Die Liebkosung der Gebisse . Die Verteufelung der Wälder

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.10.2009, 22:28

Die Liebkosung der Gebisse . Die Verteufelung der Wälder

[align=right]Die dunklen Geisterhimmel haben es ganz gern, dass sie den Menschen etwas in die Ferne stellen,
auf dass diese immer tiefer in den Schmerz hineingehen*
[/align]


Mythologie des Schmerzes


Da ruft mich was. Das ist meine eigene Stimme. Meine Schuldstimme. Die lässt mich Geisterhimmel spannen.

In der Ferne ist nicht jetzt. Die Ferne ist nicht wahr, noch nicht.

Eine Wolke - eine Leiche. Leichenwolken.
Licht. Weißes Blut.

Dieses weiche Weh, in dem man treibt;
dass man nichts tun muss, dass man nichts halten muss
und ganze Wälder ihrer Bäume beraubt,
bloß noch Tiere aus dem Boden ragen,
blutende Tiere, die sich allesamt verstecken, indem sie einander wundreißen
und lecken und lecken und lecken.



Knirschen im Park

wie dem zarten Mädchen am Wasser seine durch die Bluse scheinenden Schulterblätter brechen wie den tchibogerüsteten Walkingtanten ihren Kuchenkot ins Gesicht matschen wie der über ihre krebszerfressenden Kinder jammernden Alten auf der Plastikbank ihr fleckiges Häutchen aus dem Gesicht reißen wie dem hektisch joggenden Schnurrbartbeamten mit seinem Dünngürtel den Rücken mit Striemen übersähen wie dem schleimenden H&M-Röhrenjeansdrogenjungen mit der Flasche des im Gebüsch liegenden pseudodiogenessuffschlummernden Penners den Schädel zerspritzen wie oben auf dem Hügel angekommen den sich in weiter Ferne erleichternden labbrig gezüchteten Labrador abknallen bevor er wieder den Kindern durchs Gesicht leckt weil die Hände ihrer Mutter ach lassen wir das wie die zeternde Elster voller Geschwüre mit einer Kinderzwille aus ihren Ästen schießen wie das schon auch durch irgendetwas den Tod verdienende kastanieleuchtende Eichhorn am Ende des Stumpfes mit bloßen Füßen zu Matsch treten ! auf die Zähne beißen wie ein dunkler Magier seinen Zauberstab erhebt, so lange und so fest, so totbringend, bis ich nicht länger mich beiße; bis ich mich hindurchgebissen habe durch alle Gesichter die schon immer wie das eigene Gesicht



Kräuterwünsche

Siehst du das Tier? Jeder sieht einmal solch ein Tier.
Nimm es dir, denn es kann nicht mehr.
Entscheide, was du mit dem Tier tun willst.
Entschließe dich gegenüber dem Tier.
Wenn du nichts mit ihm anzufangen weißt, iss das Tier auf.
Bitte iss es auf, denn es kann nicht mehr.
So hör doch! Du musst das Tier aufessen, wenn du keine andere Verwendung für es hast.

Niemand ist vor Ort, nur ein Dröhnen. Nacht. Regen. Das Tier liegt auf der Seite. Es schlägt sich mit dem eigenen Schweif. Es liegt hautfarben in der violetten Nacht.



Das also, der Anfang des Stumpfes

Er hatte der Fässin ohne Boden von der Frau mit dem großen Gesicht erzählt. In all den Stunden, in denen er nichts gesagt hatte, hat er ihr von dieser Frau erzählt. Und die Fässin ohne Boden hatte gelauscht, nach dem Knirschen seiner Zähne, wie es ihn verriet. Das Lauschen, ihre grausige, einzige Stimme.

Die Fässin ohne Boden flüchtet sich zurück in den Wald. Wie hatte sie ihre dicken Finger vergessen können, ihre feiste Lust, wie hatte sie ihren Blick von sich fort entspannen können zu einem Himmel, unter dem sie als eine andere ging.

Sie dreht sich auf die Seite. Neben ihr ragt ein Fuchs aus dem Boden. Das Aufgerissene, das Faltige, die Schwärze, der Pilz, der Schleim; alles so, wie sie es befürchtet hatte und wie sollte es auch anders sein, denn, das versteht sie nun, befürchten, befürchten kann man nur, was ist. Es ist ein Berühren, das Befürchten.






