Brot

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 18.12.2009, 15:11

Brot


Spangenbachs kürzlich erschienener Aufsatz über die in manchen katholischen Sekten praktizierte Brotbuße, wurde nur am Rande zur Kenntnis genommen, was sehr bedauerlich ist. Aber verständlich, da er niemandem wirklich Angst gemacht hat.


Ein junger Mann betritt einen Supermarkt, geht zielstrebig in Richtung der Backwaren und nimmt sich ein Brot aus dem Regal. Er trägt Jeans und einen Kapuzenpulli, sauber, ordentlich, nicht zu groß. Sein Gesicht ist von der Pubertät ein wenig hergenommen, die Augen glanzlos, der Mund schmal. Auffällig sind seine gepflegten Hände, die langen Finger, die fast kreisrunden Nägel. Man kann sie deutlich sehen, als er das Brot umfasst, ein großes Stück aus dem Laib herausreißt und sich in den Mund schiebt. Doch statt zu kauen, schluckt er. Er bricht ein weiteres Stück und stopft nach. Schluckt erneut. Beim dritten Brocken beginnt er zu würgen, schiebt aber noch einen vierten hinterher. Jetzt gerät sein ganzer Körper in Bewegung, verkrampft sich in dem Bemühen, den Brechreiz zu unterdrücken. Noch ein letztes Stück, er presst es auf den Mund, als wolle er ihn damit endgültig verstopfen. Einen eigenartigen Tanz vollführt er, einen Brottanz, einen Erstickungstanz, sein Körper wehrt sich, will kein Brot mehr, will nur Luft.


„Unterernährt? Nein, nicht unterernährt, so was wäre bestimmt schon längst aufgefallen. Wobei manche der Jugendlichen in diesem Alter so aussehen, als hätte man sie gerade aus dem KZ – Sie verstehen...
Sicher, er war sehr leicht und dünn für sein Alter, aber keiner der Tests zeigte irgendwelche Mangelerscheinungen. Im Grunde war er sogar über dem Durchschnitt. Also wenn man diejenigen in Betracht zieht, die so jeden Tag Fastfood essen oder daheim nur Raviolidosen aufgeschraubt bekommen, da war er richtig gut drauf – zumindest blutwertechnisch.“



Eine Angestellte des Supermarktes, schon etwas älter und recht korpulent - Sie wissen schon, die morgens meistens das Gemüse und den Salat aufstapelt, immer mit einem etwas fleckigen Kittel, die Haare oftmals fettig oder unordentlich, wenn die einen Salatkopf ganz oben auf die Kiste legt, nehmen Sie immer den, der darunter liegt - läuft zu dem jungen Mann und versucht ihm die Hände vom Mund wegzudrücken. Der wehrt sich. Erst als ihn die Kräfte verlassen, gibt er nach. Der Körper erschlafft und kann den Hals nicht mehr freiwürgen.


„Ich glaub, der wäre gerne cool gewesen. Aber irgendwie hatte er immer so einen Stock im Arsch. So Typen gibt’s halt. Stehen meist alleine rum, und wenn man dann mal auf sie zugeht, weichen sie gleich zwei Schritt zurück. Kommen sie aber von selber, dann sind sie furchtbar ungeschickt und verkrampft. Das funktioniert einfach nicht. Nein, ich glaub, der wäre irgendwie gerne cool gewesen und hätte es vielleicht auch sein können, wenn da nicht dieses religiöse Dingens gewesen wäre. Ob er das toll fand, weiß ich ja nicht, aber seine Eltern werden es halt gewollt haben. Zum Rebellen hat ihm offenbar der Mumm gefehlt. Zumindest war da nicht viel drin mit locker sein, Disco, Tanzen, Spaß haben. Aber vielleicht wollte er ja so ein Freak sein. Ist mir eigentlich auch egal. Und was hat der nun gestohlen? Ein Brot? Und deswegen der ganze Aufriss?“


„Ganz normaler Junge. Absolut unauffällig. Höchstens ein wenig nachdenklich, aber auch nicht wirklich. Sporadisch apathisch, aber wer von den Jugendlichen ist das nicht? Ich arbeite nun wirklich schon lange genug mit den Kids, um zu wissen, dass die ab und an mal ausschalten. Verarbeitungsphase nenne ich das. Der Eine verprügelt dann seinen Tischnachbarn. Und der Andere, der starrt einfach Löcher in die Luft.“


