenklich, aber auch nicht wirklich. Sporadisch apathisch, aber wer von den Jugendlichen ist das nicht? Ich arbeite nun wirklich schon lange genug mit den Kids, um zu wissen, dass die ab und an mal ausschalten. Verarbeitungsphase nenne ich das. Der Eine verprügelt dann seinen Tischnachbarn. Und der Andere, der starrt einfach Löcher in die Luft.“


Spangenbach konzentriert sich zunächst auf die symbolische Bedeutung des Brotes in den religiösen Schriften des Christentums, vornehmlich der Bibel. Er führt aus, dass die erste Erwähnung von Brot nach dem Sündenfall erfolgte, im Zuge der Strafverlesung: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen.“ Danach aber stellte es vor allem eine göttliche Segensbekundung dar. Manna z.B., das Brot vom Himmel, auf das sich Christus später bezog, wenn er sich als solches bezeichnete, von dem man essen müsse, um ins Himmelreich zu gelangen. Und so weiter. Spangenbach holt weit aus, natürlich immer im gewohnt süffisanten Ton, der stets den aufgeklärten Atheisten durchscheinen lässt.


Der Vater erfährt von dem Vorfall, als sein Sohn schon im Krankenhaus ist. Durch eine Mail seiner Sekretärin, weil er sich für den ganzen Tag sämtliche Störungen verbeten hat. „Die“, hatte er gleich am Morgen gesagt und auf die dicke Tür gezeigt, welche sein Büro von dem Vorzimmer trennte, „wird heute nur noch von Innen geöffnet.“
Die Sekretärin verschwand mit einem Knurren und er ging hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Die Lehne eines sündhaft teuren Bürostuhls im Rücken zu fühlen, das gefiel ihm schon immer. Heute aber spürt er nichts. Nur ein Ziehen aus unbestimmter Richtung. Er hat in seinem Leben schon so oft über Prüfungen geredet, dass sie ihm völlig fremd geworden sind. Ihnen direkt gegenüber zu stehen, war etwas ganz anderes. Er war ein Theoretiker des Glaubens, das Praktische aber hatte viele Tücken. Es gab zweierlei Schmerzen, das wusste er. Den Schmerz der Versuchung und den Schmerz der Konsequenz. Die Konsequenz – vor allem bei seinem Sohn. Das war notwendig. Weil es in sich richtig ist, einen Weg konsequent zu gehen, sei er nun wahr oder falsch. In der Konsequenz erkennt Gott die Stärke.
In der Versuchung jedoch war er stets alleine, ihr Schmerz war nur sein Schmerz. Und wem sollte er sagen, dass er schon lange nicht mehr betete?
Die Mail lautet: Anruf Ihrer Frau. Ihr Sohn ist im Krankenhaus. Bitte zurückrufen.
Er ruft zurück, und zwei Stunden später kommt er in die Klinik.


„Wir waren zwei Monate zusammen, aber nicht wirklich. Wir haben uns ein paar Mal nach der Schule getroffen. Sind mal ins Kino oder in die Stadt gefahren. Er mochte Bücher, davon hat er viel geredet. Im Park haben wir heimlich geraucht, obwohl er ziemliche Angst hatte, dass seine Eltern das heraus bekommen. Einmal haben wir sogar geknutscht, aber da war er so was von wild, dass ich dachte, er vergewaltigt mich gleich. Dann hab ich Schluss gemacht.
Über Religion? Nee, über Religion haben wir nicht gesprochen, wieso?“



„Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber wenn man etwas Besonderes ist, dann haben viele Dinge, die als Normal gelten, eine andere Wertigkeit. Und mit etwas Besonderem, meine ich einen wirklich gläubigen Menschen. Gläubig in einer Form, wie man sie heute eigentlich nur noch unter diesen Moslems findet, zu unserer Schande. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen. Wie dieser Junge und seine Familie. Echte Christen. Bemüht in jedem Aspekt des Lebens dem Glauben Ausdruck zu verleihen. Nicht nur da, wo es leicht ist, sondern auch da, wo es weh tut. Aber notwendig ist. Wenn es weh tut, dann ist es immer notwendig, sonst ließe sich das ganze Konzept ja nicht mit der allumfassenden Liebe vereinbaren, die mit dem Gottesbegriff verbunden ist.“


Die Mutter sitzt auf der Couch und liest, als das Telefon klingelt. Peer Gynt. Sie hasst diesen Klingelton, weil er etwas Schönes entstellt. Aber sie hat sich daran gewöhnt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt angespannt. Schon nach den ersten Worten weiß die Mutter, dass etwas passiert ist. Zu umfassend ist ihre Kenntnis von Spannungszuständen. Und wenn sie Schlimmes erwartet, dann immer das Schlimmste: Irgendeinen Tod. Durch die Leitung hört sie „Ihr Sohn...“ und sieht nur noch Schreckensbilder und Blut. Sie rutsch vom Sofa, kniet auf dem Teppich, beugt den Rücken. Mehr Demut geht nicht. Der Herr hat’s gegeben...
Dabei sitzt der Junge so fest in ihrer Brust, wird zum Schmerz, sobald sie sich ihn wegdenkt. Oder unglücklich. Oder unter Strafe.
Wenn es dein Wille ist, dann lass diesen Becher...
Die Stimme im Telefon hat zu Ende geredet und eine eigentümliche Erleichterung macht sich in der Mutter breit. Eine Erleichterung, die man verspürt, wenn dem Schmerz seine Vollkommenheit verloren geht.
Das Telefon noch immer in der Hand, setzt sie sich wieder auf die Couch und versucht, ihren Mann zu erreichen.