*Der kleine Satz steht Pate für all das, was ich schreibe, weil ich Peter gelesen habe und zugleich ist es ein Zitat von ihm. Ich hoffe, das gilt (etwas)
Zuletzt geändert von Lisa am 31.10.2009, 20:00, insgesamt 2-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 07.11.2009, 13:28

Liebe Flora,

Lisa, danke, dass du nochmal versucht hast mit dem Finger zu zeigen. A050 Aber ich glaube wir müssen (und können?) das jetzt einfach so stehen lassen.


Ja, das ist auch mein Gefühl


Lieber Sam,

ich habe deine allgemeinen Ausführungen zu Kunst entlang dieses Textes sehr genossen und stelle fest, dass wir ganz ähnliche Auffassungen vertreten. Vielen Dank dafür, dass du dich doch noch entschlossen hast, hier mitzudiskutieren

Liebe leonie,

Ich muss ehrlich sagen, nach den Erfahrungen hier werde ich wohl keinen Text von Lisa mehr kommentieren. Und es mir auch bei anderen Texten gut überlegen, ob ich etwas dazu sage.
Die Kriterien, die hier an den Leser und erst recht den Kommentator angelegt werden, entmutigen mich ebenso wie bestimmte Bewertungen, die hier vorgenommen wurden.


Das fände ich sehr sehr schade, da ich deine Position hier im Salon und deinen Umgang mit Texten sehr schätze, auch wenn wir hier unterschiedlicher Meinung sind. Und ich möchte versuchen, sanft zu bleiben und dir wieder Mut zuzusprechen, aber ich finde es auch schade, dass du nun so explizit vor meinen Texten zurückschreckst, weil ich nicht verstehe, wie sie sich von anderen unterscheiden und ich auch finde, dass ich ich sehr bemüht habe, diese Diskussion offen zu halten und viel Bereitschaft zur Verfügung gestellt habe, mich und den Text zu erklären, das hätte ich ja auch nicht tun müssen. Ich finde weiterhin, dass die Diskussion seit deinen letzten positiven Rückmeldungen zu ihr weiterhin konstruktiv und fair, anerkennend gelaufen ist. Ich finde es wichtig, dass das sagbar ist, was hier gesagt wurde (von allen Seiten). Das heißt nicht, dass ich nicht trotzdem sehen kann, dass es vielleicht nervenzerrend war oder auch nicht Raum dafür sehe, dass du irgendetwas jetzt nicht mehr möchtest, ich hoffe einfach nur (mit der Zeit) auf eine andere Entscheidung.
Vielleicht hilft es etwas zu entzerren, wenn man nicht immer wieder sagt, "leonie und Flora", denn es gibt ja nicht nur hier im Forum noch weitere Gegenstimmen zum Text (Ferdi, zum Teil Sethe, Nifl, stille Nichtbeteiligte), sondern auch woanders gehe ich davon aus, dass eure Position häufig vertreten sein wird.
Wie Sam sagt, ist solch eine stetige Auseinandersetzung einfach wichtig und das einzige, was es überhaupt zu sagen gibt. Und ich habe seinen Kommentar auch in erster Linie so verstanden, die Rechte von Kunst allgemein zu verdeutlichen und nicht zu sagen, der und der macht in meinen Augen das und das falsch, auch wenn man natürlich auf den Einzelfall verweisen muss, um zu verteidigen und nicht leer zu reden un seine Wut natürlich konkret ist.
Ich würde mich freuen, wenn das ganze für dich nicht so entmutigend wirken würde.

Lieber Nifl,

ich finde es gut, dass du hier einsteigst, um die Position, die den Text kritisiert, zu kräftigen, das entzerrt.

Ich finde allerdings, dass
TROTZDEM: Ein Schreiber/Künstler steht auch in einer Verantwortung dem Rezipienten gegenüber, denn er stimuliert, Kunst hin oder her


dies auch gar nicht von Albert, Max, Sam oder mir infrage gestellt wurde, ich sehe vielmehr explizite Verweise, die dir zustimmen!

denke jedoch, es ließe sich zu jedem Poetrontext eine ähnliche konstruieren.