Spangenbach konzentriert sich zunächst auf die symbolische Bedeutung des Brotes in den religiösen Schriften des Christentums, vornehmlich der Bibel. Er führt aus, dass die erste Erwähnung von Brot nach dem Sündenfall erfolgte, im Zuge der Strafverlesung: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen.“ Danach aber stellte es vor allem eine göttliche Segensbekundung dar. Manna z.B., das Brot vom Himmel, auf das sich Christus später bezog, wenn er sich als solches bezeichnete, von dem man essen müsse, um ins Himmelreich zu gelangen. Und so weiter. Spangenbach holt weit aus, natürlich immer im gewohnt süffisanten Ton, der stets den aufgeklärten Atheisten durchscheinen lässt.


Der Vater erfährt von dem Vorfall, als sein Sohn schon im Krankenhaus ist. Durch eine Mail seiner Sekretärin, weil er sich für den ganzen Tag sämtliche Störungen verbeten hat. „Die“, hatte er gleich am Morgen gesagt und auf die dicke Tür gezeigt, welche sein Büro von dem Vorzimmer trennte, „wird heute nur noch von Innen geöffnet.“
Die Sekretärin verschwand mit einem Knurren und er ging hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Die Lehne eines sündhaft teuren Bürostuhls im Rücken zu fühlen, das gefiel ihm schon immer. Heute aber spürt er nichts. Nur ein Ziehen aus unbestimmter Richtung. Er hat in seinem Leben schon so oft über Prüfungen geredet, dass sie ihm völlig fremd geworden sind. Ihnen direkt gegenüber zu stehen, war etwas ganz anderes. Er war ein Theoretiker des Glaubens, das Praktische aber hatte viele Tücken. Es gab zweierlei Schmerzen, das wusste er. Den Schmerz der Versuchung und den Schmerz der Konsequenz. Die Konsequenz – vor allem bei seinem Sohn. Das war notwendig. Weil es in sich richtig ist, einen Weg konsequent zu gehen, sei er nun wahr oder falsch. In der Konsequenz erkennt Gott die Stärke.
In der Versuchung jedoch war er stets alleine, ihr Schmerz war nur sein Schmerz. Und wem sollte er sagen, dass er schon lange nicht mehr betete?
Die Mail lautet: Anruf Ihrer Frau. Ihr Sohn ist im Krankenhaus. Bitte zurückrufen.
Er ruft zurück, und zwei Stunden später kommt er in die Klinik.


„Wir waren zwei Monate zusammen, aber nicht wirklich. Wir haben uns ein paar Mal nach der Schule getroffen. Sind mal ins Kino oder in die Stadt gefahren. Er mochte Bücher, davon hat er viel geredet. Im Park haben wir heimlich geraucht, obwohl er ziemliche Angst hatte, dass seine Eltern das heraus bekommen. Einmal haben wir sogar geknutscht, aber da war er so was von wild, dass ich dachte, er vergewaltigt mich gleich. Dann hab ich Schluss gemacht.
Über Religion? Nee, über Religion haben wir nicht gesprochen, wieso?“



„Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber wenn man etwas Besonderes ist, dann haben viele Dinge, die als Normal gelten, eine andere Wertigkeit. Und mit etwas Besonderem, meine ich einen wirklich gläubigen Menschen. Gläubig in einer Form, wie man sie heute eigentlich nur noch unter diesen Moslems findet, zu unserer Schande. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen. Wie dieser Junge und seine Familie. Echte Christen. Bemüht in jedem Aspekt des Lebens dem Glauben Ausdruck zu verleihen. Nicht nur da, wo es leicht ist, sondern auch da, wo es weh tut. Aber notwendig ist. Wenn es weh tut, dann ist es immer notwendig, sonst ließe sich das ganze Konzept ja nicht mit der allumfassenden Liebe vereinbaren, die mit dem Gottesbegriff verbunden ist.“