„Richtige Freunde waren wir nicht. Wir haben in der Schule nebeneinander gesessen. Ab und zu trafen wir uns am Nachmittag. Manchmal zum Lernen, manchmal einfach um ein bisschen abzuhängen. Aber nur bis um sechs, dann musste er nach Hause. Abends durfte er so gut wie nie weg. Auch am Wochenende nicht. Er wollte Tierarzt werden, oder Dichter. Von zu Hause hat er selten geredet, aber wenn, dann hatte ich das Gefühl, dass er Angst vor irgendetwas hatte. Ja, von Strafen erzählte er auch, aber immer so komische Sachen, wo ich mir dachte, das sind doch keine wirklichen Strafen. Bestimmte Bücher lesen, einen Tag nichts sagen und so was. Ums Essen ging es da aber nie.“


Spangenbach schreibt:
„Die Brotbuße ist eine symbolische Strafe. Brot als Zeichen der Gunst. Unser täglich Brot gib uns heute. Wem man das Brot entzieht, dem entzieht man den Segen Gottes. Die psychologische Wirkung ist tiefgreifend. Es handelt sich um eine Vorstufe der Exkommunikation. Der Sünder bekommt für eine gewisse Zeit kein Brot und darf auch nicht in Gemeinschaft essen. Eigentlich eine zeitgemäße Strafe, denn sie kommt ohne Prügel aus. Niemand stirbt, wenn er mal für eine Weile kein Brot ist.“


„Sehen Sie, wir haben genug Fälle, in denen wir tatsächlich einschreiten müssen, weil den Jugendlichen Gefahr droht. Das sind dann aber konkrete Dinge. Körperverletzung, Missbrauch, grobe Vernachlässigung und solche Sachen. Und oft genug kommen wir nicht rechtzeitig. Was dann passiert, wissen Sie. Wenn wir da noch jedem hinterherlaufen würden, der seine Kinder mit steinzeitlichen Glaubensvorstellungen großzieht, dann hätten wir viel zu tun. Allein bei den vielen Ausländern. Wie? Gut, in diesem Fall waren es keine Ausländer. Von mir aus auch was christliches, ist doch egal. Es gab nie irgendwelche Hinweise darauf, dass der Junge gefährdet sei. Und bei dem Elternhaus, ich meine, der Vater ist Verkaufsleiter bei einer nicht unbekannten Firma, verdient nicht schlecht, die Mutter ist nur Hausfrau, d.h. ständig zu Hause, um das Kind zu versorgen. Das sind Traumvoraussetzungen. Ich würde mir wünschen, alle Eltern wären so. Da könnten die religiös gerne ein wenig überzogen sein. Aber ansonsten ist das doch optimal.“


Kann es sein, fragt am nächsten Tag eine Tageszeitung, dass sich ein junger Mensch umbringen möchte, indem er sich solange den Hals mit Brot vollstopft, bis er erstickt?


Einer seiner Klassenkameraden bemerkt:
„Wer weiß, vielleicht hatte er einfach nur Hunger.“

Einige Tippfehler beseitigt - Merci Renée
Zuletzt geändert von Sam am 20.12.2009, 11:58, insgesamt 1-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 28.12.2009, 17:27

Hallo Klara,

auch dir lieben Dank für deine Bemerkungen und Anregungen.

Ich gehe mal auf ein paar Sachen ein, die du bemerkt hast:

Gibt es Spangenbach und diese Brotbuße wirklich?


Soweit ich weiß nicht.

Warum musste er Feinde hinterlassen, die es zu bekämpfen, zu missionieren gilt? (Stimmt es, dass nur zwei der fünf großen Religionen missionieren: Christentum und Islam? Und Judentum, Hinduismus, Buddhismus nicht?)

Bekämpfen und missionieren sind wohl zwei Paar Schuhe. Der urchristliche Gedanke ist ja eigentlich "Liebet eure Feinde". Und die Missionierung hatte den Charakter einer Erretung. Soweit ich weiß, gab es zu bibischen Zeiten auch jüdische Gruppierungen, die missioniert haben. Die Konvertiten nannte man dann Proselyten. Daher auch der mitlerweile vergessene Begriff Proselytenmacherei. Diesen Begriff, als Vorwurf gebraucht, verwendeten wiederum viele Katholiken gegenüber missionierenden protestantischen Glaubensrichtungen.


noch feilen könnte man - in einem so ausgefeilten Text wie diesem - hier:
Off Topic
Spangenbach holt weit aus, natürlich immer im gewohnt süffisanten Ton, der stets den aufgeklärten Atheisten durchscheinen lässt.
"natürlich immer im gewohnt", noch dazu kombiniert mit "stets" ist zu viel für meine Augen. Und auch ein TONfall, der etwas durchSCHEINEN lässt, ist ein Bildbruch. Ausreichend wäre: Spangenbach holt weit aus, im gewohnt süffisanten Tonfall, der den aufgeklärten Atheisten - was weiß ich: durchreicht? zeigt? mitschwingen lässt?

Da hast du völlig Recht. Es müsste "durchklingen" heißen.

und hier:
Off Topic
Einer seiner Klassenkameraden bemerkt:
„Wer weiß, vielleicht hatte er einfach nur Hunger.“

"Wer weiß" würd ich streichen und schreiben (auch, weil Jugendliche so nicht reden): "Vielleicht hatte er auch einfach nur Hunger."

Da bin ich mir nicht so sicher. "Wer weiß", sagen Jugendliche das nicht?

Schwächer finde ich diese Stelle, weil mir der Innenblick inkonsequent erscheint. Als könnte der Text sich hier nicht entscheiden: Spricht er ÜBER den Vater oder MIT ihm?

Er spricht über ihn.

(Ist es wichtig, dass die Mutter Peer Gynt liest? Sinnvoll, wenn man keinen "Hint" dazu bekommt? Ibsen war, glaub ich, kein Katholik, auch wenn er wohl auf seine Art mit der kirchlichen Lebensverdrängung kämpfte.)

Verstehe ich nicht:
Off Topic
Sie hasst diesen Klingelton, weil er etwas Schönes entstellt.
Glocken?


Peer Gynt ist der Klingelton des Telefons. Nicht Ibsen, sondern Grieg. Ist aber vielleicht auch etwas verwirrend geschrieben...

Das Ende kommt arg abrupt, bricht ab, finde ich. Warum so plötzlich?

Das hat Henkki auch schon angemerkt. Aber wie schon gesagt, es ging mir hier nicht um Hintergründe, sondern um die Darstellung verschiedener Wahrnehmungen. Ich wollte nichts auserzählen.

Was ist das für ein Hunger?

Gute Frage!

Nochmals herzlichen Dank!

