Die Liebkosung der Gebisse . Die Verteufelung der Wälder

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.10.2009, 22:28

Die Liebkosung der Gebisse . Die Verteufelung der Wälder

[align=right]Die dunklen Geisterhimmel haben es ganz gern, dass sie den Menschen etwas in die Ferne stellen,
auf dass diese immer tiefer in den Schmerz hineingehen*
[/align]


Mythologie des Schmerzes


Da ruft mich was. Das ist meine eigene Stimme. Meine Schuldstimme. Die lässt mich Geisterhimmel spannen.

In der Ferne ist nicht jetzt. Die Ferne ist nicht wahr, noch nicht.

Eine Wolke - eine Leiche. Leichenwolken.
Licht. Weißes Blut.

Dieses weiche Weh, in dem man treibt;
dass man nichts tun muss, dass man nichts halten muss
und ganze Wälder ihrer Bäume beraubt,
bloß noch Tiere aus dem Boden ragen,
blutende Tiere, die sich allesamt verstecken, indem sie einander wundreißen
und lecken und lecken und lecken.



Knirschen im Park

wie dem zarten Mädchen am Wasser seine durch die Bluse scheinenden Schulterblätter brechen wie den tchibogerüsteten Walkingtanten ihren Kuchenkot ins Gesicht matschen wie der über ihre krebszerfressenden Kinder jammernden Alten auf der Plastikbank ihr fleckiges Häutchen aus dem Gesicht reißen wie dem hektisch joggenden Schnurrbartbeamten mit seinem Dünngürtel den Rücken mit Striemen übersähen wie dem schleimenden H&M-Röhrenjeansdrogenjungen mit der Flasche des im Gebüsch liegenden pseudodiogenessuffschlummernden Penners den Schädel zerspritzen wie oben auf dem Hügel angekommen den sich in weiter Ferne erleichternden labbrig gezüchteten Labrador abknallen bevor er wieder den Kindern durchs Gesicht leckt weil die Hände ihrer Mutter ach lassen wir das wie die zeternde Elster voller Geschwüre mit einer Kinderzwille aus ihren Ästen schießen wie das schon auch durch irgendetwas den Tod verdienende kastanieleuchtende Eichhorn am Ende des Stumpfes mit bloßen Füßen zu Matsch treten ! auf die Zähne beißen wie ein dunkler Magier seinen Zauberstab erhebt, so lange und so fest, so totbringend, bis ich nicht länger mich beiße; bis ich mich hindurchgebissen habe durch alle Gesichter die schon immer wie das eigene Gesicht



Kräuterwünsche

Siehst du das Tier? Jeder sieht einmal solch ein Tier.
Nimm es dir, denn es kann nicht mehr.
Entscheide, was du mit dem Tier tun willst.
Entschließe dich gegenüber dem Tier.
Wenn du nichts mit ihm anzufangen weißt, iss das Tier auf.
Bitte iss es auf, denn es kann nicht mehr.
So hör doch! Du musst das Tier aufessen, wenn du keine andere Verwendung für es hast.

Niemand ist vor Ort, nur ein Dröhnen. Nacht. Regen. Das Tier liegt auf der Seite. Es schlägt sich mit dem eigenen Schweif. Es liegt hautfarben in der violetten Nacht.



Das also, der Anfang des Stumpfes

Er hatte der Fässin ohne Boden von der Frau mit dem großen Gesicht erzählt. In all den Stunden, in denen er nichts gesagt hatte, hat er ihr von dieser Frau erzählt. Und die Fässin ohne Boden hatte gelauscht, nach dem Knirschen seiner Zähne, wie es ihn verriet. Das Lauschen, ihre grausige, einzige Stimme.

Die Fässin ohne Boden flüchtet sich zurück in den Wald. Wie hatte sie ihre dicken Finger vergessen können, ihre feiste Lust, wie hatte sie ihren Blick von sich fort entspannen können zu einem Himmel, unter dem sie als eine andere ging.

Sie dreht sich auf die Seite. Neben ihr ragt ein Fuchs aus dem Boden. Das Aufgerissene, das Faltige, die Schwärze, der Pilz, der Schleim; alles so, wie sie es befürchtet hatte und wie sollte es auch anders sein, denn, das versteht sie nun, befürchten, befürchten kann man nur, was ist. Es ist ein Berühren, das Befürchten.






*Der kleine Satz steht Pate für all das, was ich schreibe, weil ich Peter gelesen habe und zugleich ist es ein Zitat von ihm. Ich hoffe, das gilt (etwas)
Zuletzt geändert von Lisa am 31.10.2009, 20:00, insgesamt 2-mal geändert.

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leonie
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Beitragvon leonie » 03.11.2009, 11:08

Deshalb habe ich auch nicht verstanden, dass Leonie von Menschen erzählt, die ein"echtes Grauen" (oder so ähnlich hast du gesagt) erlebt haben. Wer entscheidet denn, was ein echtes Grauen ist?
Nur weil der eine seine Eltern beim Autounfall verloren hat und der andere es nicht schafft aus seiner Isolation zu entkommen, kann man nicht sagen, dass der eine mehr und der andere weniger leidet, denke ich.



Liebe Louisa,

Du hast mich da missverstanden. Ich spreche keinem Menschen, der etwas Grauenvolles erlebt hat ab, dass das so gewesen sei und nehme da auch keine Bewertungen vor. Jedes erlebt Grauen ist für mich "echtes Grauen".

Genau das macht es mir manchmal schwer künstlich erzeugtes Grauen zu ertragen, auch in der Kunst.
Wenn mir das dann zugemutet wird, möchte ich zumindest einen Grund dafür wissen oder einen Sinn darin erkennen können.
Ist das nicht der Fall und wir des einfach unmotiviert und sinnlos als "Grauen an sich" dargestellt, dann empfinde ich das in vielen Fällen als zynisch gegenüber denen, die "echtes Grauen" erleben.


