Das Bild
Verfasst: 24.01.2010, 16:24
Das Bild
Kurz nach dem Tod meiner Mutter verbrachte ich einige Wochen bei meinem Großvater, da mein Vater beruflich ins Ausland verreiste. Mein älterer Bruder war in dieser Zeit bei der Schwester meines Vaters. Gerne wäre ich auch dort gewesen, aber meine Tante hatte selbst vier Kinder, und so war nur noch Platz für einen von uns. Mein Vater entschied daher, dass ich bei meinem Großvater bleiben sollte.
Großvater war ein gutaussehender, stolzer Mann. Er redete nicht viel, und ich habe ihn, glaube ich, niemals lachen gesehen. Als Kind dachte ich, er sei deswegen so ruppig und unfreundlich, weil meine Großmutter kurz vor meiner Geburt gestorben war und er noch immer traurig sei. Ansonsten aber kam er mir völlig normal vor. Ich kannte ja nur diesen Großvater (der andere war im Krieg gefallen). Vor ihm Angst zu haben, schien mir ganz natürlich, und ich wäre verwundert gewesen, von Kindern zu erfahren, die ihren Großvater nicht fürchteten.
Ich war vorher noch nie in der Wohnung meines Großvaters gewesen. Zwar hatte er uns des Öfteren besucht, aber, aus mir unbekannten Gründen, wollte er nie, dass wir zu ihm nach Hause kämen. Manchmal, wenn mein Bruder und ich schon im Bett lagen und unsere Eltern dachten, wir schiefen längst, konnten wir hören, wie sich Vater darüber beschwerte, wie abweisend und uninteressiert Großvater seiner Familie gegenüber sei.
Als mein Vater mich zu ihm brachte, stand ich zunächst in einem kleinen Flur, während die beiden Erwachsenen vor der Wohnungstür etwas besprachen. Dann kam Großvater herein und sagte, ich solle meinen Koffer ins Schlafzimmer stellen. Er wäre nebenan und hätte noch zu tun. Wenn ich wollte, könnte ich mich auf das Bett legen und schlafen.
Das Schlafzimmer war klein und düster. Ich stellte meinen Koffer ab und sah mich um. Ein großes Bett, ein Schrank, eine Kommode. Ansonsten befand sich nichts in dem Raum. Nur ein Bild, das über dem Bett hing, etwa achtzig Zentimeter lang und vierzig Zentimeter hoch, in einem elfenbeinfarbenen Rahmen mit einer kleinen Goldverzierung am inneren Rand.
Ich setzte mich auf das Bett und betrachtete das Bild. Es war die Schwarzweißzeichnung einer Waldlandschaft. Birken, Buchen Eschen - gerade gewachsene Bäume mit viel Laub. Zwischendrin ein Bach, der in einem Bett aus Geröll durchs Bild plätscherte.
Und dann passierte es. Während ich auf die klaren, gläsernen Grautöne des Wassers schaute, wurden diese allmählich grün. Ebenso begannen die Stämme der Bäume bräunlich zu schimmern, der blendend weiße Lichteinfall der Sonne durch das Geäst bekam einen goldenen Schimmer, der glattgraue Himmel jedoch eine Ahnung von Blau. Auch der Waldboden, bedeckt mit Moos und moderndem Laub, erschlich sich eine rötlich-braune Färbung, und nach einer Weile konnte ich sogar sehen, wie ein leiser Wind so manches Blatt von hier nach dort wehte.
Ich lief ins Wohnzimmer und rief: Großvater, du hast ein Zauberbild!
Er saß dort in einem Sessel, vor einem selbstgezimmerten Schreibtisch und war versunken in einer Welt aus Postwertzeichen. In sicherem Abstand stellte ich mich hinter seinen Stuhl und wartete auf eine Reaktion. Die bestand zunächst darin, noch einige Momente mit einer winzigen Pinzette Briefmarken in ein Album einzusortieren. Er tat das mit einer solchen Sorgfalt, als gäbe es für jede dieser Marken nur diesen einzigen Platz auf der Welt. Dann drehte er sich um und schaute mich über den Rand seiner Brille an.
Welches Bild? wollte er wissen.
Anstatt zu antworten, ging ich ins Schlafzimmer. An seinem schlurfenden Schritt hörte ich, dass er mir folgte. Ich stellte mich neben das Bett. Das Bild, sagte ich und machte eine kurze Geste in Richtung Wand.