Liebe Grüße

Sam

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.12.2009, 21:31

Hallo, ich nochmal,

liebe leonie,

ich habe nicht geschrieben, dass ich nicht zwischen Sekte und Kirche unterscheiden möchte, sondern dass ich dies nicht so klar tun möchte, wie du es von mir gefordert hast, deshalb finde ich deine Vergleiche (Nazi/Deutsche) unhaltbar. Inzwischen sind ja einige Sachen dazu gesagt worden. Für mich ist es einfach so, dass man heute meist bei Sekten an unlautere entmüdigende Missionierungsmethoden denkt, aber wenn ich etwa die Geschichte der christlichen Kirche bedenke (nicht, dass man nicht lernen kann, aber man ist auch, was man war (gerade bei mangelnder Aufarbeitung) und vieles, wie die Kirche sich heute verhält, verstehe ich auch als Anpassungsverhalten) und auch gegenwärtig verhält sich meiner Meinung nach die Kirche in vielen Bereichen, wie man es eben in deiner klaren Trennungsart schneller einer Sekte unterstellen würde: Ein Beispiel wäre etwa, dass christliche Missionierungsarbeit heute mit humanitärer Hilfe verknüpft wird, wodurch ein Abhängigkeitsverhältnis geschaffen wird. Und die Kirche (Teile der Kirche / christliche Organisationen etc.) macht sich dieses Verhältnis geplant zu Nutze.
Oder denken wir an die besonders in Amerika vorliegende Einflussnahme der Kirche auf staatliche Angelegenheiten (Bildungsfragen, Verhütung, Pille, Abtreibung) - auch dass ist für mich eine aggressive Form der Ausbreitungspolitik von Kirchen, die sie in meinen Augen eben in einzelnen Bereichen moralisch mit "Sektenverhalten" vergleichbar machen. Zugleich beinhalten die religiösen "Institutionen", die als Sekten betitelt werden, nicht nur schlechte Botschaften weisen nicht nur unangemessene Verhaltensmuster auf.

liebe Flora,

mich erstaunt, dass es dich befremdet, dass der Text die laufende Diskussion auslöst und ich verstehe nicht, weshalb du den Text bedenklich findest in Bezug auf diese Rolle.

Ich finde es gut, wenn die Diskussion hier unter dem Text weiter laufen würde. Ich habe Sam bisher immer so kennengelernt, dass er gerade solche durch Texte angeregten Diskussionen gerade als erstrebenswert empfindet. Inzwischen hat er das ja auch selbst betont.

Wieso meinst du, dass ich selbst wieder in die von mir dargelegten Mechanismen falle?

lieber Herby,

das, was ich an christlicher Lehre kenne, ließ mich diesen Satz schreiben. Das ausführlich darzulegen, würde wohl die mir zur Verfügung stehende Zeit sprengen, aber ich kann einzelnes nennen, was vielleicht ausdrückt, was bei mir das Gefühl auslöst, dass für mich die christliche Lehre in ihren Grundzügen zu einem ungesunden/unglücklichen Selbstverhältnis des Menschen führt: Mir fallen hier Begriffe ein wie "Buße", "Sünde", mir gefällt nicht die Rolle der Frau, mir gefällt überhaupt die grundsätzlich hierarchische Ordnung nicht (selbst nicht die Rolle des chritlichen Herrn) nicht, die Idee des Teufels, der Hölle im Katholischen, auch die Opferrolle von Jesus finde ich (letztlich) unnatürlich unbrauchbar dafür, dass der Mensch lernt, menschlich zu sein. Mir fallen solche Geschichte ein, wie die, in der Abraham seinen Sohn opfern soll und alles nur ein gutes Ende nimmt, weil Abraham dazu bereit ist - das sind alles nur einzelne Beispiele und ich will auf keinen Fall leugnen oder nicht anerkennen, dass es nicht auch gute/gesunde Beispiele gibt und ch will auch nicht sagen, dass die aktuelle Arbeit der Kirche in vielen Gebieten nicht wichtig und gut ist, aber für mich bilden diese (wie betont in meinen Augen) genannten Negativbeispiele durchaus so stark mit den Kern der Werte, die die chtristlichen Kirche vermitteln möchte, dass es für mich nicht möglich ist, einfach zu sagen, ich kann mich zu Teilen davon distanzieren, sozusagen das Gute mitnehmen. Für mich ist es unmöglich eine Form des Christseins zu finden, die eine Mittelstellung oder ähnliches einnehmen würde, meine Reduktion würde meiner Meinung nach eben dazu führen, dass dies nicht mehr der Grundidee des Chrsitentums entspräche. Und in diesem Sinne sehe ich eben bei aller kirchlicher Arbeit dieses ungesunde für mich mittransportiert. Und so wichtig und anerkennungswürdig die Arbeit der Kirche heute auch ist (siehe etwa leonies Beispiel der Sterbebegleitung), so wäre es mir dennoch in jedem Fall lieber, diese Hilfe würde von nichtreligiösen Menschen geleistet.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Louisa

Beitragvon Louisa » 28.12.2009, 22:30

Hallöchen!

Sehr spannend, sehr spannend. Also Lisa, wenn ich im Sterben liege, dann ist mir glaube ich egal, ob der Mensch, der mir den Kateter wechselt nun religiös, metrosexuel oder kriminel ist :smile: ...

Ich habe mit großen Interesse Sams Text und die darauf folhende Diskussion verfolgt - ähnlich wie diese von euch angesprochenen "Reportagen" vielleicht :smile: -
Ich möchte gerne einige Beiträge der Diskussion zitieren, um so das Gesprächsfeuer zu entfachen (Buh!) :smile:

Lisa sagte dies:

"Derzeit glaube ich: Ja, das kann sie. In diesem Sinne musste ich beim Titel auch an "Brot&Spiele" denken, nur dass der Unterhaltungsfaktor hier eben fortgelassen wurde bzw.: werden konnte. Wir sitzen alle in einer Arena und fressen Brot in uns hinein, nur wird kein Spiel daraus ..."

- Diesen Hinweis fand ich sehr verwirrend und komisch zugleich :smile:

War es Leonie, die dies sagte? Ich habe das vorhin wild herauskopiert!

"Ich möchte aber auch zu bedenken geben, dass es Untersuchungen gibt, die besagen, dass Menschen, die glauben, glücklicher und gesünder sind. Dabei handelt es sich vermutlich unter dem, was mit "Glauben" bezeichnet ist als etwas sehr anderes als das, was Du meinst."