Ein Künstler malt ein Bild, auf dem ein Junge in einer Jauchegrube ertrinkt. Dann möchte ich nach der Motivation und dem Sinn dieses Bildes fragen dürfen.
Ich kenne nämlich einen Mann, dessen Sohn im richtigen Leben in einer Jauchegrube ertrunken ist.
Und da empfinde ich ein gemaltes Bild möglicherweise als zynisch, wenn es nicht durch irgendetwas motiviert ist.

Mir gibt es mittlerweile einfach zuviel Grauen, das der Unterhaltung oder irgendwelchen anderen seltsamen Zwecken dient. Und es scheint mir, dass es "hip" ist zu schockieren. Deshalb bin ich da mittlerweile sehr misstrauisch geworden.
Ich verweigere mich, wenn es nicht einen plausiblen Grund dafür gibt oder es nicht für mich erkennbar ist, dass dadurch Leid in irgendeiner Weise vermindert wird oder ein Bewusstsein dafür geschaffen. Ansonsten empfinde ich es oft als eine Art seelischer Umweltverschutzung und auch als einen Zynismus den Menschen gegenüber, die in der Realität Grauenvolles durchmachen müssen.

Ich finde, wenn man etwas über das Grauen erfahren will, ist der beste Weg, sich dem in der Realität zu stellen. Ich habe das lange gemacht. Es hat auch etwas in mir zerstört, aber ich habe das als sinnvoll empfunden.
Es hat mich misstrauisch gemacht gegenüber allem Grauen, dass sozusagen aus zweiter Hand kommt oder künstlich produziert ist. Dafür will ich gute Gründe haben, sonst verweigere ich mich.

Was Blindheit ist, kann mir am besten ein Blinder zeigen oder die Tatsache, dass ich selbst erblinde.
Wenn ein Sehender es mir erklären, darstellen, etc. will, muss er mir zumindest plausibel machen, warum er meint, das glaubwürdig tun zu können.

Ich hoffe, das ist ein bisschen deutlicher geworden.

Liebe Grüße

leonie

Louisa

Beitragvon Louisa » 03.11.2009, 14:24

Hallo!

Gut, dass du dich noch einmal deutlicher erklärst. Ich glaube "ungefähr" so habe ich dich auch verstanden und finde diese Position legitim. Natürlich bietet sie aber sehr viel Diskussionsstoff. Ich kann das deshalb gut nachempfinden, weil ich ja, wie ich schon einmal geschrieben habe, auch gegen diese "AUsstellung" Körperwelten bin. Da empfinde ich ebenso mehr Sensationslust als Kunst.

Aber wie schon erklärt: Wenn man einen Alptraum hat und schreckliche Bilder in der Nacht sieht - dann haben diese Bilder sicherlich auch irgendeinen Ursprung in der Wirklichkeit, aber faszinierend ist ja auch, dass der Geist die Wirklichkeit in solche oftmals sehr kreativen Bilder übersetzen kann.

(Ich habe einmal von einem toten Kind in einem weißen Sarg geträumt, dass auf einer Drehscheibe auf dem Spielplatz langsam im Kreis vor sich hin dreht, etc.)

Dieselbe Faszination wie für solche meiner Alptraum-Gebilde kann ich auch bei Lisas Text empfinden. Deshalb finde ich ihn unter künstlerischen Aspekten (was auch immer das eigentlich sein mag!?) sehr gelungen. Weil sie interessante Bilder für negative Stimmungen der Angst, des Verzweifelns, des Schreckens gefunden hat. Ähnlich wie es ein Träumender tut - und in Träumen erhälst du doch fast nie eine Begründung für deinen Schrecken - du kannst sie danach "erahnen" - aber ob diese Ahnung immer stimmt!?

- Das weiß oftmals keiner - Aber trotzdem sind auch unbegründete Traumbilder wichtige Bestandteile des Denkens, glaube ich.

Unter diesem Aspekt würde ich mir den Text noch einmal zu Gemüte führen. Mir hat er gerade deshalb ganz gut gefallen, weil er mir so verträumt erscheint.

Schönen Tag!
l

PS: Denn wenn man sich der Realität stellt, dann muss man sich auch der Realität der Träume stellen, glaube ich... ;-)

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leonie
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Beitragvon leonie » 03.11.2009, 15:03

PS: Denn wenn man sich der Realität stellt, dann muss man sich auch der Realität der Träume stellen, glaube ich... ;-)

Ja, das denke ich genauso. Es kann sehr aufschlussreich sein. Ich schreibe sie mir manchmal sogar auf und gucke dann genau, stelle Bezüge her, etc.

Nur, ich habe ja vielleicht eine Menge mit meinen eigenen Alpträumen zu tun.
Und wenn ich mich dann mit denen anderer auch noch befassen soll, möchte ich darin in irgendeiner Weise einen Sinn sehen oder gemeinsam danach suchen...

Liebe Grüße

leonie


Ansonsten habe ich für mich jetzt mal folgende "bisherigen "Lehren" gezogen:


Ebensowenig wie man einem Autor vorschreiben kann, wie er einen Text zu schreiben hat, kann man einem Leser vorschreiben, wie er ihn zu lesen und aufzunehmen hat.

Die Pole, in denen ich bei der Diskussion gestoßen bin scheinen mir zum einen die Freiheit der Kunst und zum anderen die Würde des Lebendigen zu sein. Wobei beides der Definition und der Diskussion bedarf.

(okay, es sind noch mehr, aber ich kann das noch nicht so auf den Punkt bringen).


