Brot

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 18.12.2009, 15:11

Brot


Spangenbachs kürzlich erschienener Aufsatz über die in manchen katholischen Sekten praktizierte Brotbuße, wurde nur am Rande zur Kenntnis genommen, was sehr bedauerlich ist. Aber verständlich, da er niemandem wirklich Angst gemacht hat.


Ein junger Mann betritt einen Supermarkt, geht zielstrebig in Richtung der Backwaren und nimmt sich ein Brot aus dem Regal. Er trägt Jeans und einen Kapuzenpulli, sauber, ordentlich, nicht zu groß. Sein Gesicht ist von der Pubertät ein wenig hergenommen, die Augen glanzlos, der Mund schmal. Auffällig sind seine gepflegten Hände, die langen Finger, die fast kreisrunden Nägel. Man kann sie deutlich sehen, als er das Brot umfasst, ein großes Stück aus dem Laib herausreißt und sich in den Mund schiebt. Doch statt zu kauen, schluckt er. Er bricht ein weiteres Stück und stopft nach. Schluckt erneut. Beim dritten Brocken beginnt er zu würgen, schiebt aber noch einen vierten hinterher. Jetzt gerät sein ganzer Körper in Bewegung, verkrampft sich in dem Bemühen, den Brechreiz zu unterdrücken. Noch ein letztes Stück, er presst es auf den Mund, als wolle er ihn damit endgültig verstopfen. Einen eigenartigen Tanz vollführt er, einen Brottanz, einen Erstickungstanz, sein Körper wehrt sich, will kein Brot mehr, will nur Luft.


„Unterernährt? Nein, nicht unterernährt, so was wäre bestimmt schon längst aufgefallen. Wobei manche der Jugendlichen in diesem Alter so aussehen, als hätte man sie gerade aus dem KZ – Sie verstehen...
Sicher, er war sehr leicht und dünn für sein Alter, aber keiner der Tests zeigte irgendwelche Mangelerscheinungen. Im Grunde war er sogar über dem Durchschnitt. Also wenn man diejenigen in Betracht zieht, die so jeden Tag Fastfood essen oder daheim nur Raviolidosen aufgeschraubt bekommen, da war er richtig gut drauf – zumindest blutwertechnisch.“



Eine Angestellte des Supermarktes, schon etwas älter und recht korpulent - Sie wissen schon, die morgens meistens das Gemüse und den Salat aufstapelt, immer mit einem etwas fleckigen Kittel, die Haare oftmals fettig oder unordentlich, wenn die einen Salatkopf ganz oben auf die Kiste legt, nehmen Sie immer den, der darunter liegt - läuft zu dem jungen Mann und versucht ihm die Hände vom Mund wegzudrücken. Der wehrt sich. Erst als ihn die Kräfte verlassen, gibt er nach. Der Körper erschlafft und kann den Hals nicht mehr freiwürgen.


„Ich glaub, der wäre gerne cool gewesen. Aber irgendwie hatte er immer so einen Stock im Arsch. So Typen gibt’s halt. Stehen meist alleine rum, und wenn man dann mal auf sie zugeht, weichen sie gleich zwei Schritt zurück. Kommen sie aber von selber, dann sind sie furchtbar ungeschickt und verkrampft. Das funktioniert einfach nicht. Nein, ich glaub, der wäre irgendwie gerne cool gewesen und hätte es vielleicht auch sein können, wenn da nicht dieses religiöse Dingens gewesen wäre. Ob er das toll fand, weiß ich ja nicht, aber seine Eltern werden es halt gewollt haben. Zum Rebellen hat ihm offenbar der Mumm gefehlt. Zumindest war da nicht viel drin mit locker sein, Disco, Tanzen, Spaß haben. Aber vielleicht wollte er ja so ein Freak sein. Ist mir eigentlich auch egal. Und was hat der nun gestohlen? Ein Brot? Und deswegen der ganze Aufriss?“


„Ganz normaler Junge. Absolut unauffällig. Höchstens ein wenig nachdenklich, aber auch nicht wirklich. Sporadisch apathisch, aber wer von den Jugendlichen ist das nicht? Ich arbeite nun wirklich schon lange genug mit den Kids, um zu wissen, dass die ab und an mal ausschalten. Verarbeitungsphase nenne ich das. Der Eine verprügelt dann seinen Tischnachbarn. Und der Andere, der starrt einfach Löcher in die Luft.“


Spangenbach konzentriert sich zunächst auf die symbolische Bedeutung des Brotes in den religiösen Schriften des Christentums, vornehmlich der Bibel. Er führt aus, dass die erste Erwähnung von Brot nach dem Sündenfall erfolgte, im Zuge der Strafverlesung: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen.“ Danach aber stellte es vor allem eine göttliche Segensbekundung dar. Manna z.B., das Brot vom Himmel, auf das sich Christus später bezog, wenn er sich als solches bezeichnete, von dem man essen müsse, um ins Himmelreich zu gelangen. Und so weiter. Spangenbach holt weit aus, natürlich immer im gewohnt süffisanten Ton, der stets den aufgeklärten Atheisten durchscheinen lässt.


