Brot

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Sam

Beitragvon Sam » 18.12.2009, 15:11

Brot


Spangenbachs kürzlich erschienener Aufsatz über die in manchen katholischen Sekten praktizierte Brotbuße, wurde nur am Rande zur Kenntnis genommen, was sehr bedauerlich ist. Aber verständlich, da er niemandem wirklich Angst gemacht hat.


Ein junger Mann betritt einen Supermarkt, geht zielstrebig in Richtung der Backwaren und nimmt sich ein Brot aus dem Regal. Er trägt Jeans und einen Kapuzenpulli, sauber, ordentlich, nicht zu groß. Sein Gesicht ist von der Pubertät ein wenig hergenommen, die Augen glanzlos, der Mund schmal. Auffällig sind seine gepflegten Hände, die langen Finger, die fast kreisrunden Nägel. Man kann sie deutlich sehen, als er das Brot umfasst, ein großes Stück aus dem Laib herausreißt und sich in den Mund schiebt. Doch statt zu kauen, schluckt er. Er bricht ein weiteres Stück und stopft nach. Schluckt erneut. Beim dritten Brocken beginnt er zu würgen, schiebt aber noch einen vierten hinterher. Jetzt gerät sein ganzer Körper in Bewegung, verkrampft sich in dem Bemühen, den Brechreiz zu unterdrücken. Noch ein letztes Stück, er presst es auf den Mund, als wolle er ihn damit endgültig verstopfen. Einen eigenartigen Tanz vollführt er, einen Brottanz, einen Erstickungstanz, sein Körper wehrt sich, will kein Brot mehr, will nur Luft.


„Unterernährt? Nein, nicht unterernährt, so was wäre bestimmt schon längst aufgefallen. Wobei manche der Jugendlichen in diesem Alter so aussehen, als hätte man sie gerade aus dem KZ – Sie verstehen...
Sicher, er war sehr leicht und dünn für sein Alter, aber keiner der Tests zeigte irgendwelche Mangelerscheinungen. Im Grunde war er sogar über dem Durchschnitt. Also wenn man diejenigen in Betracht zieht, die so jeden Tag Fastfood essen oder daheim nur Raviolidosen aufgeschraubt bekommen, da war er richtig gut drauf – zumindest blutwertechnisch.“



Eine Angestellte des Supermarktes, schon etwas älter und recht korpulent - Sie wissen schon, die morgens meistens das Gemüse und den Salat aufstapelt, immer mit einem etwas fleckigen Kittel, die Haare oftmals fettig oder unordentlich, wenn die einen Salatkopf ganz oben auf die Kiste legt, nehmen Sie immer den, der darunter liegt - läuft zu dem jungen Mann und versucht ihm die Hände vom Mund wegzudrücken. Der wehrt sich. Erst als ihn die Kräfte verlassen, gibt er nach. Der Körper erschlafft und kann den Hals nicht mehr freiwürgen.


„Ich glaub, der wäre gerne cool gewesen. Aber irgendwie hatte er immer so einen Stock im Arsch. So Typen gibt’s halt. Stehen meist alleine rum, und wenn man dann mal auf sie zugeht, weichen sie gleich zwei Schritt zurück. Kommen sie aber von selber, dann sind sie furchtbar ungeschickt und verkrampft. Das funktioniert einfach nicht. Nein, ich glaub, der wäre irgendwie gerne cool gewesen und hätte es vielleicht auch sein können, wenn da nicht dieses religiöse Dingens gewesen wäre. Ob er das toll fand, weiß ich ja nicht, aber seine Eltern werden es halt gewollt haben. Zum Rebellen hat ihm offenbar der Mumm gefehlt. Zumindest war da nicht viel drin mit locker sein, Disco, Tanzen, Spaß haben. Aber vielleicht wollte er ja so ein Freak sein. Ist mir eigentlich auch egal. Und was hat der nun gestohlen? Ein Brot? Und deswegen der ganze Aufriss?“


„Ganz normaler Junge. Absolut unauffällig. Höchstens ein wenig nachdenklich, aber auch nicht wirklich. Sporadisch apathisch, aber wer von den Jugendlichen ist das nicht? Ich arbeite nun wirklich schon lange genug mit den Kids, um zu wissen, dass die ab und an mal ausschalten. Verarbeitungsphase nenne ich das. Der Eine verprügelt dann seinen Tischnachbarn. Und der Andere, der starrt einfach Löcher in die Luft.“