Da musste ich leise lachen, was an sich schon eine Freude ist (oder nicht?). Es gibt auch Untersuchungen, die besagen, dass Menschen in festen Partnerschaften mit reichlichem Sexualverkehr glücklicher und gesünder sind. Aber wenn man nun weder Partner noch Glauben in sich und dort draußen in der Welt findet - was dann? Aus Frust über das mögliche Unglück und Krankheit den nächstbesten Pfarrer heiraten?

Ist gemein und böse, dass ich einfach so einen Satz aus einer Diskussion herausreiße und ihn abschmählere... Aber ich finde nur: falls das ein Argument für den Glauben bzw. für die Kirche (die Klara ja schon vortrefflichst unterschieden hat) sein sollte - dann war es kein guter Grund. Amen.

(Nebenbei: Verzeiht die Nachwirkungen meiner gestrigen Litraten-Orgie.)

*räusper*

Da ich anscheinend nichts weiter aus der Diskussion kopiert habe komme ich nun noch einmal zu Sams Text:

Lieber Sam!

Ich finde deine fragemtarische Prosa (sagt man das so?) sehr gelungen! Und weißt du warum :smile: ?

Weil sich (fast) alle danach gefragt haben, ob es wirklich so eine Brot-Strafe gibt - und du hast sie ja genialerweise bloß erfunden, haha! Aber es könnte ja so sein, das es so eine STrafe gibt - und sicherlich gibt es sie auch irgendwo, denn es gibt ja alles... Aber dadurch, dass du da nur etwas Fiktives beschreibst rückst du die ganze Geschichte in ein fiktives Licht. Das lässt mich das alles viel besser abstrahieren.

Ich habe dann nämlich gedacht: na gut, wenn es so eine Strafe gar nicht gibt - dann geht es um das Prinzip des "Strafens" im Allgemeinen - und man merkt sehr schön an deinem Text wie tief manchmal solche Wunden einer ganz subtilen, manchmal nur psychologischen "Strafung" (sei sie nun absichtlich oder nicht) führen können -

Das und die Beobachtung bzw. Nicht-Beobachtung "der Anderen" auf dieses Gefüge finde ich sehr spannend. Es ist ja auch weitaus leichter bei einem Fall wie: "Der Vater hat seine Kinder verprügelt!" aufzuschreien - als bei der Aussage: "Der Vater hat die Kinder nie gelobt!" -

In so einer Art und Weise verstehe ich deine Geschichte... Ich hätte gerne noch mehr von dieser Familie und von diesem Jungen erfahren. Manchmal war mir die Geschichte da auch zu knapp.... mmm....

Diese Ausgrenzung durch die anderen Schüler (?) fand ich auch sehr schön dargestellt. Wir hatten auch so einen Jungen in unsere Schulklasse, der fast genauso aussah wie dein Protagonist - und dessen Eltern ebenso in einer freikirlichen Sekte waren... naja, lange Geschichte -

Aber wie ich bereits sagte: Die Eltern hätten auch Fleischer sein können oder ein Ärzteehepaar (MADDIE! MADDIE! Haha, entschuldigung - ich jage da so einer realen Dedektivgeschichte nach...) - diese subtilen Strafungen kann man ja an jeder Ecke finden - Besonders bei Fanatikern (in jeder Richtung) sind sie wahrscheinlich leichter zu finden...

Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass eine Mutter, die den ganzen Tag auf dem Kopf steht, ihrem Kind Sojasprossen als Pausenbrot mitgibt und Aufschreit, wenn er eine Textilie aus Taiwan mit nach Hause bringt - die sie dann in einer Art Räucherstäbchen-Zeremonie vor seinen Freunden verbrennen müssen - das so eine Mutter ebenso strafend sein kann wie eine fanatisch christliche...

Ich würde mich über diesen Aspekt jedenfalls nicht so sehr an der Geschichte aufreiben...

Schön finde ich in dem Zusammenhang auch die Stelle, wo von den ach so gut-bürgerlichen Berufen der Eltern die Rede ist - das man in so einem "Milieu" ja keine Gewalt vermutet... das ist auch ein spannendes Thema! Ja, ja.

Was wollte ich noch sagen? Ich habe es vergessen. Aber vielleicht fällt es mir gleich wieder ein. Ich freue mich jedenfalls sehr über diese ebenso subtil-strafende Diskussionsrunde hier :mrgreen:

Subtil liebende Grüße!
l

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leonie
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Beitragvon leonie » 28.12.2009, 22:52

Liebe Lisa,

mein Problem ist, dass hier zu wenig differenziert wird, sondern zu vieles über einen Kamm geschoren. Und zwar aus einer Außenperspektive. Das wollte ich mit meinen zugegebenermaßen provozierenden Beispielen (das habe ich ja auch geschrieben) deutlich machen.

Ich vermute, das ist das, was Flora meint, wenn sie schreibt, Du unterliegst den Mechanismen, die Du oben beschreibst. (Das tun wir vermutlich alle, schreibst Du ja auch). Dass man nämlich letztlich das, was man nur aus einer Außenperspektive kennt, über die Medien zum Beispiel letztlich nicht wirklich beurteilen kann (oder habe ich da etwas falsch verstanden?)

Ich sehe einfach, dass vieles von dem, was Du schreibst, nur teilweise stimmt und keinesfalls für "die Kirche" zutreffend ist (die es ja so meiner Meinung nach auch nicht gibt): Einige Beispiele:

Die kirchlichen Hilfsorganisationen zumindest der evangelischen Kirche haben, soweit ich das auf die Schnelle überblicken kann, keinen Missionierungsanspruch, sondern leisten im Normalfall Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Diakonie zum Beispiel in Berlin die "arche" fragt mit Sicherheit nicht nach Kirchenzugehörigkeit. Auch bei der Notfallseelsorge, Sterbebegleitung, Lebensberatung, etc. geht es nicht um Mission.

Das, was in Amerika passiert, ist doch in keiner Weise vergleichbar mit dem, was hier ist.

Alles, was Du für das theologisch Ungesunde anführst, wird in der Theologie diskutiert, hinterfragt, gedeutet. etc.