Die Mutter sitzt auf der Couch und liest, als das Telefon klingelt. Peer Gynt. Sie hasst diesen Klingelton, weil er etwas Schönes entstellt. Aber sie hat sich daran gewöhnt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt angespannt. Schon nach den ersten Worten weiß die Mutter, dass etwas passiert ist. Zu umfassend ist ihre Kenntnis von Spannungszuständen. Und wenn sie Schlimmes erwartet, dann immer das Schlimmste: Irgendeinen Tod. Durch die Leitung hört sie „Ihr Sohn...“ und sieht nur noch Schreckensbilder und Blut. Sie rutsch vom Sofa, kniet auf dem Teppich, beugt den Rücken. Mehr Demut geht nicht. Der Herr hat’s gegeben...
Dabei sitzt der Junge so fest in ihrer Brust, wird zum Schmerz, sobald sie sich ihn wegdenkt. Oder unglücklich. Oder unter Strafe.
Wenn es dein Wille ist, dann lass diesen Becher...
Die Stimme im Telefon hat zu Ende geredet und eine eigentümliche Erleichterung macht sich in der Mutter breit. Eine Erleichterung, die man verspürt, wenn dem Schmerz seine Vollkommenheit verloren geht.
Das Telefon noch immer in der Hand, setzt sie sich wieder auf die Couch und versucht, ihren Mann zu erreichen.


„Richtige Freunde waren wir nicht. Wir haben in der Schule nebeneinander gesessen. Ab und zu trafen wir uns am Nachmittag. Manchmal zum Lernen, manchmal einfach um ein bisschen abzuhängen. Aber nur bis um sechs, dann musste er nach Hause. Abends durfte er so gut wie nie weg. Auch am Wochenende nicht. Er wollte Tierarzt werden, oder Dichter. Von zu Hause hat er selten geredet, aber wenn, dann hatte ich das Gefühl, dass er Angst vor irgendetwas hatte. Ja, von Strafen erzählte er auch, aber immer so komische Sachen, wo ich mir dachte, das sind doch keine wirklichen Strafen. Bestimmte Bücher lesen, einen Tag nichts sagen und so was. Ums Essen ging es da aber nie.“


Spangenbach schreibt:
„Die Brotbuße ist eine symbolische Strafe. Brot als Zeichen der Gunst. Unser täglich Brot gib uns heute. Wem man das Brot entzieht, dem entzieht man den Segen Gottes. Die psychologische Wirkung ist tiefgreifend. Es handelt sich um eine Vorstufe der Exkommunikation. Der Sünder bekommt für eine gewisse Zeit kein Brot und darf auch nicht in Gemeinschaft essen. Eigentlich eine zeitgemäße Strafe, denn sie kommt ohne Prügel aus. Niemand stirbt, wenn er mal für eine Weile kein Brot ist.“


„Sehen Sie, wir haben genug Fälle, in denen wir tatsächlich einschreiten müssen, weil den Jugendlichen Gefahr droht. Das sind dann aber konkrete Dinge. Körperverletzung, Missbrauch, grobe Vernachlässigung und solche Sachen. Und oft genug kommen wir nicht rechtzeitig. Was dann passiert, wissen Sie. Wenn wir da noch jedem hinterherlaufen würden, der seine Kinder mit steinzeitlichen Glaubensvorstellungen großzieht, dann hätten wir viel zu tun. Allein bei den vielen Ausländern. Wie? Gut, in diesem Fall waren es keine Ausländer. Von mir aus auch was christliches, ist doch egal. Es gab nie irgendwelche Hinweise darauf, dass der Junge gefährdet sei. Und bei dem Elternhaus, ich meine, der Vater ist Verkaufsleiter bei einer nicht unbekannten Firma, verdient nicht schlecht, die Mutter ist nur Hausfrau, d.h. ständig zu Hause, um das Kind zu versorgen. Das sind Traumvoraussetzungen. Ich würde mir wünschen, alle Eltern wären so. Da könnten die religiös gerne ein wenig überzogen sein. Aber ansonsten ist das doch optimal.“


Kann es sein, fragt am nächsten Tag eine Tageszeitung, dass sich ein junger Mensch umbringen möchte, indem er sich solange den Hals mit Brot vollstopft, bis er erstickt?