Der Vater erfährt von dem Vorfall, als sein Sohn schon im Krankenhaus ist. Durch eine Mail seiner Sekretärin, weil er sich für den ganzen Tag sämtliche Störungen verbeten hat. „Die“, hatte er gleich am Morgen gesagt und auf die dicke Tür gezeigt, welche sein Büro von dem Vorzimmer trennte, „wird heute nur noch von Innen geöffnet.“
Die Sekretärin verschwand mit einem Knurren und er ging hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Die Lehne eines sündhaft teuren Bürostuhls im Rücken zu fühlen, das gefiel ihm schon immer. Heute aber spürt er nichts. Nur ein Ziehen aus unbestimmter Richtung. Er hat in seinem Leben schon so oft über Prüfungen geredet, dass sie ihm völlig fremd geworden sind. Ihnen direkt gegenüber zu stehen, war etwas ganz anderes. Er war ein Theoretiker des Glaubens, das Praktische aber hatte viele Tücken. Es gab zweierlei Schmerzen, das wusste er. Den Schmerz der Versuchung und den Schmerz der Konsequenz. Die Konsequenz – vor allem bei seinem Sohn. Das war notwendig. Weil es in sich richtig ist, einen Weg konsequent zu gehen, sei er nun wahr oder falsch. In der Konsequenz erkennt Gott die Stärke.
In der Versuchung jedoch war er stets alleine, ihr Schmerz war nur sein Schmerz. Und wem sollte er sagen, dass er schon lange nicht mehr betete?
Die Mail lautet: Anruf Ihrer Frau. Ihr Sohn ist im Krankenhaus. Bitte zurückrufen.
Er ruft zurück, und zwei Stunden später kommt er in die Klinik.


„Wir waren zwei Monate zusammen, aber nicht wirklich. Wir haben uns ein paar Mal nach der Schule getroffen. Sind mal ins Kino oder in die Stadt gefahren. Er mochte Bücher, davon hat er viel geredet. Im Park haben wir heimlich geraucht, obwohl er ziemliche Angst hatte, dass seine Eltern das heraus bekommen. Einmal haben wir sogar geknutscht, aber da war er so was von wild, dass ich dachte, er vergewaltigt mich gleich. Dann hab ich Schluss gemacht.
Über Religion? Nee, über Religion haben wir nicht gesprochen, wieso?“



„Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber wenn man etwas Besonderes ist, dann haben viele Dinge, die als Normal gelten, eine andere Wertigkeit. Und mit etwas Besonderem, meine ich einen wirklich gläubigen Menschen. Gläubig in einer Form, wie man sie heute eigentlich nur noch unter diesen Moslems findet, zu unserer Schande. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen. Wie dieser Junge und seine Familie. Echte Christen. Bemüht in jedem Aspekt des Lebens dem Glauben Ausdruck zu verleihen. Nicht nur da, wo es leicht ist, sondern auch da, wo es weh tut. Aber notwendig ist. Wenn es weh tut, dann ist es immer notwendig, sonst ließe sich das ganze Konzept ja nicht mit der allumfassenden Liebe vereinbaren, die mit dem Gottesbegriff verbunden ist.“


Die Mutter sitzt auf der Couch und liest, als das Telefon klingelt. Peer Gynt. Sie hasst diesen Klingelton, weil er etwas Schönes entstellt. Aber sie hat sich daran gewöhnt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt angespannt. Schon nach den ersten Worten weiß die Mutter, dass etwas passiert ist. Zu umfassend ist ihre Kenntnis von Spannungszuständen. Und wenn sie Schlimmes erwartet, dann immer das Schlimmste: Irgendeinen Tod. Durch die Leitung hört sie „Ihr Sohn...“ und sieht nur noch Schreckensbilder und Blut. Sie rutsch vom Sofa, kniet auf dem Teppich, beugt den Rücken. Mehr Demut geht nicht. Der Herr hat’s gegeben...
Dabei sitzt der Junge so fest in ihrer Brust, wird zum Schmerz, sobald sie sich ihn wegdenkt. Oder unglücklich. Oder unter Strafe.
Wenn es dein Wille ist, dann lass diesen Becher...
Die Stimme im Telefon hat zu Ende geredet und eine eigentümliche Erleichterung macht sich in der Mutter breit. Eine Erleichterung, die man verspürt, wenn dem Schmerz seine Vollkommenheit verloren geht.
Das Telefon noch immer in der Hand, setzt sie sich wieder auf die Couch und versucht, ihren Mann zu erreichen.


„Richtige Freunde waren wir nicht. Wir haben in der Schule nebeneinander gesessen. Ab und zu trafen wir uns am Nachmittag. Manchmal zum Lernen, manchmal einfach um ein bisschen abzuhängen. Aber nur bis um sechs, dann musste er nach Hause. Abends durfte er so gut wie nie weg. Auch am Wochenende nicht. Er wollte Tierarzt werden, oder Dichter. Von zu Hause hat er selten geredet, aber wenn, dann hatte ich das Gefühl, dass er Angst vor irgendetwas hatte. Ja, von Strafen erzählte er auch, aber immer so komische Sachen, wo ich mir dachte, das sind doch keine wirklichen Strafen. Bestimmte Bücher lesen, einen Tag nichts sagen und so was. Ums Essen ging es da aber nie.“


Spangenbach schreibt:
„Die Brotbuße ist eine symbolische Strafe. Brot als Zeichen der Gunst. Unser täglich Brot gib uns heute. Wem man das Brot entzieht, dem entzieht man den Segen Gottes. Die psychologische Wirkung ist tiefgreifend. Es handelt sich um eine Vorstufe der Exkommunikation. Der Sünder bekommt für eine gewisse Zeit kein Brot und darf auch nicht in Gemeinschaft essen. Eigentlich eine zeitgemäße Strafe, denn sie kommt ohne Prügel aus. Niemand stirbt, wenn er mal für eine Weile kein Brot ist.“