Spangenbach konzentriert sich zunächst auf die symbolische Bedeutung des Brotes in den religiösen Schriften des Christentums, vornehmlich der Bibel. Er führt aus, dass die erste Erwähnung von Brot nach dem Sündenfall erfolgte, im Zuge der Strafverlesung: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen.“ Danach aber stellte es vor allem eine göttliche Segensbekundung dar. Manna z.B., das Brot vom Himmel, auf das sich Christus später bezog, wenn er sich als solches bezeichnete, von dem man essen müsse, um ins Himmelreich zu gelangen. Und so weiter. Spangenbach holt weit aus, natürlich immer im gewohnt süffisanten Ton, der stets den aufgeklärten Atheisten durchscheinen lässt.


Der Vater erfährt von dem Vorfall, als sein Sohn schon im Krankenhaus ist. Durch eine Mail seiner Sekretärin, weil er sich für den ganzen Tag sämtliche Störungen verbeten hat. „Die“, hatte er gleich am Morgen gesagt und auf die dicke Tür gezeigt, welche sein Büro von dem Vorzimmer trennte, „wird heute nur noch von Innen geöffnet.“
Die Sekretärin verschwand mit einem Knurren und er ging hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Die Lehne eines sündhaft teuren Bürostuhls im Rücken zu fühlen, das gefiel ihm schon immer. Heute aber spürt er nichts. Nur ein Ziehen aus unbestimmter Richtung. Er hat in seinem Leben schon so oft über Prüfungen geredet, dass sie ihm völlig fremd geworden sind. Ihnen direkt gegenüber zu stehen, war etwas ganz anderes. Er war ein Theoretiker des Glaubens, das Praktische aber hatte viele Tücken. Es gab zweierlei Schmerzen, das wusste er. Den Schmerz der Versuchung und den Schmerz der Konsequenz. Die Konsequenz – vor allem bei seinem Sohn. Das war notwendig. Weil es in sich richtig ist, einen Weg konsequent zu gehen, sei er nun wahr oder falsch. In der Konsequenz erkennt Gott die Stärke.
In der Versuchung jedoch war er stets alleine, ihr Schmerz war nur sein Schmerz. Und wem sollte er sagen, dass er schon lange nicht mehr betete?
Die Mail lautet: Anruf Ihrer Frau. Ihr Sohn ist im Krankenhaus. Bitte zurückrufen.
Er ruft zurück, und zwei Stunden später kommt er in die Klinik.


„Wir waren zwei Monate zusammen, aber nicht wirklich. Wir haben uns ein paar Mal nach der Schule getroffen. Sind mal ins Kino oder in die Stadt gefahren. Er mochte Bücher, davon hat er viel geredet. Im Park haben wir heimlich geraucht, obwohl er ziemliche Angst hatte, dass seine Eltern das heraus bekommen. Einmal haben wir sogar geknutscht, aber da war er so was von wild, dass ich dachte, er vergewaltigt mich gleich. Dann hab ich Schluss gemacht.
Über Religion? Nee, über Religion haben wir nicht gesprochen, wieso?“



„Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber wenn man etwas Besonderes ist, dann haben viele Dinge, die als Normal gelten, eine andere Wertigkeit. Und mit etwas Besonderem, meine ich einen wirklich gläubigen Menschen. Gläubig in einer Form, wie man sie heute eigentlich nur noch unter diesen Moslems findet, zu unserer Schande. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen. Wie dieser Junge und seine Familie. Echte Christen. Bemüht in jedem Aspekt des Lebens dem Glauben Ausdruck zu verleihen. Nicht nur da, wo es leicht ist, sondern auch da, wo es weh tut. Aber notwendig ist. Wenn es weh tut, dann ist es immer notwendig, sonst ließe sich das ganze Konzept ja nicht mit der allumfassenden Liebe vereinbaren, die mit dem Gottesbegriff verbunden ist.“