Natürlich stimtm dieser Satz insofern, als er auf das auch überall vorkommende und sehr unangenehme Hurtz abzielt, welches auch in meinen Augen zu kritisieren gilt. Letzlich ist mir aber die Herkunft eines Textes oder Kommentars völlig egal, wenn ich mich dazu entscheide, etwas als Kunst oder als gelungene INterpreation anzusehen, ist es mir egal, ob Poetron der Autor ist oder ein Nobelpreisträger. Es kommt für mich alleine darauf an, was das Ding bei mir bewirkt - ich entscheide, ob es für mich Kunst ist oder nicht.

Liebe Sethe,

deine Fragen zu Fiktion und Realität sind spannend, ich versuche darauf noch einzugehen (wenn ich darf, war ja an Sam gerichtet), schaffe ich jetzt gerade nicht mehr, weil ich dafür länger schreiben muss.


liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Albert

Beitragvon Albert » 07.11.2009, 22:51

Liebe leonie,

eine Sache muss ich dann noch klären, weil der Punkt sowohl bei dir als auch Flora kam in Bezug auf meine "Beispiele", die ihr beide nicht kanntet. Ich meine herauszulesen, dass ihr beide der Meinung seid, ich würde "erwarten", dass jemand einen gewissen Hintergrund an Literaturkenntnissen mitbringt, damit ich ihn als Kommentator respektiere. Das ist, soweit ich weiß, überhaut nicht der Fall. Mir ging es nur darum einen möglichst allgemeinen Vergleichsrahmen zu schaffen, nochmal mit dem Verweis auf relativ bekannte Texte versuchen, etwas zu erläutern. Aber natürlich kenne auch ich unzählige "relativ bekannte" Texte nicht und ich wüsste auch nicht, was daran schlimm ist (in Bezug auf das Forum meine ich; an sich ist es natürlich schon schlimm, wenn man "Schuld und Sühne" nicht kennt oder die Kleistschen Erzählungen - wirklich sehr empfehlenswert!).

Das mit den Kriterien oder "Anforderungen" habe ich glaube ich von meiner Seite aus schon hinreichend klar gestellt.

Lieber Nifl,

Lisa hat dir ja schon adäquat geantwortet. Das mit dem "Poetrontext" sehe ich auch ähnlich, aber ich schätze mal, du willst damit sagen, mein Kommentar sei letztlich beliebig. Falls dem so ist, möchte ich gerne sagen, dass ich gerne auf deine Argumente hören würde, denn ich nehme mal nicht an, dass für dich "anything goes" gilt, auch nicht in der Kunst.
A propos Kunst: Da hab ich nicht ganz verstanden, was du meinst; willst du die Diskussion oder den Text kritisieren? Denn der Text funktioniert doch sehr gut, ohne dass das Wort Kunst auftaucht (denke ich). Da täte mir eine Differenzierung auch noch mal gut.

Liebe Grüße,
Albert

Nifl
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Beitragvon Nifl » 08.11.2009, 14:58

Hi Albert.

aber ich schätze mal, du willst damit sagen, mein Kommentar sei letztlich beliebig.

Wenn etwas konstruiert ist, ist es nicht beliebig. Der Text, der analysiert wird, könnte beliebig sein.

A propos Kunst:

Ja, apropos Kunst, wie ich bereits schrieb, empfinde ich eine Separation Kunst/nicht Kunst bei fiktiven Texten allein schon für unsinnig.

willst du die Diskussion oder den Text kritisieren?

Das schrieb ich doch (bitte genauer lesen). Ich sehe wenig Sinn darin, alle differenzierten Kommentare zu wiederholen und habe mir nur den Aspekt herausgegriffen, der mich besonders echauffierte.

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Sam

Beitragvon Sam » 10.11.2009, 17:35

Hallo Flora und Leonie,

Denkst du denn, dass es diese Verantwortung des Autors für seine Worte, oder vermittelten Inhalte (gegenüber dem Leser) nicht gibt?