„Sehen Sie, wir haben genug Fälle, in denen wir tatsächlich einschreiten müssen, weil den Jugendlichen Gefahr droht. Das sind dann aber konkrete Dinge. Körperverletzung, Missbrauch, grobe Vernachlässigung und solche Sachen. Und oft genug kommen wir nicht rechtzeitig. Was dann passiert, wissen Sie. Wenn wir da noch jedem hinterherlaufen würden, der seine Kinder mit steinzeitlichen Glaubensvorstellungen großzieht, dann hätten wir viel zu tun. Allein bei den vielen Ausländern. Wie? Gut, in diesem Fall waren es keine Ausländer. Von mir aus auch was christliches, ist doch egal. Es gab nie irgendwelche Hinweise darauf, dass der Junge gefährdet sei. Und bei dem Elternhaus, ich meine, der Vater ist Verkaufsleiter bei einer nicht unbekannten Firma, verdient nicht schlecht, die Mutter ist nur Hausfrau, d.h. ständig zu Hause, um das Kind zu versorgen. Das sind Traumvoraussetzungen. Ich würde mir wünschen, alle Eltern wären so. Da könnten die religiös gerne ein wenig überzogen sein. Aber ansonsten ist das doch optimal.“


Kann es sein, fragt am nächsten Tag eine Tageszeitung, dass sich ein junger Mensch umbringen möchte, indem er sich solange den Hals mit Brot vollstopft, bis er erstickt?


Einer seiner Klassenkameraden bemerkt:
„Wer weiß, vielleicht hatte er einfach nur Hunger.“

Einige Tippfehler beseitigt - Merci Renée
Zuletzt geändert von Sam am 20.12.2009, 11:58, insgesamt 1-mal geändert.

Nicole

Beitragvon Nicole » 29.12.2009, 18:33

Hi Lou,
nee, Absicht war das keine (und ich schwöre, die Worte entsprangen meinem Hirn und ich habe ehrlich nicht abgeschrieben!!)... Ich gestehe, ich habe weder Wittgenstein gelesen, noch weiß ich überhaupt, wer Schnädelbach ist, werde aber den Text hinter Deinem Link mit Interesse lesen, vielen Dank! Freut mich, wenn Du beim Lesen nicken konntest!

LG, Nicole (die nun den Irrsinn der Arbeit beendet hat, sushi kaufen geht und dann aufs Sofa fällt...)

Sam

Beitragvon Sam » 29.12.2009, 18:53

Hallo Zusammen,

das ist wirklich eine sehr interessante Diskussion.

Ich persönlich halte es im Übrigen so, wie Yorick es sagte:

Oder man antwortet in Texten.



Liebe Grüße

Sam

Louisa

Beitragvon Louisa » 29.12.2009, 20:20

Hallo Sam!

Dann sind wir gespannt auf deine Texte!

Nicole, das ist lustig, nicht? Ich habe einmal etwas zur Unsterblichkeit geplappert und da hat mir jemand gesagt, dass das genau dieselbe Theorie ist wie man sie auch bei Heidegger findet - und da kannte ich Heidegger noch nicht - und komme mir seitdem sehr schlau vor :mrgreen: ...

Schönen Abend!
l

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 29.12.2009, 21:07

Liebe leonie,

der Kritik, dass ich nur eine Außenperspektive innehabe, kann ich nicht richtig nachvollziehen. Natürlich habe ich von vielen Vorfällen des aktuellen Zeitgeschehnissen nur mittelbare Kenntnis (Afrika, Situation in Amerika usw.), dennoch sind diese Phänomene ja doch Realität und auch du bist diesbezüglich in keiner prinzipiell anderen Position als ich, oder? (ich habe ja nicht gesagt (sogar das Gegenteil betont), dass die Sterbehilfe fragwürdig geleistet wird, sondern eben andere negative Beispiele genannt, die mir moralisch Schwieigkeiten bereiten, du wirst doch nicht bestreiten, dass es diese Probleme gibt?). Und wenn ich der Kirche beitrete, dann trete ich eben doch der Kirche in diesem ganzheitlichem Sinne bei, mit all dem, was in "ihrem Namen" geschieht und repräsentiere dies auch. Und die genannten Probleme sind für mich eben so grundsätzlich, dass ich dies nicht möchte. Deshalb kann ich Sätzen wie

Das, was in Amerika passiert, ist doch in keiner Weise vergleichbar mit dem, was hier ist.


überhaupt nicht zustimmen.