Die Mutter sitzt auf der Couch und liest, als das Telefon klingelt. Peer Gynt. Sie hasst diesen Klingelton, weil er etwas Schönes entstellt. Aber sie hat sich daran gewöhnt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt angespannt. Schon nach den ersten Worten weiß die Mutter, dass etwas passiert ist. Zu umfassend ist ihre Kenntnis von Spannungszuständen. Und wenn sie Schlimmes erwartet, dann immer das Schlimmste: Irgendeinen Tod. Durch die Leitung hört sie „Ihr Sohn...“ und sieht nur noch Schreckensbilder und Blut. Sie rutsch vom Sofa, kniet auf dem Teppich, beugt den Rücken. Mehr Demut geht nicht. Der Herr hat’s gegeben...
Dabei sitzt der Junge so fest in ihrer Brust, wird zum Schmerz, sobald sie sich ihn wegdenkt. Oder unglücklich. Oder unter Strafe.
Wenn es dein Wille ist, dann lass diesen Becher...
Die Stimme im Telefon hat zu Ende geredet und eine eigentümliche Erleichterung macht sich in der Mutter breit. Eine Erleichterung, die man verspürt, wenn dem Schmerz seine Vollkommenheit verloren geht.
Das Telefon noch immer in der Hand, setzt sie sich wieder auf die Couch und versucht, ihren Mann zu erreichen.


„Richtige Freunde waren wir nicht. Wir haben in der Schule nebeneinander gesessen. Ab und zu trafen wir uns am Nachmittag. Manchmal zum Lernen, manchmal einfach um ein bisschen abzuhängen. Aber nur bis um sechs, dann musste er nach Hause. Abends durfte er so gut wie nie weg. Auch am Wochenende nicht. Er wollte Tierarzt werden, oder Dichter. Von zu Hause hat er selten geredet, aber wenn, dann hatte ich das Gefühl, dass er Angst vor irgendetwas hatte. Ja, von Strafen erzählte er auch, aber immer so komische Sachen, wo ich mir dachte, das sind doch keine wirklichen Strafen. Bestimmte Bücher lesen, einen Tag nichts sagen und so was. Ums Essen ging es da aber nie.“


Spangenbach schreibt:
„Die Brotbuße ist eine symbolische Strafe. Brot als Zeichen der Gunst. Unser täglich Brot gib uns heute. Wem man das Brot entzieht, dem entzieht man den Segen Gottes. Die psychologische Wirkung ist tiefgreifend. Es handelt sich um eine Vorstufe der Exkommunikation. Der Sünder bekommt für eine gewisse Zeit kein Brot und darf auch nicht in Gemeinschaft essen. Eigentlich eine zeitgemäße Strafe, denn sie kommt ohne Prügel aus. Niemand stirbt, wenn er mal für eine Weile kein Brot ist.“


„Sehen Sie, wir haben genug Fälle, in denen wir tatsächlich einschreiten müssen, weil den Jugendlichen Gefahr droht. Das sind dann aber konkrete Dinge. Körperverletzung, Missbrauch, grobe Vernachlässigung und solche Sachen. Und oft genug kommen wir nicht rechtzeitig. Was dann passiert, wissen Sie. Wenn wir da noch jedem hinterherlaufen würden, der seine Kinder mit steinzeitlichen Glaubensvorstellungen großzieht, dann hätten wir viel zu tun. Allein bei den vielen Ausländern. Wie? Gut, in diesem Fall waren es keine Ausländer. Von mir aus auch was christliches, ist doch egal. Es gab nie irgendwelche Hinweise darauf, dass der Junge gefährdet sei. Und bei dem Elternhaus, ich meine, der Vater ist Verkaufsleiter bei einer nicht unbekannten Firma, verdient nicht schlecht, die Mutter ist nur Hausfrau, d.h. ständig zu Hause, um das Kind zu versorgen. Das sind Traumvoraussetzungen. Ich würde mir wünschen, alle Eltern wären so. Da könnten die religiös gerne ein wenig überzogen sein. Aber ansonsten ist das doch optimal.“


Kann es sein, fragt am nächsten Tag eine Tageszeitung, dass sich ein junger Mensch umbringen möchte, indem er sich solange den Hals mit Brot vollstopft, bis er erstickt?


Einer seiner Klassenkameraden bemerkt:
„Wer weiß, vielleicht hatte er einfach nur Hunger.“

Einige Tippfehler beseitigt - Merci Renée
Zuletzt geändert von Sam am 20.12.2009, 11:58, insgesamt 1-mal geändert.