Einer seiner Klassenkameraden bemerkt:
„Wer weiß, vielleicht hatte er einfach nur Hunger.“

Einige Tippfehler beseitigt - Merci Renée
Zuletzt geändert von Sam am 20.12.2009, 11:58, insgesamt 1-mal geändert.

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 18.12.2009, 15:48

Fesselnd, toll geschrieben. Vielleicht etwas zu plötzlich zu Ende.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 18.12.2009, 18:04

Lieber Sam,

bestimmt ist es nicht so, aber ich kann nicht umhin, einen Zusammenhang zwischen deinem Selbstmord durch Brot-Würgen (einem jungen Mann aus guter Familie) und meinem Albator-Waisenkind zu sehen. So als Lektion "wie man es machen könnte ...

Ich genieße deine Erzählkunst, den souveränen Umgang mit Erzählperspektiven ... Die Kohärenz der unterschiedlichen Stimmen ... die Sprache ...

Tippfehler:

niemandeM Angst machen? (Anfang)
star(r)t Löcher in die Luft

blutwert(t)echnisch

sagt man jetzt : der ganze Aufriss??? aha ....

bewundernde :daumen: (und neidische :sad3: ) Grüße
Renée

Herby

Beitragvon Herby » 18.12.2009, 19:39

Hallo Sam,

eine für den Moment nur kurze Zwischenmeldung: eine komplexe Thematik, wie ich finde meisterhaft erzählt. Besonders der letzte Satz deines Textes hallt lange nach. Danke für ein Leseerlebnis der ganz besonderen Art. :hut0039:

Lieben Gruß
Herby

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.12.2009, 19:49

Hallo Sam,

deine Story lässt mich seltsam unberührt. Ich kann noch nicht genau sagen, woran es liegt. Vielleicht durch die nüchterne Erzählart, die verschiedenen Stimmen, die in meinen Augen vielen, enthaltenen Klischees, die du ja auch als Klischees im Text darstellst. Bei mir entsteht eine Art von Abwehrhaltung (also doch eine Art von "Berührung", aber eine negative), da du so schreibst, als ob man über einen Amokläufer spricht und hinterher versucht herauszufinden, was für ein Typ Mensch es war, was ihn dazu getrieben hat.
Klar, der Junge hatte Hunger. Hunger nach Freiheit vom Eingeengtsein des Vaters und Hunger im wahrsten Sinne es Wortes, einen solchen Hunger, dass er bereits war, dafür draufzugehen, nur um einmal satt zu werden, dem Vater zu trotzen. Ich muss die Story wohl später noch mal lesen, aber dem überschwänglichen Lob meiner Vorschreiber kann ich mich nicht anschließen.

Saludos
Mucki

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 19.12.2009, 19:44

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 18:20, insgesamt 1-mal geändert.

Yorick

Beitragvon Yorick » 19.12.2009, 21:10

Hallo Sam,

mir geht es ähnlich wie Gabriella.

Mir kommt der Text abgezirkelt vor, sauber entworfen, kopflastig. Also etwas zum Denken. Ist ja in Ordnung. Aber was?

Einige Menschen melden sich zu Wort (ja, als wären es Stimmen zu dem "netten jungen Mann, der Amok lief") und geben ihre allgemeinen Ansichten und üblichen Meinungen zu Protokoll. Das Übliche eben. Das übliche nicht-wahrnehmen, das übliche bornierte Gerde, eben alles das übliche. Wohin zeigt das nun? Worauf will der Text hinweisen? Hunger nach Liebe und Anerkennung? Dann wäre m.M. nach der "interlektuelle Aufbau" nicht so hilfreich. Als (wie nennen es die Medien immer) "Psychogramm" ist es zu oberflächlich. Mh. Für mich versinkt der Text im Nebel, weder mein Gefühl leitet mich noch mein Geist.

Nein, ich bin einfach ratlos. Ich habe keine Ahnung, wohin die Reise gehen soll. Soll es überhaupt eine Reise sein?
Vielleicht habe ich auch einfach nix verstanden. Scheint ja so :)


Nur eine Meinung,
viele Grüße,
Yorick.