Was die von mir aufgeführten problematischen Begriffe, Erzählungen, Ideen etc. betrifft, so ist es natürlich richtig, dass ich keinen wissenschaftlichen theologischen Hintergrund habe und es stimmt ebenfalls, dass, wie du hier schreibst,


Alles, was Du für das theologisch Ungesunde anführst, wird in der Theologie diskutiert, hinterfragt, gedeutet. etc


dass es sicher möglich ist, zu Deutungen der entsprechenden Quellentexte zu kommen, die sogar mir weniger oder gar nicht problematisch erscheinen. Dies ändert aber nichts daran, dass genau diese Beispiele im von mir kritisierten Sinne in der Gesellschaft wirksam sind bzw. ich sie so erfahre (und dies auch "innerperspektivisch", etwa in Form von familiären Erlebnissen oder auch eben durch das Lesen dieses und anderer Texte (Meiner Meinung nach gestalten nämlich mediale/kulturelle Instanzen die gesellschaftliche Realität zu keinem geringen Grade mit)). Zudem hat das Christentum unsere heutige Gesellschaft grundsätzlich geprägt und in diesem Sinne kann ich gar keine Außenstehende sein. Es nützt in meinen Augen nichts (oder zumindest gegenwärtig nicht genug), dass durch theologische Reflexion ein "besseres" Christentum so existiert, dass dein von mir eben zitierter Satz für mich überzeugendes Gewicht besäße (was, ich betone nochmals, nicht heißt, dass ich damit solche Bemühungen, Strömungen oder Taten nicht anerkenne, es ist mir nur insgesamt nicht genug).


Hierzu möchte ich noch allgemein sagen,

"Womit wir bei den entscheidenden Wort sind, meiner Meinung nach. Glauben. Und der ist nicht diskutierbar."


dass ich das doch auch etwas heikel/polemisch/einfach finde. Natürlich kann man und sollte man einen bestimmten Glauben des einzelnen akzeptieren und es gibt auch Grenzen, wo man einander einfach auch lassen können sollte. Aber da eine bestimmte Ausprägung von Glaube doch konkret auch immer andere betrifft, ihre Anliegen, Freiräume etc. berührt, ist oft eine Diskussion eben doch nötig. Zudem legt meiner Meinung nach das Privatsprachenargument von Wittgenstein im Gegensatz zu Louisas Deutung eher nahe, dass unartiklierbare subjektive Zustände eben nicht die Komplexität/Fülle von Implikationen (fürs Handeln, begrifflich, Praktiken) erreichen können, die man normalerweise dem Glauben zusprechen würde.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Herby

Beitragvon Herby » 29.12.2009, 21:21

Liebe Nicole,

ich verstehe jetzt besser, wie du es meinst. Danke, dass du dir trotz deines Jahresabschlussstresses die Zeit genommen hast zu antworten.

LG Herby

Yorick

Beitragvon Yorick » 29.12.2009, 21:47

Ist doch eine schöne Diskussion geworden, oder? Eine sexy Schlammschlacht wäre zwar auch nett gewesen, man kann halt nicht alles haben.

Anbei noch ein paar lose Gedanken zu dem Themenaspekt "Sekte und Kirche", als respektvolle Ehrung dieses wundervollen Fadens und des Brandstiftertextes oben drüber.

Eines meiner Lieblingsworte ist „Sekte“. Es hat eine ähnlich hohe Signalwirkung wie das Wort „Kinderporno“. Und beide Begriffe lösen Angst und Schrecken aus, sind tabubehaftet und führen zu Abwehrreaktionen. Durch diese Unreflektiertheit wird häufig ein ganzes Thema ausgegrenzt, statt Fakten bestimmen Meinungen (und Ängste) eine Diskussion.
Jeder kann sich an geeigneter Stelle selbst über den Sektenbegriff informieren, das kann und will ich gar nicht klären. Im Gegensatz zu früheren Zeiten ist heute der Sektenbegriff negativ konnotiert, das ist erst einmal so (und es gibt auch genügend schlimme Beispiele für „Sekten“: Peoples Temple, Aum, SC,...). Vielleicht ist es aber auch in Ordnung, den Begriff „Sekte“ einfach mal als „ganz schlimme Vereinigung“ zu definieren. Man kann damit arbeiten. Dann bräuchte man nur noch einen neuen Begriff für „neue religiöse Vereinigungen“ und alles, was mit dran hängt: von „alternatives Leben“ bis „Psychogruppen. Der Staat oder eine geeignete Stelle (?) müsste dann nur noch sortieren, Bad Banks und Sekten ins Kröpfchen, die Kirchen ins Töpfchen.
Das wieder will niemand. Gesetzliches Verbot von Glaubensüberzeugungen. Mit Recht! Also muss jeder selbst hinschauen, was machen die eigentlich, fressen die wirklich Kinder und finde ich das tatsächlich schlimm? Sagt mir persönlich ein Lotus mehr als ein Kreuz? Eine Schwitzhütte mehr als die Mitternachtsmette?
Oder brauche ich überhaupt einen Gott? Mal ganz ehrlich: 99 Prozent des ganzen Zaubers gehen auch ohne die Bemühung eines höchsten Wesens: Gemeindearbeit, Nächstenliebe, geregeltes Miteinander, Friede und Glück. Und das letzte Prozent ist dann ganz privat: glaube ich persönlich an Gott? Und was ändert das an meinem Leben? Was bedeutet es für mich? Ich will hier nicht gegen einen Gott oder gegen Glauben sprechen. Aber humanistische Folklore mit Religiosität zu verwechseln ist einfach nicht hilfreich. Bei der Frage nach Kirche oder Sekte geht es nicht um Gott, sondern um Macht. Besser, man ist dann fest im Glauben und kann Weltliches von Geistlichem trennen. Sonst hat man schnell die Hölle auf Erden.

Louisa

Beitragvon Louisa » 29.12.2009, 22:09

Hallo Lisa!

Aber ich dachte, dass wir mit "über den Glauben diskutieren" meinten: Glaubst du? Wieso denn? Wieso denn nicht? Du solltest aber glauben, weil Argument1, Argument2, Argument3 - bzw. Du solltest nicht glauben, weil Argument1, Argument2....