Liebe Grüße

leonie

Albert

Beitragvon Albert » 03.11.2009, 18:31

Hallo,

liebe leonie, danke für deine ruhige und sachliche Rückmeldung, mit der ich gut leben kann.
Ich möchte dennoch noch einmal sagen, dass ich in meinen Kommentaren doch Differenzierungen vorgenommen hatte, die zum Ausdruck bringen, dass ich einerseits deine subjektive Rückmeldung zu Lisas Text voll und ganz respektiere (und du hast noch einmal klar gemacht, warum man das auch tun sollte). Andererseits aber war es mir ja in meinem letzten Kommentar gerade wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieser Aspekt von dir in undeutlicher Weise mit einem kritischen Urteil über den Text vermischt wurde - und dies ist etwas, was ich dann gegebenenfalls angreifen kann. Ich verstehe nicht ganz, wie das überlesen werden kann (vgl. z.B. Floras Satz:
Leonie und ich haben Lisa eine ganz persönliche, vollkommen subjektive Rückmeldung gegeben, wie der Text auf uns wirkt und haben versucht zu erklären, wie und warum es zu dieser Reaktion kommt.

Genau dies habe ich ja geleugnet! Es steht ja jedem frei, jene Differenzierung zu bestreiten, aber ihr werdet verstehen, dass es mich etwas langweilt, wenn dazu überhaupt nichts kommt.

Liebe Flora, du schreibst:
Ich erhebe in keinster Weise, egal welche Art der Rückmeldung ich wähle, den Anspruch, dass der Autor etwas davon annehmen oder umsetzen muss

Nun, wie könntest du auch? Aber die Alternative: entweder ich kann den Autor zwingen oder ich kann überhaupt nicht auf ihn einwirken - ist ja nicht vollständig. Man kann auch jemandem gegenüber einen Anspruch erheben, bestenfalls, indem man Gründe für eine bestimmte Position vorbringt. Wenn man so etwas tut, dann ist es aber unmöglich für den anderen (bzw. wäre unangemessen), einfach zu sagen: "Schön, dass das für dich so ist" - sondern er ist doch in die Pflicht genommen, etwas Gehaltvolles dazu zu sagen (verpflichtet, nicht gezwungen, könnte man unterscheiden). Ich meine, dass leonie (diesbezüglich habe ich glaube ich zu deinen Kommentaren gar nichts gesagt?) genau dies getan hat. Entsprechend kann ich ihre Gründe und ihre Position kritisieren. Und auch für "arrogant" halten (was ich ja nicht mehr tue). (Und im Übrigen kann so etwas auch in beschneidender Weise geschehen, selbst, wenn der Betroffene überhaupt nicht darauf eingeht; denn Kunst hängt wie alles Geistige an Anerkennung durch kompetente Gegenüber - wird diese leichtfertig verweigert, so ist diese Leichtfertigkeit in meinen Augen keineswegs harmlos)

Zu Kunst und Moral. leonie, du hast Recht, auf den impliziten Blankocheck hinzuweisen - an dieser Stelle habe ich tatsächlich verkürzt gesprochen. Es ging mir nicht darum, Kunst gegen moralische Einwände zu immunisieren, ich wollte nur die Frage stellen, ob Kunst "von vorneherein" in der Rechtfertigungspflicht steht, oder ob man, will man der "Freiheit der Kunst" angemessen handeln, eine solche Rechtfertigung von Kunstwerken nicht dann erst fordern darf, wenn sich tatsächlich konkrete moralische Probleme daran zeigen (und dann könnte man sich natürlich noch fragen, ob eine solche moralische Problematisierung bei diesem Text hier angebracht ist).


Und auch noch ein Fazit von mir. Flora, als du gestern deinen Kommentar abgeschickt hast, war ich schon ziemlich erstaunt und enttäuscht. Ich sehe jetzt aber, dass einige Passagen meiner letzten Antwort nicht gerade zu einer sachlichen Reaktion einluden; ich kann bloß sagen, sie entstanden nicht in böser Absicht, sondern ehrlicherweise nur des Nachvollzugs meiner Reaktionen wegen. Auch das Polemische, von mir als Stilmittel intendiert, kam dann wohl anders an. Ich werde versuchen, mich zu zügeln.

Andersherum klang ja auch schon an, dass ich mit den Reaktionen auf meinen zweiten Kommentar nicht besonders zufrieden bin, so dass ich geneigt war, auf deine unmittelbare Replik, Flora, mit "dito" zu antworten. Aufgrund des eben Gesagten, erscheint mir das nicht mehr angemessen, sehr viel befriedigender macht das die Sache für mich aber auch nicht.

Lieber Max,
für deine Rückmeldung zu meinem ersten Kommentar hab vielen Dank.

Liebe Grüße,
Albert

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 03.11.2009, 20:17

Hallo,

du meine Güte, ich fühle mich etwas überfordert auf alles hier angemessen einzugehen - nach all diesen vielen und langen Beiträgen möchte ich versuchen, mich k+rzer zu fassen, auch wenn ich dafür nicht unbedingt bekannt bin :pfeifen:

Zur allgemeinen Diskussion: Ich finde, wir sind gerade an einem guten Punkt angekommen, an dem wir die verschiedenen Positionen gegeneseitig verstehen und akzeptieren können und trotzdem zum Ausdruck gebracht wurde, was einem jeweils wichtig ist. Das erleichtert mich doch um ein Steinchen, da ich zwar Diskussionen um dieses Thema sehr spannend finde, aber schon das Gefühl hatte, dass es viele in diesem Thread doch einiges an Nerven gekostet hat.
Ich glaube, solche Diskussionen müssen wohl auch schwierig, haarig, heikel und anstrengend sein, weil jeweils so grundsätzliche Auffassungen von der jeweiligen anderen Seite infrage gestellt werden. Wer seine ethischen Grenzen überschritten sieht, reagiert wahrscheinlich genauso sensibel wie jemand, der die Autonomie der Kunst in Gefahr sieht und auch wenn sich eigentlich alle Kommentare im einzelnen bewegen wollten, so landet man eben doch auf bedein Seiten schnell bei den allgemeinen Auseinandersetzungen.