Das ist kein Bild, sagte er. Das ist ein Grabstein.
Und dann erzählte er mir die Geschichte dieses Bildes, während ich mich nicht von der Stelle rührte und steif neben dem Bett stand, als wäre ich selbst zu Stein geworden.
An die Tür einer armen Familie klopfte eines Abends ein fremder Mann und erbat für einige Tage Unterschlupf. Viele waren auf der Flucht zu jener Zeit in jenem Land (weit im Osten, sagte mein Großvater, so weit, dass die Leute schon anfingen Schlitzaugen zu haben). Der Vater der Familie war ein vorsichtiger Mann, aber auch gutmütig, und so ließ er den Fremden herein und versteckte ihn einige Wochen, was nicht ungefährlich war. Zwei Mal kamen in dieser Zeit Soldaten des Kaisers (ich denke, er meinte den Zaren) und suchten nach dem Fremden. Der verschwand schließlich wieder und schon bald hatte die Familie ihn vergessen. An dieser Stelle nun beschrieb mein Großvater die Familie, den Vater, die Mutter, die beiden Söhne, und so wie er es tat, musste ich unweigerlich an meine Familie denken. In Kleinigkeiten erkannte ich uns wieder, in der Art, wie der Vater redete, wie die Mutter ging – meine Mutter hatte ein steifes Knie gehabt – ;den älteren Sohn beschrieb er mit jener Lebhaftigkeit, die meinen Bruder auszeichnete, den Jüngeren nannte er einen Träumer – so schimpfte er mich auch des öfteren, wenn ich unachtsam war – und so kam es, dass von diesem frühen Moment seiner Erzählung an, jeder der Familie ein Gesicht hatte und eine Vertrautheit entstand, die mich ich tief und tiefer in die Geschichte hineinzog. Er nahm sich viel Zeit, das Leben der Familie genau zu schildern, die Arbeit auf den Feldern und die kleine Holzhütte, die sie ihr Zuhause nannte. Schnell fing ich an zu glauben, er hätte die Familie selbst gekannt und auch den Ort, an dem sie lebten.
Dann brach Krieg aus in dem Land, eine Revolution. Eines Tages kam ein Haufen Soldaten, die sich nach irgendeiner Farbe benannten in den Ort. Der Hauptmann der Truppe ließ das gesamte Dorf zusammenrufen und befahl den Bewohnern, alle Lebensmittel, die sie besaßen zum Dorfplatz zu bringen. Nun hatte aber niemand mehr etwas, da den Tag zuvor eine andere Armee durch das Dorf gezogen war und alles Essbare mitgenommen hatte. Es gab im ganzen Ort nicht eine Krume Brot, und außer Gras und Baumrinde konnte man den hungrigen Soldaten nichts mehr bieten. Die wurden darauf unsagbar wütend und es begann ein großes Morden und Vergewaltigen. Der Vater der Familie (der schon längst mein Vater war) erkannte in dem Hauptmann jenen Fremden, den er vor Jahren versteckt hatte. Es brannte schon das Haus der Familie, und einige der Soldaten hatten sich bereits über die Mutter (die schon längst meine Mutter war) geworfen und ihr die Kleider vom Leib gerissen, als der Vater den Hauptmann auf seinem Pferd sah und ihm zurief, er solle sie doch verschonen, schließlich habe er ihm damals unter großer Gefahr geholfen. Und tatsächlich erkannte auch der Hauptmann den Vater und gab Zeichen, den älteren der Kinder (der schon längst mein Bruder war) und auch den jüngeren (der längst schon ich war, aber mit einem verschwommenen Gesicht) loszulassen, da die Soldaten gerade darangehen wollten, ihnen mit ihren Bajonetten die Kehle durchzuschneiden. Auch von der Mutter ließen die Männer ab. Unter Tränen erflehte der Vater das Leben wenigstens seiner beiden Kinder.
Nehmt sie mit, befahl der Hauptmann, und man trieb die Familie in ein nahe gelegenes Waldstück.
Der Hauptmann auf seinem Pferd sagte: Ihr werdet hier sterben und von uns beerdigt. Das ist der Lohn für eure Hilfe, nicht zu verbrennen oder unbeerdigt im Dreck dieses Dorfes zu verfaulen.