- und das bringt glaube ich wirklich nichts, wenn es sich tatsächlich um eine persönliche Erfahrung handelt, die man eben macht oder nicht macht.

Handlungen und Überzeugungen, die dann aus diesem Glauben erwachsen sind natürlich diskutierbar - aber diese drehen sich doch dann gerade um konkrete Handlungen und Sätze - zum Beispiel: "Wieso bist du in der Kirche? Weil ich gläubig bin" und darauf könnte man sagen: "Wieso muss man in die Kirche gehen, wenn man gläubig ist?"

- Das wäre eine diskussionswürdige Frage, finde ich... Aber es hat dann mehr mit dieser Handlung zu tun, als mit der Tatsache des Glauben bzw. Unglaubens oder?

Schönen Abend!
l

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leonie
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Beitragvon leonie » 29.12.2009, 23:23

Liebe Lisa,

Lisa hat geschrieben: Und wenn ich der Kirche beitrete, dann trete ich eben doch der Kirche in diesem ganzheitlichem Sinne bei, mit all dem, was in "ihrem Namen" geschieht und repräsentiere dies auch.


das würde bedeuten, dass Du keiner Institution angehören kannst, sobald dort in einer Frage etwas geschieht, was Du nicht gutheißt. Ich fürchte, faktisch bedeutet das, dass Du die meisten abschaffen könntest, zumindest, wenn jeder so dächte.
Du wirst da ebenso wenig Einigkeit erhalten wie zum Beispiel in einer Partei. Dafür ist die Kirche einfach zu groß und ich muss sagen, ich finde an der evangelischen Kirche gerade gut, dass eine Meinungsvielfalt möglich ist. und dass ich sagen kann, in diesem Punkt bin ich anderer Meinung als zum Beispiel die Bischöfin.

Das ist auch mit dem Glauben ähnlich. Da gibt es grobe Linien, aber doch supervieles, was kontrovers diskutiert wird. Ich finde die Möglichkeit der Meinungsvielfalt da auch total wichtig.

Natürlich muss man schauen, ob die großen Linien zu einem passen und wo auch die Grenze der Möglichkeit einer Zugehörigkeit oder Identifikation gegeben ist. Und das ist für mich auch okay, dass Du Dich dann anders entscheidest als zum Beispiel ich.

Mich würde interessieren, wie Kirche (oder eine andere Institution) denn sein müsste, dass Du sie gutheißen könntest und nicht kritisieren würdest. Mir scheint nämlich fast, eine solche Institution gibt es gar nicht, der Du Dich angehörig fühlen könntest.
Mein Eindruck ist fast, dass Du zu sehr geneigt bist, da das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Ja, und manches von dem, was Du schreibst, stimmt für mich so auch nicht. Ich habe zum Beispiel nachgeschaut, "Brot für die Welt", eine der größten Aktionen der evangelischen Kirche, arbeitet nicht missionarisch. Für mich ist die aber zum Beispiel repräsentativer als eine Aktion irgendeiner womöglich kleinen Randgruppe, die Mission und Entwicklungshilfe verknüpft. Soll ich jetzt aus der Kirche austreten, weil es die Randgruppe gibt? Wenn ich Deiner Argumentation folge, scheint mir:Ja.
Das heißt aber, dass dann das, was mir gut erscheint, auch über den Jordan geht.

Lisa hat geschrieben:Dies ändert aber nichts daran, dass genau diese Beispiele im von mir kritisierten Sinne in der Gesellschaft wirksam sind bzw. ich sie so erfahre (und dies auch "innerperspektivisch", etwa in Form von familiären Erlebnissen oder auch eben durch das Lesen dieses und anderer Texte (Meiner Meinung nach gestalten nämlich mediale/kulturelle Instanzen die gesellschaftliche Realität zu keinem geringen Grade mit)).


Das stimmt in vielen Punkten leider. Natürlich kann man sagen: Aus diesem Grunde kündige ich, die Institution Kirche kann man getrost abschaffen. Aber man kann eben auch sagen: Ich versuche, es zu verändern, auch wenn es langsam geht und mühsam ist, weil diese Institution es mir wert ist.
Vielleicht hat es auch viel mit dem zu tun, was einem im Laufe des Lebens mitgegeben wurde und vermittelt wurde darüber. Und ob man das als stimmig und für sich selbst als wertvoll empfindet.

Lisa hat geschrieben:Zudem legt meiner Meinung nach das Privatsprachenargument von Wittgenstein im Gegensatz zu Louisas Deutung eher nahe, dass unartiklierbare subjektive Zustände eben nicht die Komplexität/Fülle von Implikationen (fürs Handeln, begrifflich, Praktiken) erreichen können, die man normalerweise dem Glauben zusprechen würde.


Das habe ich nicht verstanden.


Lieber Yorick,

Yorick hat geschrieben:Gemeindearbeit, Nächstenliebe, geregeltes Miteinander, Friede und Glück.
[/quote]

Mag sein. Nur warum ist es dann oft nicht so? Ich denke, man braucht eine gewisse gemeinsame Grundlage.
Und ich denke, dass im Glauben für viele eine große motivierende Kraft liegt, um sich freiwillig für andere zu engagieren. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob es funktionieren würde, wenn man den abkoppelt.
Aber die Frage ist eine interessante....