Die Hauptverantwortung des Autors ist die gegnüber der Sprache. Und bei einem fiktionalen Text, der sich nicht an eine bestimmte Gruppe richtet (Kinder und Jugenbücher oder Texte deren Ziel es ist, den Leser in eine bestimmte Richtung zu "lenken"), beschränkt sich die Verantwortung auch darauf.
Der Autor kann doch nicht absehen, was sein Text in einem ganz spezifischen Leser auslöst. Theoretisch kann auch ein Liebesgedicht einen in Liebeskummer versinkenden Leser in den Selbstmord treiben.

Ich glaube, da wird die Wirkung der Literatur einfach überschätzt. Heutzutage gibt es so viel stärkere Stimulationen, als das geschriebene Wort. Und die wirken u.A. deswegen so viel stärker, weil sie genau darauf angelegt sind.


Warum sollte bei diesem Text nur eine rein ästhetische Auseinandersetzung angebracht sein, warum darf man diesen Text nur unter künstlerischen Aspekten in einem literarischen Zusammenhang betrachten? Auf jeden Fall nicht persönlich und auch nicht 1:1 und schon gar nicht auf seine Aussage hin befragen?
Schaust du dir so auch ein Liebesgedicht an?
Warum sprichst du bei Leonie und mir von einem verharren und nicht bei Max und Albert? Haben sie den Text je anders gelesen?


Ich meinte nicht nur unter künstlerischem Aspekt. Aber gerade dann, wenn einem der Zugang zu einem Text fehlt oder man sich an ihm reibt, ist eine weitere Betrachtungsebene ganz hilfreich.


Ich kann mich an keine Liebesgedicht hier erinnern, bei dem eine strukturelle Ähnlichkeit zu diesem Text vorhanden ist, ansonsten würde mich das wirklich interessieren, wie das gelesen wird.


Ich meinte nur, dass man bei "harmlosen" Texten oder Gedichten gerne auf "Hintergrundinformationen" verzichtet, um einen möglichst großen Assoziationsspielraum zu haben. Bei Texten, in denen es aber um problematische Themen geht, wünscht man sich diesen dann wieder herbei. Das halte ich für inkonsequent.


Zusammenfassend kann ich nur sagen, dass ich in euren Kommentaren zu Lisas Text eine gewisse pädagogische Attitüde zu verspüren meine, die ich auf dem Gebiet der Literatur für fehl am Platze halte.


Liebe Grüße

Sam

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leonie
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Beitragvon leonie » 10.11.2009, 17:59

Lieber Sam,

(o:T: was mich stört, ist, dass Du Flora und mich hier schon mehrfach im Doppelpack benannt hast. Nicht, dass ich etwas gegen Flora habe, gar nicht. Aber ich werde gern als Individuum wahrgenommen und auch so angesprochen. Und dann auch nur auf das, was ich wirklich geschrieben habe).


Das hier ist für mich eine wirklich interessante These, die ich so auch zum ersten Mal höre.

Die Hauptverantwortung des Autors ist die gegnüber der Sprache.



Spontan würde ich sagen: Nein, sie gilt auch dem Inhalt. Aber ich vermute, dass Du dann gegenargumentieren würdest mit der Selbstverantwortung jedes Erwachsenen und das ist natürlich ein starkes Argument.

Ich merke für mich, dass ich ungern Auslöser wäre für z.B. eine Suizidwelle (wie Werther), ich würde meine Texte vermutlich schon im Vorfeld befragen, ob sie diese Wirkung haben könnten und notfalls schweigen.
Vielleicht nehme ich damit anderen Verantwortung ab, denn natürlich kann man das nciht wirklich dem Autor anlasten.
Das ist wieder etwas, über das ich nachdenken muss. Grundsätzlich spüre ich, dass ich lieber ermutigende Texte schreibe oder solche, in denen Menschen sich wiederfinden und verstanden fühlen. Aber das heißt ja nicht, dass andere es genau so machen müssen. Es ist vielleicht eine Frage des "Selbstkonzeptes" und auch des Mutes...

Auf jeden Fall eine spannende Frage.