Lieber ferdi,

klar gibt es Texte, deren Gewaltdarstellungen mich überzeugen konnten / können. Aber das ist eigentlich hier nicht mein Punkt; was ich oben meinte, ist, dass der Text es für mich nicht aus der Wortebene heraus schafft in irgendeine Vorstellung, die irgendeine Reaktion hervorrufen könnte


ja, das akzeptiere ich doch. Ich fand das wirklich davon ab einfach eine interessante Frage. An den Beispielen hätte ich etwa vielleicht ein Gefühl dafür entwickekn können, was dort anders gemacht wird usf., ich bin da ehrlich interessiert. Muss aber kein Raum für da sein, falls das unehrlich ankommt.

Liebe Gabriella,

unter einer ästhetischen Auseinandersetzung verstehe ich einfach die Auseinandersetzung mit dem Text als Kunstobjekt, einem literarischem Text. Wie du gesehen hast, kann man einem text ja auch anders begegnen, so hatten wir in diesem Faden etwa das Beispiel, dass auch Kunstwerke moralischen Urteilen unterliegen können.

Zu den konkreter werden versuche ich dir mit der Antwort an Albert mit zu antworten und auch zu Floras Fragen, ok?

Lieber Albert,

ich gebe zu - obwohl der Kommentar für mich mehr als ein Genuss war, habe ich mich doch erschreckt und weiß jetzt gar nicht, was ich im Einzelnen schreiben soll, wie sagt man, ich bin geplättet und weiß nicht, wie ich dir etwas zurückgeben kann. Aber meine Zustimmung wirklich zum Ausdruck zu bringen, hätte dann ja schon wieder etwas selbstlobendes, das kann ich also schlecht rüberbringen. Ich kann nur sagen, dass du die Konstruktion des Textes absolut feinsinnig dargelegt hast und dass ich haargenau diese auch im Sinn hatte. Es ist ein unglaublich tolles Gefühl, dass dann von einem Leser gezeigt zu bekommen, dass das so gelesen werden kann, wie man es angelegt hat. Die Entstehung dieses Textes war dabei übrigens tatsächlich sehr reflektiert, die einzelnen Textbausteine existierten schon vorher ähnlich und wurden dann für die Zusammenführung in dem Sinne bearbeitet, wie du es geschrieben hast. Ich möchte mich wirklich bedanken für diese Auseinandersetzung mit meinem Text. Wenn sie nicht zu meinem Text wäre, würde ich sie sofort zum Tüpfelchen wählen.

Liebe Flora,

Wenn es im Inneren von Irgendjemand das alles gibt, (und ich kann und will das nur von dir distanziert lesen, weil ich sonst ganz anders reagieren würde) ist das dann nicht schlimm genug? Müsste man dann nicht gerade einen anderen Text schreiben, der einen Weg zeigt, nicht das Ziel, aber doch eine Möglichkeit, die zwischen den Zeilen aufscheint, zeigen, dass es etwas darüber hinaus gibt? Muss man dann einen Text schreiben, der dem Schmerz in dieser Weise frönt und sich in ihm einnistet?
Warum sollte man es in einem künstlerischen Rahmen vorzeigen wollen?
Warum soll das Jemand (mit)erleben können?
Was soll er am Leser bewirken? Oder was für den Autor?
Verständnis? Abstumpfung? Abgeklärtheit? Schmerz? Konfrontation? Reines Zeigen eines Zustandes?
Was soll der Text denn leisten?
Ich kann das nicht am Text erkennen und auch nicht in deiner Erklärung.
Das sind nun alles keine rhetorischen Fragen, sondern solche, die ich mir dann einfach stelle, die mich beschäftigen, wenn ich lese, dass es deshalb Zumutungen in der Kunst, und darum auch solche Texte braucht.


Ich versuche die ganzen Fragen mal in einer Antwort zu bündeln, sonst ufert es einfach zu sehr aus.

Ausgangspunkt sind für mich ganz ähnliche Beobachtungen wie für Albert:


Gleichzeitig halte ich es für eine, wenn hier auch ins Extreme geführte, gleichwohl absolut zentrale Erfahrung, die sich in der europäischen Geistesgeschichte immer wieder findet


als entsprechend sozialisierter hat jedoch von uns hier einen gewissen Erfahrungshorizont, der uns zu kompetenten Rezipienten derartiger Texte macht.


Mir ist sogar noch nicht einmal der Rezipient das wichtigste, sondern einfach, dass es das, was ich im Text beschreibe, für mich in der Welt gibt und dass ich denke, dass annähernd nur die KUnst in der Lage ist, dies auf eine Art zu zeigen, die wichtig ist.
Denn den inneren Zustand/die Not die der Text versucht zu thematisieren und darstellbar zu machen ist ja oft in Situationen und Personen zu finden, in denen dann gerade keine Mitteilung möglich ist (Isolation, Ablehnung, Sprachlosigkeit, Unterdrückung, Leugnung, Tabu, Angst etc.). Ich bin jemand, der grundsätzlich der Meinung ist, dass es "gut für die Welt ist", so etwas zu zeigen/zeigen zu dürfen, es sichtbar zu machen, deshalb auch mein wahrscheinlich zu wirrer Hinweis auf fenestras Legenden, von denen man nicht spricht. Ich glaube, dass das, was ich im text versuche sichtbar zu machen, auch so etwas ist: Erwas, was stark in der Menschenwelt wirkt, besonders eben weil es auf eine da ist, als wäre es eben nicht da - weil es nie angesprochen, berührt werden kann und will.
Und in diesem Zusammenhang war für mich eben auch genau die Darstellungsweise für mich wichtig, die ich gewählt habe: Ohne eine Wendung, die einen bei der Hand nimmt, zeigt wie man da heraus kommt. (Was nicht heißt, dass nicht das auch ein wertvolles Projekt wäre, aber hier war es eben nicht meines). (Und was auch nicht heißt, dass ich nicht denke, dass der Text nicht auch seine Absicherungen hat, dass der Mensch darin seine Würde behält. Die von Albert herausgearbeitete Konstruktion sollte dad für ich eben liefern: Durch das Prinzip der Gleichordnung der einzelnen Abschnitte wird für mich eben etwa die Aggression/Gewalt des zweiten Abschnitt relativiert/aufgefangen, die (ja eh nur phantasierte) Täterschaft wird für mich durch die anderen teile eben immer zugleich als Opferschaft mitgesprochen. Aber da dir die anderen Teilen eben auch zu kräftig geraten sind, kann ich dich eben nicht als Leser gewinnen.
Was ich allerdings nicht verstehe, ist deine wiederholte Behauptung und Frage, warum/dass der Text eine bestimmte Leserschaft absichtlich verliere, dies in kauf nehmen, gar so wollte. Ich kann nur sagen: Mit solchen Gedanken habe ich den Text nicht angelegt er spricht anscheinend nicht alle Leser an, sondert stärker aus, aber dies kann doch einem Text, der etwa besonders weich geschrieben ist, ebenso passieren und trotzdem ist es nicht die Absicht des Textes. Die Absicht ist nur, etwas bestimmtes auf eine bestimmte WEise darzustellen.