Liebe Grüße

leonie


Ach so, Lisa, zu dem Amerika-Argument: Ich bleibe bei meiner Haltung.
Wie Du sicher gemerkt hast, bin ich ein relativ überzeugtes Mitglied der evangelischen Kirche in Deutschland (aber selbst da heiße ich eben nicht alles gut, was andere tun oder glauben, sondern will Auseinandersetzung darüber).
Ich finde es wirklich zu undifferenziert, die evangelische nicht von der katholischen, von der Vielzahl der amerikanischen, etc. zu unterscheiden. Da gibt es viele Ausprägungen, die auch für sich betrachtet werden müssten, meine ich. Und da gibt es ganz sicher auch Ausprägungen, denen ich nicht angehören wollen würde.

Ich habe einfach Deine ersten Äußerungen als ziemlich pauschalisierend und empfinde das auch als abwertend (obwohl es das sicher nicht sein sollte, so wie ich Dich kennen gelernt habe) denen gegenüber, denen Glaube und Kirche etwas bedeuten. Dahinter stehen ja Menschen, die aus guten, oft biographisch geprägten Gründen sich anders entscheiden als Du.

Louisa

Beitragvon Louisa » 29.12.2009, 23:48

(Zu dem ersten Punkt noch mal: ich finde Lisas und Leonies Argument komisch, weil -wie ich sagte- ja nicht die schlechten oder guten Taten der kirchlichen Mitglieder eine Grundlage der Mitgliedschaft oder Unterstützung oder der Nicht-Mitgliedschaft oder Nicht-Unterstützung sein sollten, sondern meines Erachtens der Glaube an die Religion, die in dieser Kirche praktiziert wird.

Deshalb dreht sich diese Diskussion auch so im Kreis.

Das ist wie, wenn ich jemand heiraten will mit der Kirche. Es ist von vornerein sicher, dass es Streit und Probleme, Macken und Verletzungen geben wird, die man viell. gar nicht beabsichtigt hat - Aber weder auf diese Befürchtungen, noch auf die positiven Hoffnungen gründet sich doch der Entschluss zu heiraten - sondern (ich finde) auf der Grundlage, dass ich den anderen liebe.

Oh, ich werde schon wieder so sentimental *lach* !

Lalala...sprecht ruhig weiter und bemerkt mich nicht!
l

Herby

Beitragvon Herby » 30.12.2009, 00:03

Liebe Louisa,

Louisa hat geschrieben:weil -wie ich sagte- ja nicht die schlechten oder guten Taten der kirchlichen Mitglieder eine Grundlage der Mitgliedschaft oder Unterstützung oder der Nicht-Mitgliedschaft oder Nicht-Unterstützung sein sollten, sondern meines Erachtens der Glaube an die Religion, die in dieser Kirche praktiziert wird.


Könnte es nicht ein sowohl ...als auch anstelle eines entweder ... oder sein? Für mich schließt das eine das andere nicht aus.

LG Herby

Nicole

Beitragvon Nicole » 30.12.2009, 09:12

Liebe Lisa,

Du schreibst:

Hierzu möchte ich noch allgemein sagen,


Zitat:
"Womit wir bei den entscheidenden Wort sind, meiner Meinung nach. Glauben. Und der ist nicht diskutierbar."

dass ich das doch auch etwas heikel/polemisch/einfach finde.


Nun, ich denke, Du definierst dann sowohl "Glauben", als auch "Diskussion" anders als ich.

Erstaunlich finde ich hierbei Deine Wortwahl "polemisch". Entweder ich habe die Bedeutung des Wortes nicht verstanden, oder ich verstehe nicht, was Du meinst. könntest Du mir dies bitte nochmal erläutern?

Du schreibst im Folgenden:
Natürlich kann man und sollte man einen bestimmten Glauben des einzelnen akzeptieren und es gibt auch Grenzen, wo man einander einfach auch lassen können sollte. Aber da eine bestimmte Ausprägung von Glaube doch konkret auch immer andere betrifft, ihre Anliegen, Freiräume etc. berührt, ist oft eine Diskussion eben doch nötig.


Nicht zu diskutieren heißt nicht, den anderen "einfach lassen können." Ich meine damit, das durchaus ein Meinungsaustausch möglich, wenn nicht sogar in einigen Fällen nötig ist. Eine Diskussion über ein Gefühl ist m.E.n. aber unmöglich. Auch sprach ich von Diskussion über Glauben, die ich für unmöglich erachte, nicht über die Taten, die daraus resultieren.

Nicole

Louisa

Beitragvon Louisa » 30.12.2009, 11:24

Hallo Herby!

ich habe deine reaktion nicht ganz verstanden (die letzte). Du meinst glaube ich:

1. Entweder ich gehe in die Kirche, weil ich an Gott und an die jeweilige Religion glaube.
2. Ich gehe in die Kirche, weil ich die Kirche gut finde.

Wenn du das mit "Entweder-Oder" meinst (meinst du das?) - dann unterstütze ich Punkt eins immer noch und Punkt zwei finde ich selbst-betrügerisch. Meine Familie ist ziemlich christlich - und ich habe den Eindruck mein Vater interessiert sich gar nicht dafür, ob es wirklich einen Gott, dem da in der Kirche "Dienste" abgeleistet werden, gibt.

Ich frage dann: "Nun, jetzt gehst du in die Kirche, Papa. Aber glaubst du denn an Gott? Erklär mir das mal bitte!"