Das andere habe ich richtig verstanden. Ich finde aber trotzdem interessant, ob jemand ein Liebesgedicht kennt, dass strukturell ähnlich ist. Ich habe noch nicht so einen Text vor Augen, wo ich das Gefühl hätte, das könne man wirklich mit diesem vergleichen, was die Struktur betrifft.


Zusammenfassend kann ich nur sagen, dass ich in euren Kommentaren zu Lisas Text eine gewisse pädagogische Attitüde zu verspüren meine, die ich auf dem Gebiet der Literatur für fehl am Platze halte.


Mir liegt es fern, jemanden erziehen zu wollen. Allenfalls unbequeme Fragen möchte ich stellen dürfen und sagen, wie ein Text bei mir ankommt. Einen Stempel wie "pädagogische Attitüde" lasse ich mir dafür ungern aufdrücken, nimm ihn also ruhig wieder mit, vielleicht findest Du anderswo Verwendung dafür.

Grüßlein

leonie

scarlett

Beitragvon scarlett » 11.11.2009, 08:25

leonie hat geschrieben:
Die Hauptverantwortung des Autors ist die gegnüber der Sprache.



Spontan würde ich sagen: Nein, sie gilt auch dem Inhalt.


Sprache transportiert ja Inhalt.

Und ja, ich meine, wir sind dafür verantwortlich, was die Sprache, die wir verwenden, transportiert. Ein achtsamer Umgang damit ist m M nach oberstes Gebot eines Jeden - und ganz besonders eines jeden Schreibenden.

Natürlich kann man nie sicher sein, wie das, was wir sagen/schreiben, beim Gegenüber letztlich ankommt. Zu welchen Taten oder Untaten oder Gedanken es führen kann. Deshalb ist ein respektvoller und auch sensibler Umgang mit Sprache unverzichtbar. Zumindest für mich. Und ein ständiges Wenden und Abklopfen der Wörter hin auf ihre möglichen Wirkungen.

scarlett

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 11.11.2009, 08:35

Hallo Sam,

Ich glaube, da wird die Wirkung der Literatur einfach überschätzt. Heutzutage gibt es so viel stärkere Stimulationen, als das geschriebene Wort.

Für mich persönlich kann ich nur sagen, dass das so nicht zutrifft. Vielleicht unterschätzt du auch die Macht der Worte und der eigenen Phantasie.

Zusammenfassend kann ich nur sagen, dass ich in euren Kommentaren zu Lisas Text eine gewisse pädagogische Attitüde zu verspüren meine, die ich auf dem Gebiet der Literatur für fehl am Platze halte.

Ich denke Literatur ist keine heilige Kuh, man darf sich mit ihr auf alle erdenkliche Weisen auseinandersetzen.
Lisa zu erziehen, nehme ich allerdings nicht als meine Aufgabe wahr. ;-)

liebe Grüße
Flora

Sam

Beitragvon Sam » 12.11.2009, 17:58

Hallo Leonie,

(zum OT: Entschuldige bitte, ich wollte euch nicht in einen Topf werfen. Aber eine gewisse gemeinsame Linie in euren Stellungnahmen glaube ich zu erkennen und deswegen habe ich das zusammengefasst.)

Das hier ist für mich eine wirklich interessante These, die ich so auch zum ersten Mal höre.

Zitat:
Die Hauptverantwortung des Autors ist die gegnüber der Sprache.



Spontan würde ich sagen: Nein, sie gilt auch dem Inhalt. Aber ich vermute, dass Du dann gegenargumentieren würdest mit der Selbstverantwortung jedes Erwachsenen und das ist natürlich ein starkes Argument.


Stimmt, würde ich. Wie schon gesagt, ich beziehe mich auf ideologiefreie Texte, die an keinen spezifischen Leserkreis gerichtet sind.



Ich merke für mich, dass ich ungern Auslöser wäre für z.B. eine Suizidwelle (wie Werther),

Soetwas wie beim Werther ist heute doch ziemlich unwahrscheinlich. Allerdings kann ein Autor im Vornherein ja nie wissen, inwieweit sein Text den Nerv nicht nur einiger, sondern einer ganzen Masse von Lesern berührt und sie dann so oder so handeln.