Davon ab ist Kunst für mich erst einmal mein Ausdruck, schon alleine das ist für mich ein Wert. Dass Ausdruck nun wiederum an den Anderen gebunden ist, ist unhintergehbar und bringt erst alles ins Rollen, wovon Kunst lebt.

Und auch das kann ich unterschreiben:

Kunst ist eine Form, sich in der Welt zu orientieren.


Ich hoffe, du konntest mit dieser Antwort etwas anfangen, wenn du meinst, ich bin im Kern nicht auf deine Fragen eingegangen, fraf ruhig nach :-)

liebe Louisa,

natürlich ist der erste Text auch zuviel. Deshalb gibt es ja auch die anderen Teile, die dasselbe anders behandeln. Darüberhinaus sind wir da vielleicht auch verschieden: Oder anders: Falls es ein Mangel ist, so werde ich ihn noch eine Weile exzessiv betreiben müssen, bevor ich ihn überwinde :-)

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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leonie
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Beitragvon leonie » 03.11.2009, 20:19

Lieber Albert,

ehrlich gesagt weiß ich nicht so genau, ob ich einen Anspruch dem Text gegenüber vertrete.
Damit er mich zu einem mehrmaligen Lesen und damit einer anderen Auseinandersetzung motivieren könnte, müsste er anders geschrieben sein.
Ist das ein Anspruch?

Ich stelle tatsächlich die Frage, ob er funktionieren kann.
Eigentlich kann ich das nur weiter verfolgen, wenn ich wüsste, welche Intention Lisa vertritt.
Aus dem Zitat über dem Text könnte ich vermuten, dass sie immer tiefer in den Schmerz hineingehen will.
Wenn sie es allein tun will, kann ich nicht sagen, ob das funktioniert. Das kann ja eigentlich nur sie selbst.
Wenn sie mich mitnehmen will, kann ich sagen, dass es nicht wirklich funktioniert. Ich spüre ziemlich schnell ehre Wut als Schmerz, ansteigende Wut durch die Konfrontation mit für mich ekelhaften Bildern und durch das Gefühl, mein Vertrauen werde mindestens sehr enttäuscht, wenn nicht gar missbraucht. Warum habe ich schon beschrieben, denke ich.

Wenn sie die Innenperspektive von Orientierungslosigkeit, Schmerz, etc. zeigen will, gelingt das meiner Meinung nach teilweise dadurch, dass es ihr ja immerhin gelungen ist, einen Teil dieser Gefühle in mir hervorzurufen.
Andererseits bleibt für mich die Frage: Woher meint sie die Innenperspektive so genau zu kennen, dass sie darüber schreiben kann? Du sagst vielleicht, das ist keine berechtigte Frage, aber ich stelle sie mir und auch Lisa, weil sie für mich die Glaubwürdigkeit des Textes betrifft.

Dann stelle ich mir auch die Frage, welchen Sinn es macht, tiefer in den Schmerz hineinzugehen, wenn man nicht das Ziel hat, ihn zu überwinden, zu heilen, etc. Welchen Sinn es macht, diese Bilder, die ich als grenzverletzend empfinde "an sich" zu zeigen?
Meiner Meinung nach erlaubt man dann doch der Verletzung und dem Schmerz sich auszudehnen. Man hebt ihn auf ein Podest. Ich will da nicht mitmachen.

Aber ist das schon ein Anspruch an den Text?

Ich habe das Gefühl, mehr kann ich jetzt auch nicht dazu sagen. Aber ob Du das meintest und Dir das reicht?

Liebe Grüße, es macht mir jetzt doch Spaß zu diskutieren. (Obwohl ich fürchte, Deine Ansprüche an Bildung und Literatur nicht erfüllen zu können, aber ich denke, ich habe andere Qualitäten, aufgrund derer es vielleicht auch für andere was bringt, wenn ich meine Meinung sage :-) (wedel den Eigenlobgestank weg...)...

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon Elsa » 03.11.2009, 23:19

Max hat geschrieben:Lieber Albert,

auch in aller Kürze (wobei Du entweder schneller schreibst als ich oder Deinen Kürzen länger sind als meine): Das ist wirklich einer der bemerkenswertesten Beiträge (von mehr als 120.000) die ich jemals im Salon gelesen habe.

Merci
Max


Unglaublich .... *staun*

Liebe Grüße
Elsa
Schreiben ist atmen

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Beitragvon Ylvi » 04.11.2009, 08:12

Hallo Lisa,

Ich glaube zwischen uns bleibt hier ein großes Fragezeichen hängen, das dann aber vielleicht einfach zeigt, dass wir uns in völlig verschiedenen Denk-, Schreib- und auch Erlebenswelten bewegen, die in diesem Punkt nicht zu einer Übereinkunft kommen können. (Umso schöner ist es ja, dass es dann an anderer Stelle, in anderen Texten wieder Überschneidungen gibt, und man sich scheinbar „versteht“, also ein Einblick und auch „Gespräch“ dann wieder möglich ist.)