Max

Beitragvon Max » 30.12.2009, 21:35

Liebe Leonie,

ich möchte nur kurz zu diesen Zeilen von Dir etwas sagen:

Und man wird oft ganz schön angegangen, wenn man öffentlich macht, dass es einem etwas bedeutet. Etwa als Spinner hingestellt (insbesondere von naturwissenschaftlich orientierten Leuten, wobei ich es dann manchmal fast witzig finde, wie manche von ihnen dann "nachweisen", dass der Mensch nicht die "Krone der Schöpfung" (was ich übrigens auch für einen problematischen Begriff halte) ist und sich aber letztlich genau so verhalten als seien sie es, weil sie die Geheimnisse der Welt entschlüsselt und den Glauben entzaubert haben) .



Ich denke, Du machst es Dir zu einfach, wenn Du hier die grob vereinfachten Argumente von der Straße als die Argumente der naturwissenschaftlich orientierten Leute ausgibst. Ich mag gar nicht gegen irgendwelche Glaubensrichtungen pro- und contra-Argumente austauschen. Eine auch nur halbwegs fundierte Beleuchtung dieses Themas ist m.E. nicht nur in diesem Forum nicht zu leisten, sondern muss auch die Ebene des Diskurses wechseln, indem beispielsweise die Rollen von Glaube und Naturwissenschaft beleuchtet werden und die Tatsache, dass Naturwissenschaft in einigen Aspekten die Rolle von Religion übernommen hat.

Schließllich denke ich, dass wir uns damit sehr weit von Sams ursprünglichem Text fort begeben, den ich nebenbei bemerkt gelesen habe, zu dem ich aber derzeit nicht mehr sagen kann als hier in vielen Beiträgen schon angesprochen wurde (mir hat der Text in erster Linie gefallen, ich habe ihn mit einer gewissen Spannung bis zum Ende gelesen).

Liebe Grüße
Max

Herby

Beitragvon Herby » 30.12.2009, 22:02

Hallo Louisa,

was ich, bezogen auf dein Zitat, meinte, ist dies: sowohl das Engagement anderer als auch der eigene Glaube an die kirchliche Lehre können Grundlage für eine Mitrgliedschaft sein. Beides schließt sich nicht aus. Und wenn ich von Glaube an die kirchliche Lehre spreche, so meine ich jetzt "Glaube" nicht im Sinne eines blinden Kadavergehorsams, sondern in dem eines wachen, kritischen Glaubens. Und damit bin ich bei dem zweiten Punkt deines letzten Kommentars:

Louisa hat geschrieben:2. Ich gehe in die Kirche, weil ich die Kirche gut finde.


Zum einen finde ich die Formulierung schwierig, weil es "die Kirche" in dieser verallgemeinernden Form m.E. nicht gibt. Zum anderen verhält es sich bei mir so wie bei vielen, vielleicht den meisten: ich wurde gegangen, will sagen kurz nach der Geburt katholisch getauft und wuchs in diesem Glauben auf. Ein Kind ungetauft und es dann später selbst wählen zu lassen, welcher Religion es angehören möchte (und ob überhaupt), war Mitte der 50er Jahre völlig unüblich. Aber deshalb wäre mir ja die Freiheit, wieder auszutreten, unbenommen.

Und es gibt tatsächlich einiges, was mich stört, doch das betriftt weniger Gott als sein "Bodenpersonal". Wenn ich heute noch an die Probleme denke, die ich vergangenes Jahr hatte, als es galt, die Beerdigung meiner Mutter in einem halbwegs würdigen Rahmen zu regeln... damals kam mir tatsächlich der Gedanke, auszutreten. Aber Fragwürdiges oder gar Negatives gibt es vermutlich in jeder Glaubensgemeinschaft. Ich weiß nicht, ob es eine gäbe, die ich einschränkungslos gut finden könnte. Da halte ich den Versuch, Entwicklungen oder Entscheidungen, die mir problematisch scheinen, durch aktive Mitarbeit zu (ver-)ändern besser als auszutreten bzw. zu konvertieren. Wäre das nicht zu bequem, hätte es nicht etwas von Flucht?

Und was deine Tante betrifft, ja, es IST bewundernswert und das nicht nur wegen ihres Alters.