Wieder flehte der Vater um Barmherzigkeit für seine Kinder. Wenigstens einen von ihnen verschont doch, rief er. Der Hauptmann (der schon längst mein Großvater war) überlegte kurz, und dann sagte er nickend, ein junges Leben für ein altes, nämlich seins, welches sie damals gerettet hatten, sei ein angemessener Preis. So fragte er den Vater, welchen der beiden Jungen er verschonen soll.
Natürlich vermochte der Vater nicht, sich für eines der Kinder zu entscheiden. Erst als der Hauptmann anlegen ließ, damit man beide Kinder gleichzeitig erschieße, fiel der Vater mit einem lauten Schrei zu Boden und zeigte auf einen der Jungen. (Natürlich sagte mein Großvater nicht, welcher der beiden Kinder von dem Vater erwählt wurde). Das andere Kind wurde danach zusammen mit seinen Eltern erschossen und dort zwischen den Bäumen verscharrt.
Der Hauptmann nahm den Jungen, den er verschont hatte, zu sich und zog ihn auf, als wäre er sein eigener Sohn. Der Junge wurde ein Künstler, ein Maler, und als er von seinem Ziehvater, während dieser auf dem Sterbebett lag, die wahre Geschichte seiner Familie erfuhr, reiste er in jenes Dorf, ging in den Wald, und dort, wo er die Stelle vermutete, an der seine Familie gestorben war, malte er jenes Bild. Kurz darauf starb der Maler an einem heftigen Fieber und das Bild wanderte von Hand zu Hand, bis es schließlich von meinem Großvater auf einem Trödelmarkt in Warschau gekauft wurde und er es bei seinem ersten Fronturlaub mit nach Hause brachte.
Wenn du willst, sagte mein Großvater nachdem er fertig erzählt hatte, kannst du es haben.
Dann ließ er mich alleine. Es dauerte eine Zeit, bis ich aus der Geschichte zurückkehrte. Das Zimmer erschien mir noch viel kleiner und dunkler. Und das Bild? Das hatte plötzlich jeden Zauber verloren. Die Bäume wirkten wie die fahlen Knochen eines Skeletts, wie fleischlose Finger, die aus dem morastigen Boden heraus in die neblige Luft griffen. Ich fragte mich, ob der Maler irgendwo in dem Bild eine Spur seiner Geschichte hinterlassen hatte, ob man nicht irgendwo zwischen dem Laub des Waldbodens etwas entdecken konnte, das erkennen ließ, welche Grausamkeit sich darunter verbarg. Aber ich wagte es nicht, genauer nachzusehen. Ich wollte das Bild überhaupt nicht mehr anschauen.
Schnell verließ ich das Schlafzimmer und vermied es von da an, dort alleine zu sein. Das Bild erwähnte ich nicht mehr. Auch mein Großvater benahm sich so, als hätte er mir diese Geschichte niemals erzählt. Erst viele Jahre später, nach seinem Tod, kam das Bild zusammen mit den vielen Büchern, die er besaß, auf den Speicher meines Hauses.
Dort entdeckte es gestern meine Tochter. Wir hatten am Morgen, so wie jeden Sonntag, lange gefrühstückt und nebenbei Trickfilme im Fernsehen angeschaut. Auf einmal meinte sie dann, sie wolle heute gerne auf den Speicher gehen, um sich ein paar von Mamis Sachen anzuschauen.
Ob sie das denn nicht sehr traurig machen würde, fragte ich, und sie meinte, ja schon, aber sie würde es trotzdem gerne tun.
Also gingen wir zusammen auf den Speicher. Sie wühlte in verschiedenen Kisten, während ich mich mit ein paar alten Werkzeugen beschäftigte, die ich von meinem Vater geerbt hatte.
Irgendwann hörte ich meine Tochter nicht mehr kramen und sah nach ihr. Sie kniete vor dem Bild, das sie hinter einem alten Koffer gefunden und herausgezogen hatte und schaute es an. Ich beobachtete die Veränderungen in ihrem Gesicht, wie es zunächst etwas skeptisch aussah, sich dann aber die Züge entspannten und es ein Lächeln zeigte, das ganz tief aus dem Inneren zu kommen schien.
Sie bemerkte mich und sah von dem Bild auf.
Was ist das für ein Bild, Papi? fragte sie aufgeregt.