Ganz besonders weit scheinen wir uns and der Stelle voneinander zu entfernen, wo wir vermuten, „was gut für die Welt ist“.
Ohne eine Wendung, die einen bei der Hand nimmt, zeigt wie man da heraus kommt.

Das ist wohl das entscheidende, dass ich genau das auch sehe, für mich daraus aber nichts Gutes entstehen kann.

Ich denke, man kann so etwas auch in eine Welt hineinsprechen. Weil Worte die Sicht und die Wahrnehmung verändern, immer... nichts, was wir sagen, bleibt ohne Auswirkung.

Ich lass das jetzt alles erst einmal sich setzen und werde mich sicher auch mit den einzelnen Aspekten dieser Diskussion und den Kritikpunkten, die Max und Albert vorgebracht haben auseinandersetzen.

Liebe Grüße
Flora

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Beitragvon leonie » 04.11.2009, 11:35

Lieber Albert,

auch in aller Kürze (wobei Du entweder schneller schreibst als ich oder Deinen Kürzen länger sind als meine): Das ist wirklich einer der bemerkenswertesten Beiträge (von mehr als 120.000) die ich jemals im Salon gelesen habe.

Merci
Max



Lieber Max,

ich finde Alberts Beitrag auch bemerkenswert. Floras und meine aber auch. Überhaupt finde ich bemerkenswert, wenn Leute sich mit Beiträgen engagieren. Deshalb hier ein Danke von mir auch für die restlichen 120.000.

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon Mucki » 04.11.2009, 13:06

leonie hat geschrieben:Überhaupt finde ich bemerkenswert, wenn Leute sich mit Beiträgen engagieren. Deshalb hier ein Danke von mir auch für die restlichen 120.000.


:daumen: :richtig:

Saludos
Mucki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 04.11.2009, 13:33

Hallo Albert,

doch noch zwei Dinge, weil sich da unsere Wahrnehmung oder Erwartungshaltung wohl auch unterscheidet und weil ich das für wichtige, ganz allgemeine Punkte halte.

Wenn man so etwas tut, dann ist es aber unmöglich für den anderen (bzw. wäre unangemessen), einfach zu sagen: "Schön, dass das für dich so ist" - sondern er ist doch in die Pflicht genommen, etwas Gehaltvolles dazu zu sagen (verpflichtet, nicht gezwungen, könnte man unterscheiden)

Das kann ich für mich so nicht bestätigen. Gerade was persönliche Rückmeldungen anbelangt, erwarte ich vom Autor nicht, dass er etwas Gehaltvolles dazu sagt, oder in eine Rechtfertigungsposition kommt, genausowenig, wie ich mich dafür rechtfertigen muss, dass ich diesen Text eben so wahrnehme. Ich möchte in dem Fall den Autor ins Nachdenken darüber bringen (diese Rückmeldung vom Autor freut mich dann natürlich und fehlt mir hier vielleicht auch ein wenig) und ihm zeigen, wie und soweit ich das kann auch warum sein Text bei mir so wirkt.
Ich sehe Rückmeldungen immer als Einladung zum Gespräch und nicht als Einforderung.

(Und im Übrigen kann so etwas auch in beschneidender Weise geschehen, selbst, wenn der Betroffene überhaupt nicht darauf eingeht; denn Kunst hängt wie alles Geistige an Anerkennung durch kompetente Gegenüber - wird diese leichtfertig verweigert, so ist diese Leichtfertigkeit in meinen Augen keineswegs harmlos)

Kompetenz finde ich im Zusammenhang mit Kunst ein schwieriges Wort. Wer ist denn kompetent genug, sich zu Wort zu melden? Oder wann ist man das? Für mich gilt, dass jeder eine persönliche Meinung zu einem Kunstwerk haben kann, auch wenn diese für den Künstler frustrierend sein mag und er sich dann nicht verstanden, oder ungerecht behandelt fühlt.
Auch die Leichtfertigkeit, mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht leichtfertig war, möchte ich nicht so negativ sehen. Vielleicht könnte man sie mit Spontaneität ersetzen, um sie dann anders annehmen zu können und sie dann auch im Fall der Begeisterung nicht zurückweisen zu müssen. Und man sollte sich doch auch die Möglichkeit geben, dass man sich nicht gegenseitig auf die jeweiligen Aussagen festnagelt und keine Bewegung mehr zulässt und eben dann im Gespräch miteinander ein wenig kompetenter wird, weil man voneinander und auch von den anderen Kommentaren lernt.
Sonst kommt man ganz schnell in eine Abgrenzung, dass man sich nur noch in seinen Kreisen bewegt, die einen ja sowieso verstehen und alle anderen Rückmeldungen dann als inkompetent ablehnt und nicht mehr gelten lassen kann und auch nicht mehr annehmen.

Überhaupt finde ich bemerkenswert, wenn Leute sich mit Beiträgen engagieren. Deshalb hier ein Danke von mir auch für die restlichen 120.000.

Dem schließe ich mich gerne an. :daumen:

liebe Grüße
Flora

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Beitragvon Lisa » 04.11.2009, 14:22

Liebe leonie,


Eigentlich kann ich das nur weiter verfolgen, wenn ich wüsste, welche Intention Lisa vertritt.


Die Intention eines Textes kann eben aber nur der Text verraten, die Rezeption - ohne ein Einlassen auf den Text geht das einfach nicht.

Andererseits bleibt für mich die Frage: Woher meint sie die Innenperspektive so genau zu kennen, dass sie darüber schreiben kann?