Meiner Meinung nach ist die Grundidee des Christentums die Liebe. Und zwar eine, die den anderen so annimmt wie er ist.
Diese Motivation steht nach meiner Kenntnis auch dahinter, wenn "Kirche" sich um die Randgruppen der Gesellschaft kümmert, die nicht schön, nicht gesund, nicht leistungsfähig, usw. sind. Ohne missionarischen Anspruch übrigens.
Ich habe auch nichts dagegen, wenn sich nichtreligiöse Menschen darum kümmern. Ich befürchte allerdings, dass manche von denen genau so einen missionarischen Eifer bezüglich ihrer Überzeugungen an den Tag legen wie Du ihn bei religiösen Menschen vermutest.
(Wie überhaupt vieles "Profane" mittlerweile religiöse und zum Teil auch missionarische Züge trägt, Fußball zum Beispiel, Leistung, Jugendlichkeit und Gesundheit. Aber das macht ein neues Fass auf).


Liebe Grüße

leonie


Zeugen Jehovas: Ja, Nicole, sind nach meiner Definition eine Sekte (aber ich werde mich damit nochmal eingehenden beschäftigen): Weil sie mich gar nicht reinlassen würden, wenn ich nicht zu ihnen gehöre. Weil sie Menschen entmündigen, weil ihre religiösen Überzeugungen exklusiv sind. Um nur einige Argumente zu nennen.

Es wäre übrigens auch noch interessant, den Missionsbegriff zu klären. Wenn es bedeutet, andere von den eigenen Überzeugungen zu überzeugen, dann sind vermutlich die meisten Menschen Missionare.


Liebe Louisa,

diese angeführten Untersuchungen waren einzig und allein dazu da, Lisas These zum Thema "ungesund" zu widersprechen. Natürlich sind sie nicht als Medikament einsetzbar... :-)

Louisa

Beitragvon Louisa » 28.12.2009, 23:55

Hallo, hallo!

Ach, Mensch! Jetzt habe ich eben ganz viel geschrieben und auf einmal PUFF war es weg! Wieso weiß nur der liebe Gott oder eine staatliche soziale Einrichtung! Darum ging es nämlich!

Liebe Leonie!

Gut. Wenn nun die Grundidee der Kirche/des Christentums die "Liebe" wäre - wieso kann ich dann nicht einfach in eine soziale Einrichtung (des Staates) spazieren, dort arbeiten und das Prinzip der Fürsorge (wie es auch im Christentum vorkommen mag) ausleben? Dafür brauche ich ja keine Kirche!

Es ist ja nicht so, dass ich, wenn ich in die Kirche eintreten will und noch nicht genau weiß: Soll ich das machen oder nicht? - Das ich mir da denke: Ja, die Kirche tut so viel Gutes! Sie rettet Obdachlose vor dem Hunger und vor dem Erfreirungstod! Die Kirche spendet für Brot und die Welt! Da sollte ich mal eintreten!

Ich frage mich doch vor allem: In der Kirche wird eine Religion ausgeübt. Gehöre ich dieser Religion an? Was macht diese Religion aus? Ich glaube an erster Stelle den Glauben an einen Gott. Ja, aber wenn ich nicht an Gott glauben kann - wie kann ich dann der Kirche beitreten???

Das ist glaube ich auch eines der Probleme, die Lisa meint. Ich finde es schön, wenn man sein Geld karitativen Einrichtungen oder armen Menschen auf der Straße gibt, wenn man Kranken hilft und Schwachen Suppe kocht - aber um all das zu tun muss ich keiner Kirche beitreten -

Ich finde das ist ein sehr liberales und schlechtes Argument für die Kirche.

Ein weiteres Beispiel: Ich hatte vor ein paar Monaten die Idee Heilerziehungspflegerin zu werden. Ich schaute mir dann alle Insttitutionen im Internet an und las ganz oft im Titel: "Katholische Schule für Heilerziehungspflege" "Evangelische Einrichtung für Heilpädagogik und Heilerziehungspflege" - aber als ich so die ersten E-Mails schrieb dachte ich: Wie kann ich denn in so einer Schule lernen und in so einer Einrichtung arbeiten, wenn ich gar nicht an Gott glauben kann? Da würde ich mir vorkommen wie eine Betrügerin. Zum Glück gab es ja auch noch staatliche Einrichtungen, die dasselbe machen.

All diese Ideen von einem göttlichen Wesen, von seinem Sohn, dessen Lebensgeschichte, die Schöpfungsgeschichte, etc. etc. - das ist doch mindestens genauso mit der Kirche verbunden wie diese Idee der Nächstenliebe - und ich kann mir nicht eines herauspicken, was mir am Besten gefällt und dann einfach der Kirche beitreten.

Was man dann nämlich praktisch aus diesem Haufen von Ideen macht - das kann schief gehen (Abreibung, Fanatiker!?) oder gut gehen (Sterbehilfe, Spenden) - aber diese praktischen Folgen einer Idee sind ja nur ihre Folgen. Erst einmal muss ich doch für mich allein das Paket, was dahintersteckt akzeptieren. ich will doch ehrlich zu mir selbst bleiben.

Mich stört generell diese sich besonders bei den Protestanten ausweitende übertrieben liberale Haltung ihrer eigenen Kirche gegenüber - ich saß vor ein paar Tagen aus reinem Interesse an Heiligabend im "GOTTES-DIENST" (man berke mal das Wort) und der Pfarrer predigte eine Stunde über den Klimagipfel -

Da frage ich mich einfach: Sollte ich jetzt nicht besser 50 Euro einem Altenheim spenden und mir den Spiegel kaufen oder noch besser katholisch werden?

Was ist denn das noch für eine Kirche, frage ich mich - da fällt es sofort jedem auf, dass dort beständig versucht wird mit möglichst viel Weltlichkeit die antheistischen, unterhaltungs-gestörten Schäfchen zurück in die Gotteshäuser zu lotsen - Aber mich schreckt dieser Liberalismus eher noch mehr ab, weil man den Versuch dahinter sofort bemerkt - und ich glaube, was die Menschen wirklich in die Kirche treiben würde und was ihnen jegliche Kritik nehmen würde wäre ein tiefer ehrlicher Glaube an Gott und an all die Werte, die mit der Kirche in Verbindung stehen. Aber das ist spätestens seit Nietzsche und Talkshows und Therapeuten, die den GemeindePfarrer abgelöst haben schwer zu finden.