Lieben Gruß
Herby

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 30.12.2009, 22:59

Lieber Sam und Diskutanten,

Ich finde es herrscht hier zwischen Text und Diskussion eine sich gegenseitig erhellende, positive Spannung. Der Text selbst entwickelt das Arme, Elende, das über die gleichgültige Wahrnehmung des "Nächsten" deutlich wird.
- Der Theoretiker, der in Wirklichkeit nur an der Anzahl seiner Publikationen interessiert ist, dem diese "Brotbuße" als ethnologische, religionssoziologische Beobachtung das Klatschen einer akademischen Runde einbringt (womit er sein "täglich Brot" verdient.
- Der Sozialarbeiter, (die) (-in), der /die nur unter fröhlichster Verharmlosung (mit einem Schuss Betroffenheit) die seltsamen Auswucherungen der PRAXIS wahrnehmen kann, denn es gibt SCHLIMMERES
- Der auktoriale Erzähler, der eine Welt zeichnet, die aus feinen Strichen die Bsonderheiten der Unhungrigen, der Ungläubigen, der Ungepflegten, ... erstehen lässt (die Finger, die unappetitlche Verkäuferin, der Stuhl des Vaters, das Handy der Mutter)

Wie hier von Buße die Rede ist, vom Glauben, vom Beten, von Religion, das führt mich immer tiefer in den Text hinein, in die verschiedenen Schichten der ____ Losigkeiten. Sie sind haltlos, hemmungslos (der junge Mann) - erbarmungslos (der Vater, der Theoretiker), verständnislos, orientierungslos, interesselos,

Dass eine Art "positiver Glaube" helfen kann, einen Halt zu finden, das glaube ich wohl, und indirekt ist das mMn die Aussage des Textes. Etwa so, dass es dem Betrachter der schmuddeligen Verkäuferin ein Trost wäre, würde diese in sich einen Rest Würde finden, der ihr helfen würde, ihr Übergewicht zu verlieren.
Nietzsche spricht dabei vom "umhüllenden Wahn" - der den Menschen schützt, den der Mensch braucht. Ohne diese Hülle, ohne den Anblick der Morgenröte, oder des Horizonts, ist ein Weitergehen unmöglich. Der Mensch braucht zum Heute das Gestern und Morgen. Dass Nietzsche sagt, "Gott ist tot" (ich könnte im Moment grade diese letzte Stelle nicht korrekt zitieren, die vorigen Stellen stammen alle aus der "zweiten unzeitgemäßen Betrachtung"), heißt nicht, dass er nicht für die Gläubigen existieren kann.

Dass in Sams Text von einem toten Glauben die Rede ist, heißt nicht, dass diese ungläubige Welt als Modell hingestellt wird. Im Gegenteii. Jede Stimme weckt eine Gegenstimme, eine Stimme des Widerstands. Ein Appell der Art des Sängers (Wolf Biermann) "Lasst euch nicht verhärten, in dieser harten Zeit."

Solche Texte sind meiner Ansicht nach "Glaubenstexte". Damit meine ich eine unerschütterliche, feste Verwurzelung in dem was "Beten" ursprünglich bedeutet: sich an das Große Unbekannte richten, von dem wir nicht wissen, was es ist. Es ist zum Teil in der Sprache und in den Menschen. Es wäre z.B. auch im Brot, das gebrochen wird: "dies ist mein Leib".

Mir fehlt ein Abschluss, ich breche mal hier ab.

liebe Grüße
Renée

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Beitragvon leonie » 30.12.2009, 23:40

Liebe Lisa,

vermutlich ist manches von dem, was Du geschrieben hast, für mich "allgemeingültiger" und grundsätzlicher rübergekommen als Du es meintest.

Ansonsten kann ich das gut so stehen lassen.

In der Frage "ungesund" sind wir sehr unterschiedlicher Meinung, denke ich. In der Definition von "gesund/ungesund" vermute ich, dass wir uns annähern könnten. Aber vermutlich nicht in der Frage, was auf die christliche "Grundhaltung" zutrifft. Ich glaube, ich könnte das gut begründen, warum "ungesund" für mich nicht zutrifft, sondern ich gerade dieses "gesunde" finde. ....

Einzig, was die missionarisch ausgerichtet Hilfsangebote betrifft, würde mich interessieren, ob Du da ein konkretes Beispiel weißt. (Ich sehe das grundsätzlich auch kritisch), weil ich wirklich glaube, dass das nicht auf die großen und repräsentativen Hilfsangebote zutrifft. In der Diakonie etwa oder bei Brot für die Welt. Und das sind meiner Meinung nach die, die für "Kirche" stehen.