Grundsätzlich spüre ich, dass ich lieber ermutigende Texte schreibe oder solche, in denen Menschen sich wiederfinden und verstanden fühlen. Aber das heißt ja nicht, dass andere es genau so machen müssen. Es ist vielleicht eine Frage des "Selbstkonzeptes" und auch des Mutes...


Ich denke, auch in Lisas Text kann sich jemand wiederfinden und auch verstanden fühlen. Grundsätzlich haben aber ermutigende Texte die gleiche Berechtigung wie verstörende.
Du hast Recht, es ist eine Frage das Selbstkonzeptes. Im Grunde schreibt doch jeder für sich selbst. Literatur ist immer eine Auseinandersetzung des Schreibenden mit der Welt. Ein Leser kommt da doch erst im zweiten Schritt ins Blickfeld. Vielleicht ist es ein Problem der Forenschreiberei, die ja immer mit einem direkten Feedback des Lesenden verbunden ist, dass man meint, auf den Leser Rücksicht nehmen zu müssen, bzw. für einen Leser zu schreiben. Diese Rücksicht ist meines Erachtens nur bei den handwerklichen Aspekten des Schreibens angebracht, nicht bei den thematischen oder inhaltlichen.



Mir liegt es fern, jemanden erziehen zu wollen.


Oh, das meinte ich mit pädagogischer Attitüde überhaupt nicht. Sondern die Erwartungshaltung an einen Text, dass dieser letztendlich "erzieherisch wertvoll" oder positiv sein müsste.


Hallo scarlett,

du sprichst vom achtsamen, sensiblen und respektvollen Umgang mit der Sprache. Ich stimme dir zu. Aber die Sprache selbst muss nicht immer achtsam, sensibel und respektvoll sein. Manche Themen lassen das nicht zu. Und in solchen Fällen denke ich, dass ein sensibler Umgang mit der Sprache heißt, sie nicht einzusperren oder ihr Zügel anzulegen, nur um den Leser zu schonen.


Hallo Flora,


Vielleicht unterschätzt du auch die Macht der Worte und der eigenen Phantasie.


Bei mir selber eigentlich nicht. Aber bei der Allgemeinheit schon. Also nicht bei Menschen, die sowieso dem Wort verfallen sind, wie z.B. hier die User im Salon. Aber es wurden ja z.T. in den Kommentaren hier (oder auch damals in dem Faden meines Beichte-Gedichtes), die Extremfälle vorgeführt, von Nifl z.B. Und da glaube ich eben, dass es weit größere Stimulanzien gibt, als so ein kleiner Text.


Lisa zu erziehen, nehme ich allerdings nicht als meine Aufgabe wahr.


Wie ich schon zu Leonie sagte: Ich meinte nicht, dass du oder Leonie erziehen wollten, sondern dass ihr eine gewisse "erzieherische" Erwartung an Texte habt.


Liebe Grüße

Sam

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 13.11.2009, 15:50

Hallo Sam,

mich würde interessieren, ob du in dieser Aussage von Lisa dann auch eine pädagogische Attitüde siehst:
Lisa hat geschrieben:Der Text möchte anders Hilfe leisten, indem er auf die Verlorenheit, die Ausweglosigkeit hindeutet, zeigt, dass es, behandeln sich Menschen auf eine bestimmte Weise bzw. stellen sie bestimmte kulturelle Mechanismen auf oder entwicklen bestimmte Wünsche, dass dann nichts mehr bleibt. Für mich ist das ein wichtiger Hinweis, eine wichtige Botschaft, dass es diese grausamen hoffnungslosen Konsequenz gibt, ohne dass noch ein Ausweg da ist.


liebe Grüße
Flora

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 13.11.2009, 16:18

Liebe Flora, lieber Sam

Wenn ich mich einmischen darf:

Das ist eine uralte Debatte besonders der dt-sprachigen, vielleicht auch anglo- Literatur. Von Anfang an, etwa ab Lessing bewusst, ging es gegen die Sinnes-Wollust-Schauer und Horrorstücke - im wesentlichen gegen ital-frz. Pantalonnaden, für ein aufbauendes Theater ... in der Kürze überspringe ich Gottsched & Bodmer.