Sam

Beitragvon Sam » 20.12.2009, 11:56

Hallo Ihr Lieben,

herzlichen Dank für eure Kommentare, für Lob und Kritik!


Zakkinen,

zu schnell zu Ende? Wäre er länger, müsste er auch wohl mehr in die Tiefe gehen. Das war aber nicht meine Absicht. Ich sehe den Text als eine Art Folie, mit wenigen, bewusst eindimensional gehalten Bildern. Abbild von öffentlicher Wahrnehmung eines Ereignisses.


Renée,

Danke für die Korrekturen, werde das gleich ändern. Welche deiner Geschichten war das mit dem Albator-Waisenkind? Sie ist mir im Moment nicht gegenwärtig.

sagt man jetzt : der ganze Aufriss??? aha ....

Ob man das so sagt, weiß ich nicht. Aber einige sagen es so.


Herby,

Dank dir für das "meisterhaft". Wenn es ein Erlebnis für dich war, den Text zu lesen, freut mich das sehr.


Mucki,

deine Kritik, so wie auch Yoricks, der ja ähnliches bemerkt hat, ist für mich sehr interessant. Zu erwarten, dass jeder Leser von einem Text "berührt" wird, wäre ja sehr vermessen.
Was du als Klischees bezeichnet, sehe ich als Reaktionsmuster, die ja das Grundgerüst des Textes bilden. Klischees wären es für mich dann, wenn sie einen exemplarischen Charakter hätten, die, in einem erzählten Text verbunden, eine ganz bestimmte Rezeption provozieren sollen. So aber stehen sie nebeneinander, als voneiander unabhängige Wahrnehmungen. Wie soetwas auf einen Leser wirkt, kann man überhaupt nicht wissen, weil man als Autor selber nicht weiß, ob das, was da so gesagt und gezeigt wird richtig oder falsch, wahr oder gelogen ist.
Und dem, was du über den Hunger des Jungen sagst, würde ich dir, so wie ich den Text lese, eher wiedersprechen, wobei ich mich da auch wieder irren kann.


Rosebud,

Danke für deinen ausführlichen Kommentar.

Zu dem Namen Spangenberg muss ich gestehen, dass er nur an einer Stelle Spangenberg heißt, ansonsten Spangenbach. Ich habe den Namen nachgeträglich geändert, nachdem ich entdeckt hatte, dass es tätsichlich einen Pastor mit den Namen Spangenberg gibt, der auch religiöse Bücher veröffentlicht hat. Deswegen die Änderung auf Spangenbach. An einer Stelle hab ich übersehen, ihn zu ändern (was ich aber gleich nachholen werde).

Deine Interpertation des Textes ist sehr spannend und in vielen Dingen kann ich mitgehen. Einzig die Beschreibung der Mutter sehe ich ein bisschen anders. In der Beschreibung erkenne ich weniger Bigotterie, als eine Gespaltenheit und Verfangenheit in bestimmten Denk- und Gefühlsmustern. Wobei Gefühlsarmut, auch Gefühlsreichtum sein kann, der aber völlig einseitig und unausgeglichen ist, eingebunden in nur einen Bereich des Lebens, ohne die Möglichkeit sich auf andere Bereiche auszudehnen.

P.S. Die persönliche Ansprache des Lesers ("Sie wissen schon", "nehmen Sie immer den") hat mich irritiert, weil Du das ausschließlich im 4. Absatz machst und dann nicht mehr. Ich würde das weglassen. Es bringt in diesem Text nichts Zusätzliches. Du hast den Leser ohnehin vom ersten Satz an voll am Haken.

Gut möglich, dass man es weglassen könnte. Es ist eine Variationsform der erzählenden (nichtkursiven) Passagen, die ja nicht unbedingt von ein und dem selben Erzähler stammen müssen. Außerdem ist es der Versuch des Erzählers, den Leser mit sich gemein zu machen, auf Basis einer oberfächlichen Bewertung einer Person. Das kann (darf, soll) beim Lesen dazu führen, an der Unbefangenheit des Erzählers zu zweifeln.