Das ist kein Bild, sagte ich.
Kurz nach dem Tod meiner Mutter verbrachte ich einige Wochen bei meinem Großvater, da mein Vater beruflich ins Ausland verreiste. Mein älterer Bruder war in dieser Zeit bei der Schwester meines Vaters. Gerne wäre ich auch dort gewesen, aber meine Tante hatte selbst vier Kinder, und so war nur noch Platz für einen von uns. Mein Vater entschied daher, dass ich bei meinem Großvater bleiben sollte.
Großvater war ein gutaussehender, stolzer Mann. Er redete nicht viel, und ich habe ihn, glaube ich, niemals lachen gesehen. Als Kind dachte ich, er sei deswegen so ruppig und unfreundlich, weil meine Großmutter kurz vor meiner Geburt gestorben war und er noch immer traurig sei. Ansonsten aber kam er mir völlig normal vor. Ich kannte ja nur diesen Großvater (der andere war im Krieg gefallen). Vor ihm Angst zu haben, schien mir ganz natürlich, und ich wäre verwundert gewesen, von Kindern zu erfahren, die ihren Großvater nicht fürchteten.
Ich war vorher noch nie in der Wohnung meines Großvaters gewesen. Zwar hatte er uns des Öfteren besucht, aber, aus mir unbekannten Gründen, wollte er nie, dass wir zu ihm nach Hause kämen. Manchmal, wenn mein Bruder und ich schon im Bett lagen und unsere Eltern dachten, wir schiefen längst, konnten wir hören, wie sich Vater darüber beschwerte, wie abweisend und uninteressiert Großvater seiner Familie gegenüber sei.
Als mein Vater mich zu ihm brachte, stand ich zunächst in einem kleinen Flur, während die beiden Erwachsenen vor der Wohnungstür etwas besprachen. Dann kam Großvater herein und sagte, ich solle meinen Koffer ins Schlafzimmer stellen. Er wäre nebenan und hätte noch zu tun. Wenn ich wollte, könnte ich mich auf das Bett legen und schlafen.
Das Schlafzimmer war klein und düster. Ich stellte meinen Koffer ab und sah mich um. Ein großes Bett, ein Schrank, eine Kommode. Ansonsten befand sich nichts in dem Raum. Nur ein Bild, das über dem Bett hing, etwa achtzig Zentimeter lang und vierzig Zentimeter hoch, in einem elfenbeinfarbenen Rahmen mit einer kleinen Goldverzierung am inneren Rand.
Ich setzte mich auf das Bett und betrachtete das Bild. Es war die Schwarzweißzeichnung einer Waldlandschaft. Birken, Buchen Eschen - gerade gewachsene Bäume mit viel Laub. Zwischendrin ein Bach, der in einem Bett aus Geröll durchs Bild plätscherte.
Und dann passierte es. Während ich auf die klaren, gläsernen Grautöne des Wassers schaute, wurden diese allmählich grün. Ebenso begannen die Stämme der Bäume bräunlich zu schimmern, der blendend weiße Lichteinfall der Sonne durch das Geäst bekam einen goldenen Schimmer, der glattgraue Himmel jedoch eine Ahnung von Blau. Auch der Waldboden, bedeckt mit Moos und moderndem Laub, erschlich sich eine rötlich-braune Färbung, und nach einer Weile konnte ich sogar sehen, wie ein leiser Wind so manches Blatt von hier nach dort wehte.
Ich lief ins Wohnzimmer und rief: Großvater, du hast ein Zauberbild!
Er saß dort in einem Sessel, vor einem selbstgezimmerten Schreibtisch und war versunken in einer Welt aus Postwertzeichen. In sicherem Abstand stellte ich mich hinter seinen Stuhl und wartete auf eine Reaktion. Die bestand zunächst darin, noch einige Momente mit einer winzigen Pinzette Briefmarken in ein Album einzusortieren. Er tat das mit einer solchen Sorgfalt, als gäbe es für jede dieser Marken nur diesen einzigen Platz auf der Welt. Dann drehte er sich um und schaute mich über den Rand seiner Brille an.
Welches Bild? wollte er wissen.
Anstatt zu antworten, ging ich ins Schlafzimmer. An seinem schlurfenden Schritt hörte ich, dass er mir folgte. Ich stellte mich neben das Bett. Das Bild, sagte ich und machte eine kurze Geste in Richtung Wand.