Ja, natürlich kann man moralische Bedenken gegenüber der Kirche haben, ich hatte gerade bei diesem Punkt aber den Eindruck, dass das, was die Bedenken auslöst, in der großen Linie so nicht wirklich zutreffend ist. Vermutlich habe ich den Punkt besonders rausgegriffen.

Ansonsten akzeptiere ich das natürlich, dass Du das anders siehst als ich, so dass das was Du hier schreibst, auch für mich eine gute Zusammenfassung ist:

Lisa hat geschrieben:Vielleicht kann man an meinen letzten Sätzen erkennen, dass ich durchaus deine Position anrkenne und nicht untergraben möchte, dass wir aber eben in einigen Punkten verschiedener Auffassung sind, von denen aber keine "falsch" ist?
.


Lieber Max,

quote="Max"]Ich denke, Du machst es Dir zu einfach, wenn Du hier die grob vereinfachten Argumente von der Straße als die Argumente der naturwissenschaftlich orientierten Leute ausgibst. [/quote]

Stimmt, das ist "naturwissenschaftlich orientierte" ist irreführend und zu verallgemeinernd ausgedrückt. Tut mir Leid.
(Diese Argumente allerdings kommen tatsächlich immer wieder und werden mit einem gewissen Stolz vorgebracht, dass man damit doch den Glauben widerlegt hätte. Und ich fürchte, das meint nicht nur der kleine Mann von der Straße (aber natürlich auch nicht jeder Naturwissenschaftler oder naturwissenschaftlich denkende Mensch).

Max hat geschrieben:Eine auch nur halbwegs fundierte Beleuchtung dieses Themas ist m.E. nicht nur in diesem Forum nicht zu leisten, sondern muss auch die Ebene des Diskurses wechseln, indem beispielsweise die Rollen von Glaube und Naturwissenschaft beleuchtet werden und die Tatsache, dass Naturwissenschaft in einigen Aspekten die Rolle von Religion übernommen hat.


Damit hast Du vermutlich auch recht. Eigentlich fände ich so einen Diskurs eine spannende Sache, aber es sprengt wohl wirklich den Rahmen hier.

Liebe Grüße

leonie

Louisa

Beitragvon Louisa » 31.12.2009, 00:50

Huhu ihr zwei!

Vielleicht bietet das gute alte Wikipedia euch eine kleine Hilfestellung in diesem Absatz:

http://de.wikipedia.org/wiki/Mission_(Christentum)#Gegenw.C3.A4rtige_Situation

- Was mich übrigens auch leicht davon abschrecken könnte der Kirche beizutreten ist ihre doch an vielen Stellen sehr grausige Vergangenheit (Kreuzzüge, Kolonisation/Zwangsmissionierung, Inquisition, Stellung der Frau/uneheliche Kinder/Alleinerziehende bis vor noch nicht allzu langer Zeit) - aber man sollte sich bei dieser Frage wohl eher an der Gegenwart orientieren... und die sieht -so wie ich das jetzt aus dem Fernen beurteilen kann- schon etwas rosiger aus.

Gute Nacht!
l

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Beitragvon leonie » 31.12.2009, 13:17

Liebe Louisa,

ich kann das nicht aufrufen.
Ich las aber gerade, dass Wiki "Missionar" definiert als jemanden, der religiös motiviert soziale Arbeit leistet. Dann wäre jegliches kirchliche Tun missionarisch.

Ich habe eher etwas gemeint wie: jemand, der Menschen, die in Not sind, seine (christlichen) Überzeugungen aufdrückt (um es ziemlich überspitzt zu sagen). Wo das dann nicht mehr ein Angebot ist, dass mit Freiwilligkeit und gleicher Augenhöhe zu tun hat.
Ich hatte Dich, Lisa, auch in diesem Sinne verstanden, dass nämlich Abhängigkeiten ausgenutzt werden. Das ist etwas, was ich auch nicht leiden kann und was meiner Meinung nach auch den Essentials widerspricht.

Liebe Grüße

leonie

Max hat wohl recht, es ist zu komplex, um das gründlich zu behandeln.


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