Der Bildungsroman, die historizierenden Balladen, die Erkenntnis und weltanschaulich verankerte Poesie sollte das Schöne und Erhabene fördern. Ich glaube, diesen Aspekt meinte vielleicht Sam.

Romantik, Naturalismus und diverse Strömungen des 20. Jhs haben diese Erbaungs-Lit. und Poesie angegriffen, u.a. mit dem Anspruch, dass die nackte (evtl. gräßliche) Wahrheit Teil der lit. Aussage sein dürfte.

Hilfe, wie Lisa das - glaube ich zu verstehen - meint, ist, dass der Mensch sich getröstet fühlt wenn Leid, Schrecken, Zerstörung, Tod, etc. sich ausdrücken können, und die Teilhabe am Leid innere Anteilnahme verschafft.

liebe Grüße aus Paris, aus dem Quartier Latin

Renée

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noel
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Beitragvon noel » 14.11.2009, 12:13

welch wellenschlag.
dieser text ist stark!
er bewegt, erregt,
ist hArt, bedient bilder, die einen würgen

ich finde ihn gelungen
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

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leonie
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Beitragvon leonie » 14.11.2009, 15:56

Lieber Sam,

"erziehrische Erwartung" trifft es, was mich betrifft, überhaupt nicht.

Liebe Renée,

Hilfe, wie Lisa das - glaube ich zu verstehen - meint, ist, dass der Mensch sich getröstet fühlt wenn Leid, Schrecken, Zerstörung, Tod, etc. sich ausdrücken können, und die Teilhabe am Leid innere Anteilnahme verschafft.


das hier würde ich sofort unterschreiben. Es ist dann eher die Frage, ob man dem Text bestätigen kann, dass er das leistet. Ich kann das nicht erkennen, sehe aber, dass andere es anders sehen.

Ebenso nehme ich erstaunt zur Kenntnis, dass Du, noel, einen Text dessen Bilder dich "würgen" zugleich als gelungen empfindest. Denn ich denke, wenn ich Dich würgen würde, würdest Du Dich mit Recht dagegen wehren.
Ich ahne natürlich, was Du meinst. Für mich drückt das das Dilemma des Textes gut aus. Und erklärt vielleicht auch manche Reaktionen.

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon noel » 14.11.2009, 16:00

leonie hat geschrieben:Lieber Sam,

"erziehrische Erwartung" trifft es, was mich betrifft, überhaupt nicht.

Liebe Renée,

Hilfe, wie Lisa das - glaube ich zu verstehen - meint, ist, dass der Mensch sich getröstet fühlt wenn Leid, Schrecken, Zerstörung, Tod, etc. sich ausdrücken können, und die Teilhabe am Leid innere Anteilnahme verschafft.


das hier würde ich sofort unterschreiben. Es ist dann eher die Frage, ob man dem Text bestätigen kann, dass er das leistet. Ich kann das nicht erkennen, sehe aber, dass andere es anders sehen.

Ebenso nehme ich erstaunt zur Kenntnis, dass Du, noel, einen Text dessen Bilder dich "würgen" zugleich als gelungen empfindest. Denn ich denke, wenn ich Dich würgen würde, würdest Du Dich mit Recht dagegen wehren.
Ich ahne natürlich, was Du meinst. Für mich drückt das das Dilemma des Textes gut aus. Und erklärt vielleicht auch manche Reaktionen.

Liebe Grüße

leonie


nun ich kann nicht ermessen, was du ahnst.
aber ich kann sagen, dass wir täglich durch gazetten, internet etc. überflutet werden mit HORROR, aber das kommt so gewöhnlich einher, dass wir abstumpfen & konsumieren
DIESER TEXT, stumpft nicht ab, er zeigt an & auf

derenhalben BRAVO
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

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Beitragvon leonie » 14.11.2009, 16:04

Liebe noel,

meine Ahnung war: Du empfindest ihn als aufrüttelnd in einer Weise, die Du bereit bist, Dir gefallen zu lassen, weil sie etwas in Dir bewegt.

Liebe Grüße

leonie


Mich würgt in der Tat etwas, wenn ich ihn lese...(aber das habe ich ja schon ausreichend dargestellt).


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