Und er antwortet mir in Floskeln: "Ja, es muss doch aber so ein Wesen geben, das mächtiger ist, als wir Menschen. Wir Menschen können ja nicht die größten sein. Blablabla..."

- Aber so wirklich nachgedacht über die Frage hat er nicht - und ich glaube manchmal er glaubt eigentlich gar nicht an Gott, nicht an ein Leben nach dem Tod und nicht an einen Sohn Gottes, der wieder auferstanden ist nach seinem Tode. Das findet er bestimmt eine schöne Geschichte und sehr tröstlich - aber er glaubt es nicht und betrügt sich eigentlich selbst.

Das finde ich traurig - und deshalb sagte ich: "Wenn ich in die Kirch eintrete, dann muss ich an Gott glauben und an die jeweilige Religion, die dort praktiziert wird."

Da hilft es nichts, dass ich Nächstenliebe und soziales Engagement so schön finde... Ich muss doch auch vollkommen dahinter stehen.

Das ist für mich dasselbe wie ein Atheist, der sich noch nie mit der Frage beschäftigt hat wieso er eigentlich nicht an Gott glaubt und wieso er eigentlich nicht in die Kirche geht -

Das finde ich ebenso bedenklich wie einen Christen, der sich dieselben Fragen nie stellt. Es sei denn er ist so veranlagt wie meine Großtante aus Amerika. Die ist über 90 und schickt mir jedes Jahr einen Brief in gebrochenem Deutsch, wo sie immer seitenlang den "Herrn preist" - und das in einer sehr amüsanten, aber ehrlichen Art und Weise (da ja alles in falschem deutsch geschrieben ist) - und diese Tante glaubt wirklich ganz ehrlich an diesen biblischen Gott und an JEsus Christus und sie hilft den alten Frauen ehrenamtlich im Altersheim - obwohl sie ja selbst fast 100 ist :smile: ... alles, weil sie das alles so ehrlich glaubt, was sie in der Kirche oder sonstwo gelernt hat...

Und das finde ich dann schon wieder bewundernswert und schön.... Da weiß ich wenigstens, dass sich diese Frau nicht selbst betrügt.

Schönen Tag!
l

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Beitragvon leonie » 30.12.2009, 14:48

Liebe Louisa,

ich kann Deine Haltung gut nachvollziehen und es ist eine von denen, die mir bezüglich der Kirche am liebsten und wertvollsten sind. Auch, wenn sie dazu führt, dass jemand sagt: Für mich ist das nix.

Trotzdem meine ich, dass, wer dazugehören will auch dazu gehören können sollte. Denn dass jemand (wie zum Beispiel jetzt Dein Vater) keine Auskunft gibt, heißt ja überhaupt nicht, dass er sich keine Gedanken macht. Du kannst ja nicht in seinem Kopf nachschauen. Und wenn er meint, er gehört dazu, dann denke ich, würde ich niemals sagen: Das stimmt doch eigentlich gar nicht, denn Du glaubst doch nicht wirklich an das, was da geglaubt wird (oder werden müsste).

Zudem glaube ich, dass "Glauben" mittlerweile fast ein Tabuthema ist.
Ich empfinde es auch als ein sehr persönliches Thema.
Und man wird oft ganz schön angegangen, wenn man öffentlich macht, dass es einem etwas bedeutet. Etwa als Spinner hingestellt (insbesondere von naturwissenschaftlich orientierten Leuten, wobei ich es dann manchmal fast witzig finde, wie manche von ihnen dann "nachweisen", dass der Mensch nicht die "Krone der Schöpfung" (was ich übrigens auch für einen problematischen Begriff halte) ist und sich aber letztlich genau so verhalten als seien sie es, weil sie die Geheimnisse der Welt entschlüsselt und den Glauben entzaubert haben) . Oder man wird mit sämtlichen schlechten Erfahrungen von Kirche konfrontiert und mit Urteilen, die einfach heutzutage so nicht mehr stimmen und schon gar nicht auf einen selber zutreffen. Und das ist manchmal verletzend.
Zudem gibt man ja in gewisser Weise vielleicht auch eine Schwäche zu. (Kaschnitz: Ich bin nicht mutig, vielleicht kennst Du den Text...). Dass man eine externe Kraft-, Heil- und Hoffnungsquelle in Anspruch nimmt.

Das sind ein paar Gedanken dazu... Mehr Zeit habe ich gerade nicht....

Ich finde das schön, wie Du über die Tante schreibst. Und auch die Gewissenhaftigkeit, mit der Du ehrlich Dir gegenüber sein willst und das auch von anderen einforderst.


Liebe Grüße

leonie

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.12.2009, 21:00

Liebe Nicole, liebe Louisa,

mein vorgebrachter Einwand in Bezug auf "Glauben lassen" war etwas doof geraten, entschuldigt bitte. Ich stimme euch ja in dem, wie ihr es meint zu (Und Nicole, ich meinte mit polemisch auch nicht deine Vorbringart oder ähnliches, sondern meinte es eher als Eigenschaft der Aussage, aber getroffen war das auch nicht wirklich, Ich würde das ganze einfach etwas komplexer ausdrücken, aber komplexer bedeutet nicht unbedingt sinniger.) Ich habs nicht hinbekommen, es fein genug auszudrücken, was mir abgeht und weiß eigentlich wie ihr es meint und stimme euch zu - ich hoffe, es ist Ok, wenn ich es dabei belasse.