Aber allein die Tatsache, dass die Kirche sich sozial engagiert macht mich noch nicht zu ihrem Unterstützer - eben weil sie nicht nur aus dieser Praxis besteht und das soll sie auch gar nicht.

So sehe ich das Problem... und ich glaube das kommt auch an das heran, was Lisa meint. Was sagt ihr dazu?

Liebe Grüße,
l

Nicole

Beitragvon Nicole » 29.12.2009, 09:12

Liebe Lou,

klingt es vermessen, wenn ich sage "weise gesprochen für so ein Küken"? Ich war ehrlich hocherfreut, wie klug Du es auf den Punkt bringst. :-)

Liebe Leonie,

nun, ich habe viel über die Zeugen im Internet gelesen, all die Horrorstorys über Druck, Drangsalierung und Psychoterror. Das hat mir Angst gemacht und mich in der Annahme bestärkt: das ist eine üble Sekte. Paßte allerdings nicht wirklich zu den Zeugen, die gelegentlich, feierlich gekleidet an meiner Tür klingelten und ledlgich höflich fragten, ob sie mir mir über Gott sprechen dürften. Und jedes Mal, wenn ich freundlich "nein, das möchte ich nicht" entgegnete, verabschiedeten sie sich höflich und ohne zu insitieren. Diese Menschen machten mir definitiv keine Angst. Und dann (ich bin immer neugierig und nehme jede Gelegenheit war, über meinen Tellerrand zu schauen) konnte ich ein streng gläubiges Zeugen Paar kennenlernen. Ich war gewappnet, mich nicht "beschwätzen zu lassen", ging mit einer gründlichen Abwehrhaltung zu diesem Treffen. Und war erstaunt. Während der ganzen Zeit kein einziges Wort über Gott, Armageddon oder meine, aus Zeugen Sicht sicherlich absolut unpassende Lebensweise. (Ich rauche, lebe in Scheidung und noch dazu in "wilder" Beziehung mit einem Mann). Nichts. Einzig fiel mir der für unsere Zeit herausragend respektvolle und liebevolle Umgang der beiden untereinander aber auch mit mir und meiner Tochter auf. Und dies, obgleich ich vor dem persönlichen Treffen durchaus deutlich meine Meinung über Ihre Religion geäußert hatte. Es wurde weder beim ersten, noch bei folgenden Treffen ein einziger Missionierungsversuch unternommen. Hier kann man nun sagen "Taktik" oder "Einzelfall" oder ähnliches. Ja. Aber es hat mir gezeigt, daß man den Menschen nicht auf Basis seiner religiösen Orientierung beurteilen darf. Sondern eben das Individuum dahinter.

Ebenso hatte ich über vier Jahre eine Mitarbeiterin, die aus einer strengen Methodistenfamilie kam und den Regeln ihres Glaubens auch sehr ernsthaft folgte. (Nach außen sichtbar: ungeschminkt, lange Haare, ungestylt und immer Röcke. Deren erlaubte Länge ist übrigens, ich habe mich oft mit ihr darüber unterhalten, abhängig von der jeweiligen "Gemeinde".) Auch der Umgang mit ihr war angenehm, respektvoll.

Im Gegensatz dazu habe ich viel streng protestantische Verwandschaft im Schwabenländle. Die meine Schwester von einer Hochzeit ausluden, da sie mit ihrem Lebnesgefährten kommen wollte (mit dem Sie damals 15 Jahre zusammenlebte) und sich weigerte, in getrennten Zimmern zu schlafen um die Form zu wahren. Oder eine ältere Dame, die bei mir im Dorf lebt. Ich traf sie bei einem Spaziergang und sah mich dann urplötzlich einer relativ heftigen Moralpredigt gegenüber, das es nicht recht wäre, meine Tochter habe ja gar keinen Namen, denn sie wäre nicht getauft und wie ich das meinem Kind antun könne....

Bitte, ich möchte hier nicht FÜR z.B. die Zeugen oder Methodisten predigen und GEGEN z.B. die Protestanten. Sondern nur Beispiele dafür bringen, das die Grundhaltung der Person dahinter entscheidend ist, wie ich für mich einen Menschen einstufe. Ein Zeuge Jehovas kann nicht zwingend gleichgesetzt werden mit dem, was man glaubt über deren Religion zu wissen und ein Katholik oder Protestant ist nicht zwingend "gut" und "menschlich".

Die "Kirche", wenn man über eine solche sprechen möchte, besteht doch aus den Thesen der dahinterstehenden Religion UND immer auch aus dem Menschen, die der Gemeinschaft angehören. Selbst wenn die Thesen gut und redlich sind, heißt das nicht, das es alle Mitglieder auch sind. Deswegen halte ich es auch für falsch, pauschal über eine Kirche oder Sekte zu sprechen. Versuche ich nun, nur über die Religion zu urteilen: wie kann ich objektiv beurteilen, was richtig ist? Welche Übersetzung der Bibel beispielsweise ist die "richtige"? Die der Katholiken, die der Zeugen oder die der Protestanten? Und wer interpretiert sie richtig? Ich kann hier nur glauben, niemals wissen. Denn ich kann es niemlas ratifizieren, denn zumindest ich bin nicht in der Lage, aus dem hebräischen zu übersetzen...

Womit wir bei den entscheidenden Wort sind, meiner Meinung nach. Glauben. Und der ist nicht diskutierbar.

Nicole

Nicole

Beitragvon Nicole » 29.12.2009, 09:23

Und noch ein kurzer Nachtrag:

Leonie, Du schreibst zu Beginn dieser Diskussion:
"Ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Kirche und Sekte ist zum Beispiel, dass Sekten ihren Mitgliedern den Kontakt zur Außenwelt abschneiden, dass sie einen Absolutheitsanspruch auf deren Leben und Besitz stellen."