Yorick,

wie ich schon zu Mucki sagte, ist es völlig normal, dass ein Text unterschiedlich wahrgenommen wird. Mit verstehen hat das glaube nichts zu tun.

Du fragst wohin der Text will, auf was er zeigen möchte. Ganz ehrlich, ich kann es dir nicht sagen. Ich habe da keinerlei Intentionen gehabt beim Schreiben. Man hat ein Thema, eine Sache, die einen beschäftigt. Irgendwie nimmt es dann Formen an, und in diese Form bringt man das Ganze, weil sie einem am passendsten erscheint. In diesem Fall entstand eben dies, keine Geschichte, keine Reflektion mit dem Ziel die Gedanken des Lesers in eine bestimmte Richtung zu bringen, sondern eher ein Spiegel. Wie werden gewisse Vorgänge wahrgenommen und was beeinflusst die Wahrnehmung? Das es dann eine Menge an "Üblichen" gibt, lässt sich nicht vermeiden, denn im Üblichen liegt ja oft das Problem. Ich bilde mir aber ein, eine Konstellation gefunden zu haben, die ein wenig über das Übliche hinausweist. Du und Mucki erwähnen den Amokläufer. Und ja, man könnte mit dieser Grundlage einen ähnlich aufgebauten Text machen. Aber es gibt da einen Unterschied - auch wieder was die eigene und auch die öffentliche Wahrnehmung angeht. Man betrachte nur einmal die unterschiedlichen Reaktionen auf den Amoklauf von Winnenden und dem Selbstmord von Robert Enke.

Mir kommt der Text abgezirkelt vor, sauber entworfen, kopflastig. Also etwas zum Denken.

Kopflastig - wohl schon. Ob es reicht zum Denken anzuregen, weiß ich nicht. Schön wär's. Es ist jedenfalls keine Geschichte, die man einfach so liest, aus Spaß am Lesen. Aber das sollte sie dann auch nicht sein. Ich empfinde Kopflastigkeit bei Texten selten als Makel. Im Gegenteil, mein Lesestoff ist wohl bevorzugt kopflastig. Gut möglich, dass das unwillkürlich auf die eigene Schreiberei abfärbt.


Euch Allen nochmals herzlichen Dank!


Liebe Grüße

Sam

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 20.12.2009, 12:10

Lieber Sam,

mich rührt dieser Text an. Er ist (normal bei dir) stilsicher und sorgfältig erzählt. Ich finde auch das WIE gelungen.
Der Schluss echt super. Der Klassenkamerad hat es erkannt (vielleicht). :-)

Die ganze Klugscheißerei im Nachhinein, wenn mal was passiert ist, bestens eingefangen.

Ich würde ja auch auf die Anrede des Lesers verzichten, wie schon erwähnt wurde.

Mich rührt das persönlich an, vielleicht gefällt es mir deswegen so gut, weil ich jemanden sehr nahe kenne, der an Schizophrenie leidet und es sich lange Zeit ähnlich abspielte rundum.

Sehr gern gelesen,

liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

african queen

Beitragvon african queen » 20.12.2009, 15:11

hallo Sam,
mir gefällt diese " coole " Art, diese aufwühlende Geschichte, da durch diese Erzählweise nicht
der Erzähler den Vorgang nicht wertet, sondern dem Leser überläßt, sich über die Umstände, die
sein könnten, selbst herauszufinden. Ein journalistischer Erzählstil, der mich eingefangen hat.
Ein schwieriges Thema fabelhaft umgesetzt.
lg
african queen

Sam

Beitragvon Sam » 20.12.2009, 16:18

Hallo Elsa,

vielen Dank! Freut mich sehr, dass der Text dir gefällt. Und wenn du Bezugspunkte zu eigenen Erfahrungen finden kannst, zeigt mir das, dass ich nicht ganz ins Leere gegriffen habe.


Hallo african queen,

auch dir herzlichen Dank fürs Lesen und dein postives Feedback!


Liebe Grüße

Sam


OT: Ich vermisse die "Auswahl zitieren" Taste!!!!!!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.12.2009, 17:15

Off Topic
Ich vermisse die "Auswahl zitieren" Taste!!!!!!