Liebe Leonie,

meine Aussagen sind nicht herablassend gemeint. Ich habe mehrfach gewürdigt, dass es viele kirchliche Einrichtungen, Organisationen und Einzelpersonen gibt, die gutes leisten, und ich finde es auch nicht von vorneherein falsch oder kritikwürdig, dass jemand Kirchenmitglied ist. Das einzige, was ich gesagt habe ist, dass es für mich aus genannten Gründen nicht das richtige ist.


das würde bedeuten, dass Du keiner Institution angehören kannst, sobald dort in einer Frage etwas geschieht, was Du nicht gutheißt.


Ich finde, dass du das viel zu einfach drehst. Ich habe doch ausdifferenziert, dass mir die Negativbeispiele zu grundlegend sind und ich deshalb dieser Institution nicht beitreten möchte.


Natürlich muss man schauen, ob die großen Linien zu einem passen und wo auch die Grenze der Möglichkeit einer Zugehörigkeit oder Identifikation gegeben ist. Und das ist für mich auch okay, dass Du Dich dann anders entscheidest als zum Beispiel ich.


Genau das habe ich doch nur für mich mit nein beantwortet.

Mich würde interessieren, wie Kirche (oder eine andere Institution) denn sein müsste, dass Du sie gutheißen könntest und nicht kritisieren würdest. Mir scheint nämlich fast, eine solche Institution gibt es gar nicht, der Du Dich angehörig fühlen könntest.


Ich bin da generell kritisch, ja, Institutionen sind nicht so mein Ding, aber es gibt schon welche, die mich überzeugen können und die ich unterstütze. Ich weiß doch auch, dass es praktisch viel schwieriger ist, keine Fehler zu machen, dass man manchmal als Organisation ebenso wie als einzelner vor Entscheidungen steht, wo es kein richtig gibt oder man einfach nie mit einer Strömung völligen Konsens erhalten kann, das ist für mich in Ordnung. Aber wenn die empfundenen Diskrepanzen eben zu groß sind, geht es nicht und so verhält es sich bei mir.

Die Größe der Kirche (ebenso wie die des Staates) ist übrigens etwas, was mich eher abschreckt. Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem direktem Umkreis viel besser beurteilen und mitgestalten kann und wenn mir die Arbeit eines Pastors in meiner Nähe gefällt, wäre es mir lieber, ich müsste nur hinter ihm stehen und nicht eben zugleich dann auch hinter der Riesenorganisation Kirche. In diesem Sinne fand ich Yoricks letzten Beitrag zum Sektenbegriff wichtig und gehaltvoll. Denn im Grunde wären für mich solche kleinen religiösen Abspaltungen oder Neugründungen oder was auch immer viel interessanter, wäre ich gläubig.

Ja, und manches von dem, was Du schreibst, stimmt für mich so auch nicht. Ich habe zum Beispiel nachgeschaut, "Brot für die Welt", eine der größten Aktionen der evangelischen Kirche, arbeitet nicht missionarisch.


Das habe ich doch gar nicht behauptet? Es gibt aber dieses Verhalten von der Kirche. Ich weiß nicht, was an meiner Aussage nicht stimmen soll.
Für mich ist die aber zum Beispiel repräsentativer als eine Aktion irgendeiner womöglich kleinen Randgruppe, die Mission und Entwicklungshilfe verknüpft. Soll ich jetzt aus der Kirche austreten, weil es die Randgruppe gibt?


Dass dies nur kleine Randgruppen sind, bezweifle ich )ich denke, wir müssten da beide recherchieren, um angemessen diskutieren zu können, vielleicht lassen wir es deshalb dabei oder gehen ins Detail, so halb dahingeeworfenes ist immer schade). Und natürlich musst du gar nichts, du hast doch dein Gefühl zu diesem Sachverhalt und das ist Ok. Aber ich möchte eben dieser Organisation aus diesen Gründen nicht beitreten. Mein Gefühl sagt für mich da nicht OK (und ich habe ja nicht nur dieses Beispiel genannt, ich finde es unfair, wenn du jetzt auf diesen Aspekt reduzierst und es dann als falsch darstellst, dass man moralische Bedenken gegenüber der Kirche haben kann.

Das stimmt in vielen Punkten leider. Natürlich kann man sagen: Aus diesem Grunde kündige ich, die Institution Kirche kann man getrost abschaffen. Aber man kann eben auch sagen: Ich versuche, es zu verändern, auch wenn es langsam geht und mühsam ist, weil diese Institution es mir wert ist.
Vielleicht hat es auch viel mit dem zu tun, was einem im Laufe des Lebens mitgegeben wurde und vermittelt wurde darüber. Und ob man das als stimmig und für sich selbst als wertvoll empfindet.


Das wiederum kann ich sehr gut verstehen. Ich habe in Bezug auf die Kirche dafür nicht die Muße, die Kraft, die Motivation. Aber in anderen Bereichen sehe ich das oft ähnlich, aus einer ähnlichen Position heraus. Ich finde das, wenn in einem eben das Gefühl dazu ist, eine sehr feine und wichtige Entscheidung!

Vielleicht kann man an meinen letzten Sätzen erkennen, dass ich durchaus deine Position anrkenne und nicht untergraben möchte, dass wir aber eben in einigen Punkten verschiedener Auffassung sind, von denen aber keine "falsch" ist?

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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