Der Papst gilt aus unfehlbar und hat sicherlich eine Absolutheitsanspruch. Nonnen und Mönche geben ihr "gewöhnliches" Leben und ihren Besitz ab, um in den Dienst der Kriche treten zu können... Ein gläubiger Katholik müßte sich durchaus strengen Regeln unterwerfen (kein Sex vor der Ehe, keine Pille, keine Abtreibung...) Kontakt zur Außenwelt besteht durchaus, wird aber in einigen Fällen (Ehe einer Katholikin mit einem Moslem beispielsweise) sicherlich kritisiert und nicht gerne gesehen.... Ist damit die katholische Kirche gemäß Deiner Defintion eine Sekte?

Rhetorische Frage, oder?

Nicole

scarlett

Beitragvon scarlett » 29.12.2009, 10:50

"Womit wir bei den entscheidenden Wort sind, meiner Meinung nach. Glauben. Und der ist nicht diskutierbar."

Danke Nicole für dieses Statement! Und 100% Zustimmung!

scarlett

Herby

Beitragvon Herby » 29.12.2009, 11:38

Liebe Nicole, liebe scarlett,

Nicole hat geschrieben:"Womit wir bei den entscheidenden Wort sind, meiner Meinung nach. Glauben. Und der ist nicht diskutierbar."


Ich grübele noch über dein Zitat, Nicole. Welchen Sinn machen dann Kirchentage (habe noch nie an einem solchen teilgenommen), wo ja außer dem gemeinsamen Gebet wohl hauptsächlich auch diskutiert wird, über das "Wie"/"Was"? Und das II. Vatikanische Konzil Anfang der 60er war doch fast eine reine Diskussionsveranstaltung.
Vielleicht verstehe ich aber auch deinen Satz ganz einfach nur falsch...

Lieben Gruß
Herby

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Beitragvon leonie » 29.12.2009, 11:52

Liebe Louisa,

ich finde auch: Weise gesprochen. Ich kann jedes Wort von Dir nachvollziehen.
Und: natürlich muss Du keiner Kirche beitreten, um karitativ zu arbeiten. Aber umgekehrt: Es ist halt so, dass die Kirchen da sehr viel machen und es ist nicht deshalb schlecht, weil es kirchlich ist.

Was Du über die "Weltlichkeit" schreibst, kann ich absolut nachvollziehen. An Heilig Abend eine Stunde über den Klimagipfel zu predigen, finde ich auch völlig verfehlt. Ich glaube, da wäre ich gegangen.
Ich finde andererseits schon, dass Kirchen auch zu solchen Fragen sich verhalten müssen. Ein Thema ist doch auch, was sich durch ihren Beitrag in der Welt verändern kann. So ein weltfremdes Häufchen - damit könnte ich auch nichts anfangen. Aber man muss schon gucken, wo der Ort für was ist.

Liebe Nicole,

ich habe mit den Zeugen Jehovas, als sie mich besuchten, andere Erfahrungen gemacht...Ich glaube auch gern, dass es da nette Menschen gibt. Ich glaube aber auch, dass Du da nicht "Mitglied" sein kannst, wenn Du nicht bestimmte Sachen glaubst.
Das ist in der evangelischen Kirche zum Beispiel anders. Louisa z.B. könnte da Mitglied sein, da wir nichts vorher geprüft. Es ist ihre Entscheidung, ob sie dazu gehören möchte oder nicht.
Für mich ist die größte Stärke der evangelischen Kirche, dass man selber denkt, dass,man nicht rausfliegt, weil man kritisiert oder etwas nicht glauben kann, dass man selber entscheidet.

Bei den Beispielen, die Du anführst, sträuben sich auch mir die Haare. Man wird immer solche Beispiele finden, das weiß ich doch auch. Aber man findet auch völlig andere (ich hoffe sehr und in meinem Umfeld nehme ich das auch so wahr, dass die in der Überzahl sind). Man wird vielleicht auch christliche Hilfsprojekte finden, die aufs Missionieren angelegt sich (auch da müsste ich nochmal nachforschen), aber viele sind es eben auch nciht. Denen geht es drum, dazu beizutragen, dass es Menschen, denen es schlecht geht, besser geht. Und ob die sich dann entscheiden, etwas mit der Kirche zutun haben zu wollen, spielt da keine Rolle.

Ansonsten kann ich auch da vieles genau unterschreiben.
Ich kann über die katholische Kirche wenig sagen, ich weiß nur, dass die Katholiken, die ich kenne, etwas ganz anderes leben, als der Papst gelegentlich verkündet. Und dass sie trotzdem in der katholischen Kirche offensichtlich willkommen sind.
Und was ich vom Absolutheitsansprüchen jeglicher Art halte, ist hoffentlich aus meinen Äußerungen klar geworden: Gar nichts.

Mir hat in erster Linie in Lisas Beiträgen die Differenzierung gefehlt, ich meine auch, dass ich das deutlich gemacht habe. Ich weiß doch selbst, dass es viel zu kritisieren gibt an "den Kirchen", dass es sogar ekklesiogene Neuroden gibt. Aber ich weiß auch, dass sie eine Haufen richtig gute Arbeit machen und dass solche gute Arbeit nicht der Einzelfall ist, sondern aus einer Grundhaltung entsteht, die "heilsam" ist.

Liebe Grüße

leonie

P.S. Ich glaube übrigens, dass man auch über den Glauben sprechen und diskutieren kann. Das Ziel wäre dann für mich, gemeinsam weiterzukommen. Veränderung. Aber auf freiwilliger Basis.

Herby

Beitragvon Herby » 29.12.2009, 12:09

Liebe leonie,

leonie hat geschrieben:Ich kann über die katholische Kirche wenig sagen, ich weiß nur, dass die Katholiken, die ich kenne, etwas ganz anderes leben, als der Papst gelegentlich verkündet. Und dass sie trotzdem in der katholischen Kirche offensichtlich willkommen sind.


Ich gehöre zu dem Personenkreis, den du beschreibst, und habe manchmal so meine Probleme damit. Das, was einem nicht passt, lässt man geflissentlich außer Acht. Läuft man da nicht Gefahr, einen "Glauben light" zu praktizieren? Das hat m. E. auch mit dem zu tun, was Louisa ganz richtig als Ehrlichkeit vor und zu sich selbst bezeichnete.

Ob solche Menschen in der kath. Kirche willkommen sind - ich glaube fast, sie sind zähneknirschend willkommen, um die Abwanderung einer noch größeren Anzahl von "Schäfchen" zu vermeiden.