Das ist kein Bild, sagte er. Das ist ein Grabstein.
Und dann erzählte er mir die Geschichte dieses Bildes, während ich mich nicht von der Stelle rührte und steif neben dem Bett stand, als wäre ich selbst zu Stein geworden.
An die Tür einer armen Familie klopfte eines Abends ein fremder Mann und erbat für einige Tage Unterschlupf. Viele waren auf der Flucht zu jener Zeit in jenem Land (weit im Osten, sagte mein Großvater, so weit, dass die Leute schon anfingen Schlitzaugen zu haben). Der Vater der Familie war ein vorsichtiger Mann, aber auch gutmütig, und so ließ er den Fremden herein und versteckte ihn einige Wochen, was nicht ungefährlich war. Zwei Mal kamen in dieser Zeit Soldaten des Kaisers (ich denke, er meinte den Zaren) und suchten nach dem Fremden. Der verschwand schließlich wieder und schon bald hatte die Familie ihn vergessen. An dieser Stelle nun beschrieb mein Großvater die Familie, den Vater, die Mutter, die beiden Söhne, und so wie er es tat, musste ich unweigerlich an meine Familie denken. In Kleinigkeiten erkannte ich uns wieder, in der Art, wie der Vater redete, wie die Mutter ging – meine Mutter hatte ein steifes Knie gehabt – ;den älteren Sohn beschrieb er mit jener Lebhaftigkeit, die meinen Bruder auszeichnete, den Jüngeren nannte er einen Träumer – so schimpfte er mich auch des öfteren, wenn ich unachtsam war – und so kam es, dass von diesem frühen Moment seiner Erzählung an, jeder der Familie ein Gesicht hatte und eine Vertrautheit entstand, die mich ich tief und tiefer in die Geschichte hineinzog. Er nahm sich viel Zeit, das Leben der Familie genau zu schildern, die Arbeit auf den Feldern und die kleine Holzhütte, die sie ihr Zuhause nannte. Schnell fing ich an zu glauben, er hätte die Familie selbst gekannt und auch den Ort, an dem sie lebten.
Dann brach Krieg aus in dem Land, eine Revolution. Eines Tages kam ein Haufen Soldaten, die sich nach irgendeiner Farbe benannten in den Ort. Der Hauptmann der Truppe ließ das gesamte Dorf zusammenrufen und befahl den Bewohnern, alle Lebensmittel, die sie besaßen zum Dorfplatz zu bringen. Nun hatte aber niemand mehr etwas, da den Tag zuvor eine andere Armee durch das Dorf gezogen war und alles Essbare mitgenommen hatte. Es gab im ganzen Ort nicht eine Krume Brot, und außer Gras und Baumrinde konnte man den hungrigen Soldaten nichts mehr bieten. Die wurden darauf unsagbar wütend und es begann ein großes Morden und Vergewaltigen. Der Vater der Familie (der schon längst mein Vater war) erkannte in dem Hauptmann jenen Fremden, den er vor Jahren versteckt hatte. Es brannte schon das Haus der Familie, und einige der Soldaten hatten sich bereits über die Mutter (die schon längst meine Mutter war) geworfen und ihr die Kleider vom Leib gerissen, als der Vater den Hauptmann auf seinem Pferd sah und ihm zurief, er solle sie doch verschonen, schließlich habe er ihm damals unter großer Gefahr geholfen. Und tatsächlich erkannte auch der Hauptmann den Vater und gab Zeichen, den älteren der Kinder (der schon längst mein Bruder war) und auch den jüngeren (der längst schon ich war, aber mit einem verschwommenen Gesicht) loszulassen, da die Soldaten gerade darangehen wollten, ihnen mit ihren Bajonetten die Kehle durchzuschneiden. Auch von der Mutter ließen die Männer ab. Unter Tränen erflehte der Vater das Leben wenigstens seiner beiden Kinder.
Nehmt sie mit, befahl der Hauptmann, und man trieb die Familie in ein nahe gelegenes Waldstück.
Der Hauptmann auf seinem Pferd sagte: Ihr werdet hier sterben und von uns beerdigt. Das ist der Lohn für eure Hilfe, nicht zu verbrennen oder unbeerdigt im Dreck dieses Dorfes zu verfaulen.