Hier muss ich ähnliches sagen, wie ich schon versucht habe in dem Gletschergedicht deutlich zu machen: Für mein Verständnis vereinfachst du den Prozess des Ausdrucks vom Anderen zu sehr. Denn es ist nicht, so, dass ich den Text mit der Idee schreibe, dass ich mit dem Beschriebenen einen ganz bestimmten inneren Zustand eines ganz bestimmten einzelnen Menschen nachzeichnen möchte, ganz wie du sagst ginge das gar nicht und auch mir wäre das fremd. Ich muss nochmal zitieren, um zu verdeutlichen:

gleichwohl absolut zentrale Erfahrung, die sich in der europäischen Geistesgeschichte immer wieder findet


Ich verstehe mein Wissen nicht als Wissen über einen bestimmten einzelnen, sondern als ein Wissen, dass ich dadurch habe, weil ich in der Gesellschaft lebe, in der die Gewalt, der Schmerz geschieht, den ich darzustellen versuche. Man bekommt den Schmerz von Freunden mit, von Fremden (etwa wie sie in Wartezimmer bei Ärzten behandelt werden, wie Leute sich in U-Bahnen gegenseitig herabwürdigen, was für eine (unterdrückte Gewalt) in den Gesichtern schwebt, dann wieder liest man Bücher oder sieht Filme, die dies ausdrücken oder man sieht eine Dokumentation, bekommt Einblick in psychologische Analysen oder hört die Betroffenen selbst davon sprechen und man erfährt es auch am eigenen Leib - das sind alles nur Einzelbeispiele dafür, dass man ganz selbstverständlich für die Mechanismen und Zustände in der Gesellschaft, in der man lebt, ein Gefühl entwickelt. Und daraus baut der Text dann wieder eine Erzählinstanz und eine lyr. Ich-Menge, die aber, ich hoffe, das ist klar geworden, kein solches 1:1-Verhältnis besitzt, wie du es für deine Frage herstellst.

Zudem übersetzt du für mich auch die Gewalt zu konkret. Ich habe nicht davon geschrieben, wie sich jemand vorstellt, jemand anderen mit dem Gürtel den Rücken mit Striemen zu übersehen, weil ich ausdrücken möchte, was in jemanden vorgeht, der jemand anderem den Rücken mit Striemen übersehen möchte - für mich ist diese Beschreibung ein Mittel um einen bestimmten gequälten und quälenden Zustand des Menschen auszudrücken und das viel grundsätzlicher und direkter am Gefühl Schmerz als dass ich mir irgendeinen konkreten Gedanken oder eine Tat eines bestimmten Menschen vorstelle, den ich darstellen möchte.

Dann stelle ich mir auch die Frage, welchen Sinn es macht, tiefer in den Schmerz hineinzugehen, wenn man nicht das Ziel hat, ihn zu überwinden, zu heilen, etc. Welchen Sinn es macht, diese Bilder, die ich als grenzverletzend empfinde "an sich" zu zeigen?


Zum ersten Teil: Aus Sicht eines gesunden funktionierenden Ichs macht das sicher keinen Sinn*. Für entsprechende Situationen, in denen ein Mensch aber grundsätzlich seiner Würde oder Ausrichtung beraubt wird durch eine bestimmte Behandlung, etwas, was ihm widerfahren ist, kann es für diesen durchaus Sinn machen oder er kann etwa nicht anders. Selbst wenn es keinen Sinn macht, ist dies für mich nicht gleichzusetzen damit, dass dann auch der Text oder die Darstellungsweise des Textes keinen Sinn macht.

Für mich wird weiterhin das ganze nicht nur "an sich" gezeigt, in meiner gestrigen Antwort es gibt nur nicht solch eine Ausrichtung wie du und auch Flora sich für einen Text wünschen - ein bei der Hand nehmen im Sinne eines zumindest angedeuteten Ausweges. Der Text möchte anders Hilfe leisten, indem er auf die Verlorenheit, die Ausweglosigkeit hindeutet, zeigt, dass es, behandeln sich Menschen auf eine bestimmte Weise bzw. stellen sie bestimmte kulturelle Mechanismen auf oder entwicklen bestimmte Wünsche, dass dann nichts mehr bleibt. Für mich ist das ein wichtiger Hinweis, eine wichtige Botschaft, dass es diese grausamen hoffnungslosen Konsequenz gibt, ohne dass noch ein Ausweg da ist. Das ist die Hand, die für mich der Text reicht.

Liebe Flora,

Ich glaube zwischen uns bleibt hier ein großes Fragezeichen hängen, dass dann aber vielleicht einfach zeigt, dass wir uns völlig verschiedenen Denk-, Schreib- und auch Erlebenswelten bewegen, die in diesem Punkt nicht zu einer Übereinkunft kommen können. (Umso schöner ist es ja, dass es dann an anderer Stelle, in anderen Texten wieder Überschneidungen gibt, und man sich scheinbar „versteht“, also ein Einblick und auch „Gespräch“ dann wieder möglich ist.)


Ja, ich habe versucht, nochmal auf die Fragezeichen zu antworten (der letzte Punkt war ja genauso an dich) vielleicht hat das nochmal eine kleine Verständnisbrücke gebaut, auch wenn das immer noch nicht heißen muss, dass das für dich oder leonie zustimmungswürdig ist. - natürlich verunsichert solch eine Diskrepanz auch, aber wir haben schon so viele Gespräche geführt, dass da von meiner Seite auch Vertrauen in Gemeinsamkeiten ist, die auch grundsätzlich sind :-) .
Und wie gesagt ist für mich auch solch eine Diskussion (mit all ihren Beiträgen von allen Beteiligten) wertvoll.


Mal ein ganz anderer Versuch, einfach um noch einmal eine Annäherung zu versuchen. Zu Schulzeiten war in Bezug auf die neue Sachlichkeit etwa dieses Bild bei uns in der Schule Thema des Unterrichts:

Bitte klicken

Vielleicht kann ein Medienwechsel zeigen, was ich mit meinem Aussagen zu meinem Text nicht vermag. Dieses Bild reicht meiner Meinung nach auch keine Hand im dir wichtigen Sinne - und genau deshalb ist das Bild für mich in der Lage, etwas auszudrücken, etwas vorzeigbar zu machen, was sonst so nicht gelingen könnte (ebenso wie ein anderes KUnstwerk mit dieser Hand auch etwas ausdrückt, was anders nicht möglich ist, für mich hat eben beides seinen irreduziblen Wert).