LG Herby

Nicole

Beitragvon Nicole » 29.12.2009, 12:36

Lieber Herby,

so Mittagspause im Jahresabschlußirrsinn...
Herby hat geschrieben:Ich grübele noch über dein Zitat, Nicole. Welchen Sinn machen dann Kirchentage (habe noch nie an einem solchen teilgenommen), wo ja außer dem gemeinsamen Gebet wohl hauptsächlich auch diskutiert wird, über das "Wie"/"Was"? Und das II. Vatikanische Konzil Anfang der 60er war doch fast eine reine Diskussionsveranstaltung.


Ich denke, man kann über Glauben reden, aber nicht diskutieren. Diskutieren kann ich sicherlich über die Bibel, (wenn alle Diskussionspartner an deren Echtheit glauben) deren Auslegung, Deutung und vielleicht auch über das "wie" und "was" der Umsetzung. Aber ich kann nicht diskutieren, das ich glaube oder das jemand anderes nicht glaubt, weil eine Diskussion meiner Ansicht nach immer auf Fakten basieren muss, oder zumindest auf Basis von etwas, was alle Beteiligten für Fakten halten, sonst wird es ein reiner "Meinungsaustausch". Ich kann erläutern, woran ich glaube und vielleicht noch warum, aber ich kann es nicht diskutieren.

Wie kann ich erklären, was ich meine.... mmh... Sagen wir: ich erzähle dir: "Ich habe Kopfschmerzen." Dann kannst Du mich fragen, wie sich das anfühlt und was ich dagegen tue oder mich auch bemitleiden, oder mir im Gegenzug erzählen, das Du nie Kopfschmerzen hast oder sich das für Dich ganz anders anfühlt. Aber wir können nicht darüber diskutieren, das ich vielleicht doch keine Kopfschmerzen habe (es vielleicht eher Knieschmerzen sind), weil es meine ganz subjektive Empfindung ist, die Du maximal auf Basis Deiner eigenen Erfahrungen nachvollziehen kannst. Aber mein Gefühl der Kopfschmerzen (genau dasselbe) wirst Du nicht fühlen können. (Ich setze jetzt mal voraus, das Du kein Empath bist.)
Es gibt keine messbare Größe, selbst wenn wir Deine und meine Hirnströme vergleichen, werden wir keine echte Diskussion führen können, weil das Fühlen von Schmerz nicht messbar ist. (Die Veränderung des Hirnstromes ja, aber das Empfinden des Schmerzes eben nicht.)
Ebenso ist es für mich mit dem Glauben. Ich kann sagen "ich glaube an Gott und es fühlt sich für mich so und so an und ich glaube aus dem und dem Grund." Du kannst dem wiedersprechen und mir erklären, wie es für Dich ist. Aber da die gesicherte gemeinsame Grundlage fehlt, bleibt es eben ein Meinungsaustausch. Möglicherweise ein angeregter, aus dem jeder von uns eine neue Erfahrung mitnimmt oder einen Denkanstoß, seine Sichtweise zu überdenken. Aber es bleibt doch immer eine subjektive Empfindung. Denn selbst das Buch der Bücher ist interpretierbar, auslegbar und anzweifelbar. Kann mir jemand beweisen, das dort wirklich jemand das Leben Jesus aufgeschrieben hat? Das es die Arche wirklich gab und Gott mit Noah gesprochen hat? Oder haben sich da nur ein parr kreative Schreiberlinge zusammen getan und ein großartiges Märchen geschrieben? Vielleicht nur aus Jux, vielleicht aber auch mit der Absicht, in Folge Millionen von Menschen zum Narren zu halten? Vielleicht war die Bibel nur ein Instrument ihrer Zeit zur Manipulation der Massen und ist nur per Zufall zu dem geworden, was sie auch heute noch ist? Ich weiß es nicht und niemand kann es wirklich wissen. Man kann es nur glauben oder es lassen.

Nicole

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Beitragvon leonie » 29.12.2009, 12:54

Lieber Herby,

manchmal denke ich, dass Evangelische es an dem Punkt leichter haben..."Von oben" jedenfalls kommen zur Zeit viele Stellungnahmen, die ich persönlich ganz gut finde. Zum Beispiel, dass gefordert wird, die deutschen Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Oder die Armut effektiver zu bekämpfen.
Und es gibt weniger "Einmischung" in das persönliche Leben, da sagt keiner "von oben" (im persönlichen Umfeld kann es wie Nicole schon gezeigt hat, natürlich anders aussehen), Du dürftest keine Kondome benutzten oder Dich nur einmal kirchlich trauen lassen, um mal einige gängige Beispiele zu bringen. Das ist die eigene Verantwortung und Entscheidung.

Liebe Grüße

leonie

Liebe Nicole (im Stress),

vielleicht muss man es beim "Glauben" tatsächlich eher "Austausch" als Diskussion nennen. Finde ich eine gute Idee...

Liebe Grüße

leonie

Louisa

Beitragvon Louisa » 29.12.2009, 13:00

Hallo Nicole!

Ich weiß nicht, ob das Absicht ist, aber alles, was du bisher geschrieben hast kam fast genauso in meinen Referaten über Wittgensteins Privatsprache (da spricht er fast genauso über Kopfschmerzen) und Herbert Schnädelbachs empfehlenswertes Buch "Religion in der modernen Welt" so ähnlich vor :smile: ! Das Buch ist wirklich gut geschrieben... es heißt darin, dass der Glaube eine "subjektive Evidenz" wäre - also nicht auf einer langen Auseinandersetzung mit irgendeinem Bibeltext oder dergleichen gründet, sonern in einer ganz persönlichen Anschauung, Erfahrung... In dem Sinne kann man wirklich nicht darüber streiten - Genauso wenig wie über meine Kopfschmerzen - hast du schön gesagt, Nicole!

Hier ist ein netter, kritischer Zeitungsartikel über das Buch von Schnädelbach: http://www.zeit.de/2009/30/L-Schnaedelbach

Mehr kann ich gerade aus Zeitmangel nicht zu euren interessanten Beiträgen sagen. Aber ich lese gerne weiter mit! Bis später!
l


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