Wieder flehte der Vater um Barmherzigkeit für seine Kinder. Wenigstens einen von ihnen verschont doch, rief er. Der Hauptmann (der schon längst mein Großvater war) überlegte kurz, und dann sagte er nickend, ein junges Leben für ein altes, nämlich seins, welches sie damals gerettet hatten, sei ein angemessener Preis. So fragte er den Vater, welchen der beiden Jungen er verschonen soll.
Natürlich vermochte der Vater nicht, sich für eines der Kinder zu entscheiden. Erst als der Hauptmann anlegen ließ, damit man beide Kinder gleichzeitig erschieße, fiel der Vater mit einem lauten Schrei zu Boden und zeigte auf einen der Jungen. (Natürlich sagte mein Großvater nicht, welcher der beiden Kinder von dem Vater erwählt wurde). Das andere Kind wurde danach zusammen mit seinen Eltern erschossen und dort zwischen den Bäumen verscharrt.
Der Hauptmann nahm den Jungen, den er verschont hatte, zu sich und zog ihn auf, als wäre er sein eigener Sohn. Der Junge wurde ein Künstler, ein Maler, und als er von seinem Ziehvater, während dieser auf dem Sterbebett lag, die wahre Geschichte seiner Familie erfuhr, reiste er in jenes Dorf, ging in den Wald, und dort, wo er die Stelle vermutete, an der seine Familie gestorben war, malte er jenes Bild. Kurz darauf starb der Maler an einem heftigen Fieber und das Bild wanderte von Hand zu Hand, bis es schließlich von meinem Großvater auf einem Trödelmarkt in Warschau gekauft wurde und er es bei seinem ersten Fronturlaub mit nach Hause brachte.
Wenn du willst, sagte mein Großvater nachdem er fertig erzählt hatte, kannst du es haben.
Dann ließ er mich alleine. Es dauerte eine Zeit, bis ich aus der Geschichte zurückkehrte. Das Zimmer erschien mir noch viel kleiner und dunkler. Und das Bild? Das hatte plötzlich jeden Zauber verloren. Die Bäume wirkten wie die fahlen Knochen eines Skeletts, wie fleischlose Finger, die aus dem morastigen Boden heraus in die neblige Luft griffen. Ich fragte mich, ob der Maler irgendwo in dem Bild eine Spur seiner Geschichte hinterlassen hatte, ob man nicht irgendwo zwischen dem Laub des Waldbodens etwas entdecken konnte, das erkennen ließ, welche Grausamkeit sich darunter verbarg. Aber ich wagte es nicht, genauer nachzusehen. Ich wollte das Bild überhaupt nicht mehr anschauen.
Schnell verließ ich das Schlafzimmer und vermied es von da an, dort alleine zu sein. Das Bild erwähnte ich nicht mehr. Auch mein Großvater benahm sich so, als hätte er mir diese Geschichte niemals erzählt. Erst viele Jahre später, nach seinem Tod, kam das Bild zusammen mit den vielen Büchern, die er besaß, auf den Speicher meines Hauses.
Dort entdeckte es gestern meine Tochter. Wir hatten am Morgen, so wie jeden Sonntag, lange gefrühstückt und nebenbei Trickfilme im Fernsehen angeschaut. Auf einmal meinte sie dann, sie wolle heute gerne auf den Speicher gehen, um sich ein paar von Mamis Sachen anzuschauen.
Ob sie das denn nicht sehr traurig machen würde, fragte ich, und sie meinte, ja schon, aber sie würde es trotzdem gerne tun.
Also gingen wir zusammen auf den Speicher. Sie wühlte in verschiedenen Kisten, während ich mich mit ein paar alten Werkzeugen beschäftigte, die ich von meinem Vater geerbt hatte.
Irgendwann hörte ich meine Tochter nicht mehr kramen und sah nach ihr. Sie kniete vor dem Bild, das sie hinter einem alten Koffer gefunden und herausgezogen hatte und schaute es an. Ich beobachtete die Veränderungen in ihrem Gesicht, wie es zunächst etwas skeptisch aussah, sich dann aber die Züge entspannten und es ein Lächeln zeigte, das ganz tief aus dem Inneren zu kommen schien.
Sie bemerkte mich und sah von dem Bild auf.
Was ist das für ein Bild, Papi? fragte sie aufgeregt.
Das ist kein Bild, sagte ich.