Das geht zur Zeit nur mit dem Volleditor. Das Fenster dazu öffnet sich über dem posting.
Dann musst du unter das Fenster in das posting sehen, aus dem du zitieren möchtest, markierst den entsprechenden Teil und klickst auf "zitieren", das ist der Button ganz oben rechts im posting.

Saludos
Mucki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 20.12.2009, 17:22

Hallo Sam,

dieser Text ist interessant und sicher gestaltet, er liest sich auch flüssig, aber ich habe die ganze Zeit über das Gefühl, dass mir hier eine Botschaft untergeschoben werden soll. Dass ich auf eine Art beeinflusst werden soll, die mich misstrauisch macht. Das fängt schon an dem Punkt an, an dem zwar die katholische Kirche / Sekte? benannt wird, aber die Brotbuße Fiktion ist. (Also zumindest habe ich noch nie davon gehört und konnte auch nichts darüber finden.) Das empfinde ich bei so einem Text als ungute Mischung.

Auf emotionaler Ebene erreicht mich der Text nicht, ich bekomme kein Gefühl für die Figuren, bleibe an den ihnen zugeschriebenen Klischees, an ihrer Oberfläche hängen. Die Frage wäre an dem Punkt, ob diese Wiederholung der Wirklichkeit, dieser Umgang mit Menschen den Text tragen kann, ihn unterstützt. Ich glaube an dem Punkt geht es für mich nicht auf, ich empfinde es dann eher als Schwäche des Textes, dass es ihm nicht gelingt in den jeweiligen Abschnitten der Figuren auf ihrer Seite zu sein, etwas von ihnen zu zeigen, sie mir nah zu bringen, sondern immer dieser spöttische Ton bleibt, der Blick auf sie herab. Besonders unangenehm fiel mir das bei der Mutter auf.

Was will der Text? Diese Frage kann ich mir nicht beantworten.

Ich frage mich auch, wozu es diesen religiösen Hintergrund braucht, mitsamt den scheinbar selbstverständlich aus ihm hervortretenden Klischees. Bedient sich der Text da nicht der gleichen Mechanismen, Erwartungen und Vorurteile und läuft er dadurch nicht Gefahr, diese eben zu unterstützen, zu füttern, anstatt ein Ansatz für eine kritische Auseinandersetzung zu sein? Kann man erwarten, dass der Leser dieses Misstrauen gegenüber Geschichten hat, die ihm wie „Nachrichten“ präsentiert werden, dass er sich überhaupt damit auseinandersetzt und nicht nur konsumiert? Und was geschieht, wenn diese Auseinandersetzung nicht stattfindet, was bleibt einem dann vom Lesen?

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Sam

Beitragvon Sam » 20.12.2009, 19:09

Hallo Mucki,

vielen Dank! Im Volleditor habe ich die Zitierfunktion jetzt entdeckt. Aber ich fand das irgendwie so praktisch, wie es vorher war (eben einfach. Für mich ist ein Computer ja eigentlich nur eine Schreibmaschine, die nicht klappert und auch noch gleichzeitig Musik abspielen kann. Sobalds ein wenig komplizierter wird, stehe ich auf dem Schlauch.)


Hallo Flora,

vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar!

Du erwähnst, wie schon Mucki und Yorick das Klischeehafte. Ich habe darüber in meiner Antwort an die Beiden schon etwas geschrieben. Wobei ich mich schon frage, was ihr mit Klischees nun wirklich meint. Dass der Vater in eigentlich gar nicht mher glaubt? Dass der Junge schüchtern und zurückhaltend ist? Dass er offensichtlich an cder kurzen Leine gehalten wird? Dass seine wahren Probleme von der Umwelt nicht wirklich wahr genommen wurden?
Ich glaube nämlich, dass die Einteilung in Klischee schon eine Art von Wertung bedeutet, die man als Leser vornimmt und man dadurch schon näher an den Text herankommt, als man es sich eigentlich bewusst ist.

Du schreibst:
ich habe die ganze Zeit über das Gefühl, dass mir hier eine Botschaft untergeschoben werden soll. Dass ich auf eine Art beeinflusst werden soll, die mich misstrauisch macht. Das fängt schon an dem Punkt an, an dem zwar die katholische Kirche / Sekte? benannt wird, aber die Brotbuße Fiktion ist. (Also zumindest habe ich noch nie davon gehört und konnte auch nichts darüber finden.) Das empfinde ich bei so einem Text als ungute Mischung.