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon leonie » 04.11.2009, 16:42

Liebe Lisa,

danke für die ausführliche Antwort.

Die Bilder "funktionieren" bei mir in dem Sinne, wie Du es beschreibst.

Ich glaube, bei mir ist es nicht, dass ich an die Hand genommen werden möchte. Sondern eher, dass ich eine Möglichkeit dazu finden können möchte, um nicht in der Rolle des lyrIch oder einer hilflosen Zuschauerin verharren zu müssen.

Bei dem Bild (ich nehme jetzt mal den Dix) ist es so, dass ich Stellung beziehen kann. Ich habe mehr Freiraum für meine Wahrnehmung, scheint mir. (Warum muss ich noch überlegen, ist erstmal nur ein Eindruck...)
Es verändert mich in einer Weise, verändert mein Denken, meine Sichtweise in einer Weise, die ich als für mich gut empfinde. Auch, wenn das Bild nicht schön ist, macht es für mich einen Sinn, genau hinzuschauen. Das bemerke ich auch gleich beim ersten Mal und ich werde bereit, mich damit zu konfrontieren und auseinanderzusetzen. (Und das, obwohl ich von Malerei keine Ahnung habe).

Ich denke, ich habe ja schon ausreichend beschrieben, dass das bei Deinem Text im Bezug auf mich so nicht funktioniert hat. Da bleibt eher das Gefühl, er tut mir fast Gewalt an und ich muss mich schützen.
Mich erinnert das gerade an eine Diskussion zwischen Anne Will und Marietta Slomka, die vor der Entscheidung standen, sich einen Film anzuschauen, auf der ein Entführter enthauptet wurde.
Ich hätte mir das mir Sicherheit nicht angeschaut, ich denke, mir hätte die Information gereicht, dass es so ist. Ich hätte mir das nicht angetan, weil ich mir davon nichts "Gutes" erwartet hätte, es hätte mich allenfalls in eine Richtung verändert, in die ich mich nicht verändern wollte. Ich sah keinen Sinn darin.
Mindestens eine von den beiden hat sich das Video angeschaut (es ist schon lange her, ich erinnere mich nicht mehr genau), hat sich anders entschieden.

Mir ging es, glaube ich , nach dem ersten Lesen einfach so, dass ich dachte: Das tue ich mir nicht nochmal an. Ich hatte das Vertrauen, dass es in irgendeiner Weise eine Veränderung für mich mit sich bringt, die ich für mich auch für gut halte, einfach schon verloren.
Insofern brauche ich es scheinbar tatsächlich, zumindest für mich einen Sinn darin zu finden, eine Art "Zugewinn" an Erkenntnis, Verhaltensmöglichkeiten, Einfühlsamkeit, etc.


Du sagst, ich vereinfache den Prozess des Ausdrucks vom anderen zu sehr und ich übersetze die Gewalt zu konkret. Ich will gern versuchen, meine Sichtweise da zu erweitern.

Aber ich glaube, dass ich durchaus eine exemplarische Leserin ( und ja auch eine, von der andere Autoren sich in ihrer Intention oft verstanden fühlen) bin und eben sehr viele andere Menschen auch diese Sichtweise haben. Andere Rückmeldungen zu Deinen beiden Texten lassen mich das vermuten. Die Reihenhäuser zum Beispiel wurden von vielen so konkret aufgefasst. Und ein lyrIch in anderen Texten ist ja in vielen Fällen durchaus konkret gemeint, da ist es dann sicher auch nicht so ganz einfach, darauf zu kommen, dass man es bei Dir ganz anders auffassen muss.
Deshalb frage ich mich, ob, wenn Du willst, dass es anders verstanden wird, Du dann versuchen müsstest, es anders zu vermitteln, so dass mehr Menschen es dann auch auf Anhieb verstehen können. Wenn Dir daran liegt, dass es viele verstehen können, vielleicht ist Dir etwas anderes wichtig und das wäre für mich dann auch okay.

Soweit erstmal, ich könnte noch ganz viel schreiben, aber ich denke, vielleicht wird ja das ein oder andere anderswo wieder auftauchen.

Ich merke für mich (zum wiederholten Male), dass es mich weiterbringt, in einer Diskussion nicht aufzustecken, bevor nicht wenigstens deutlich ist, wo wesentliche Unterschiede in der Auffassung liegen. Man muss sich nicht einer Meinung werden, aber es ist schön, wenn man sich darüber einig wird, was einen unterscheidet /(zumindest in Ansätzen)

Liebe Grüße

leonie Fusselfinger
Zuletzt geändert von leonie am 04.11.2009, 17:22, insgesamt 1-mal geändert.

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 04.11.2009, 16:52

Hallo Leo,

bei deinen Zeilen wird mir bewusst, dass auch ich bei Enthauptungsszenen oder ähnlichem im Film sofort wegsehe.
Ist wohl ein Impuls des instinktiven Schutzes.

Auch fällt mir jetzt ein, dass es durchaus Texte gab in einem anderen Forum in einer anderen Zeit mit so einem ekelerregenden Sadismus und Ermordung und Exkrementen, dass ich mir das nicht antat. Trotzdem kämpften mehrere User immer um diese Texte und ich fand das bescheuert. Es wurde dann immer mit der Freiheit der Kunst argumentiert.
Im Salon gibt es nix Vergleichbares, die Sensibilität ist irgendwie höher.

Bei Lisa geht es mir nicht so, das kann ich noch packen.

Aber offensichtlich habe auch ich eine Schranke, die fast unbewusst greift.

Ich sage mir dann auch, das muss ich mir nicht antun. Die Grenze in mir,
ist sie nützlich oder eher nicht?

Ich habe jetzt gründlicher darüber nachgedacht und wahrscheinlich hat fast jeder diese Grenze eingebaut.
Nachdenklich, Fux


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