Da kann ich dich schon mal beruhigen. Eine Botschaft habe ich nicht und beeinflussen möchte ich niemanden. Ich glaube, Suggestivität liegt außerhalb meines literarischen Vermögens. Aber natürlich akzeptiere ich, dass du es so empfindest. Der Text soll niemanden misstrauisch machen. er zeigt höchstens, dass ich misstrauisch bin. Auch wenn er daherkommt, wie ein Bericht, so sind es doch diese Dinge, wie die erwähnung einer katholischen Sekte in Verbindung mit einer nichtexistierenden Bußform, die erkennen lassen, dass es sich hier um ein Konstrukt handelt.
Die Vermischung von Fakten und Realität ist ein eigentlich altes und gebräuchliches Stilmittel in der Literatur. Manchmal ist es einfach nur vergnüglich und intellektuell sehr anregend, manchmal ist es aber auch ein Mittel Distanz zu schaffen.

ich empfinde es dann eher als Schwäche des Textes, dass es ihm nicht gelingt in den jeweiligen Abschnitten der Figuren auf ihrer Seite zu sein, etwas von ihnen zu zeigen, sie mir nah zu bringen, sondern immer dieser spöttische Ton bleibt, der Blick auf sie herab. Besonders unangenehm fiel mir das bei der Mutter auf.


Darum ging es mir in dem Text nicht. Das wäre auf diese kurze Strecke auch gar nicht möglich. Man darf nicht vergessen, dass man einem Erzähler, auch wenn es scheint, er wisse alles, niemals trauen kann. Auch er ist voreingenommen, auch er kann mit spöttischem Blick auf seine Figuren blicken, kann mit befangenem Blick alles betrachten. Es ist eben kein Psychogram, wie es Yorick erwähnte, kein Ausloten von allen Seiten, um einer Sache auf den Grund zu kommen. Wenn, dann ist es ein Spiegel dafür, wie Meinungsbildung entstehen kann und wie schwierig das eigentlich ist.

Ich frage mich auch, wozu es diesen religiösen Hintergrund braucht, mitsamt den scheinbar selbstverständlich aus ihm hervortretenden Klischees. Bedient sich der Text da nicht der gleichen Mechanismen, Erwartungen und Vorurteile und läuft er dadurch nicht Gefahr, diese eben zu unterstützen, zu füttern, anstatt ein Ansatz für eine kritische Auseinandersetzung zu sein?

Gegenfrage: Wie sollte er denn ohne den religiösen Hintergrund aussehen? Einen Hintergrund gibt es immer. Manchmal wird er erkannt, oftmals nicht, nicht selten wird er entstellt, je nach Situation und Kondition des Betrachters.
Der Text bedient sich keiner Menchnismen, weil er leine Intentionen hat und niemanden beeinflussen will. Im besten Fall zeigt er Mechanismen. Aber durch die ganze Anlage und Gestaltung des Textes (unter anderem die von dir angeführten Kritikpunkte) wird doch deutlich, dass man dem Gesagten nicht trauen kann.

Kann man erwarten, dass der Leser dieses Misstrauen gegenüber Geschichten hat, die ihm wie „Nachrichten“ präsentiert werden, dass er sich überhaupt damit auseinandersetzt und nicht nur konsumiert?

Dieses Thema hatten wir schon Anderorts. Ich bin doch nicht der Herbergsvater meiner Leser. Grundsätzlich erwarte ich von jedem, der sich mit Literatur beschäftigt so viel geistige Beweglichkeit, dass er einen Text immer nur als Möglichkeit der Auseinandersetzung mit einem Thema versteht, aber nicht als 1:1 übernehmbare Realität, die fortan seine Meinungsbildung beeinflusst. Und sollte es bei jemandem dennoch so sein, dann wird ihn schon der nächste Wind, der durch seinen Köpfchen weht, wieder in eine andere Richtung blasen.


Liebe Grüße

Sam


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