Kleiner Besuch

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Nifl
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Beitragvon Nifl » 02.04.2010, 19:13

Überarbeitete Fassung:

"Ich komme nicht so gerne hierher" sagt er, lehnt sich zurück und legt seine gestreckten Beine übereinander.
"Ich weiß, danke, dass du trotzdem gekommen bist". Die engen Hüftjeans wölben sich nicht am Hintern. Ihre braunen Lederstiefel betonen die dünnen Beine. Es ist ihm, als hätte sie ausgeprägtere O-Beine als früher bekommen. Er beobachtet vom Esstisch aus, wie sie vor dem Kaffeeautomaten steht und die Spültaste drückt. Der Zeigefinger biegt sich durch. Ihre Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden.
"Schwarz wie früher?"
Er brummt zustimmend. "Also, was ist?"
"Wie geht es Anke?"
"Gut"
"Gut?"
"Ja, gut."
Sie stellt die Tassen auf den Esstisch. Kaffee samt Schaum schwappt über den Rand.
"Gibt Ringe auf dem Tisch" sagt er.
Sie nickt, holt aber keinen Lappen. Er hebt seine Tasse und verstreicht mit der Hand den verschütteten Kaffee auf dem geölten Buchentisch.
"Flecken sind besser als Ringe"
"Was geht's dich an?"
Er lächelt.
Beide schweigen ein paar Minuten. Sie will einen Schluck trinken. Die Tasse zittert. Schnell nimmt sie die zweite Hand zu Hilfe.
"Und Tom?"
"Keine Panik. Tagung in München"
"Ich habe keine Panik. Warum auch?"
"Ja ja, schon gut"
Er starrt in ihr Dekolleté, sucht erste Altersfalten.
"Bist scharf auf meine Titten?"
Er wird rot. "Ach komm!"
"Hier, darfst mal grapschen". Sie beugt sich vor, atmet tief ein. Ihre kleinen Brüste heben kaum den roten Synthetikstoff des Shirts.
"Hör auf damit!"
"Jetzt sei mal nicht so zimperlich, früher..."
Er schneidet ihr ins Wort: "Es ist nicht früher".
Sie fällt in sich zusammen, als hätte man ihr die Luft raus gelassen.
Er langt über den Tisch und nimmt ihre Hände zwischen seine.
Sie zuckt zurück, als hätte sie sich erschrocken, lässt seine Berührung dann aber doch zu.
"Also Katja, was ist?"
"Ich wollte dich nur sehen"
"Warum plötzlich?"
Sie schweigt. Nach einer Weile fragt er:
"Soll ich wieder gehen?"
"Ja".

Originaltext:
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Zuletzt geändert von Nifl am 05.04.2010, 14:30, insgesamt 3-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Herby

Beitragvon Herby » 02.04.2010, 20:16

Hi Nifl,

zwei Menschen kommen sich nahe, ohne sich (wieder) näher zu kommen; sie reden, ohne etwas zu sagen zu haben, nur um nicht nichts oder gar das Falsche oder das Unbequeme zu sagen - gefällt mir gut in dieser Mischung aus Nähe/Ferne und Gesagtem/Ungesagtem/Gemeinten, dieser hilflosen Sprachlosigkeit.

"Jetzt sei mal nicht so zimperlich, früher..."
Er schneidet ihr ins Wort: "Es ist nicht früher".


Das ist für mich eine Kernstelle - nichts ist wiederholbar, es sei denn als enttäuschender zweiter Aufguss.


Aber auch der Satz

"Flecken sind besser als Ringe"


bekommt hier eine ganz eigene doppelte Tiefe, finde ich.

Lieben Gruß
Herby

PS: Erinnert mich von der Grundkonstellation her ein wenig an Kästners "Sachliche Romanze".

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 02.04.2010, 22:34

Eine schöne, intensive Momentaufnahme. Ob sie realistisch ist, habe ich mich sofort gefragt. Ich kenne niemanden, der so tickt, aber das macht ja nichts. Man kann sich die Situation vorstellen, das reicht.

Diese Stelle habe ich erst falsch gelesen. Und zwar so:
Sie: "Schwarz wie früher?"
Er brummt zustimmend.
Sie: "Also, was ist?"
Er: "Wie geht es Anke?"
Sie: "Gut"
Er: "Gut?"
Sie: "Ja, gut."

Erst dachte ich, Du habest ein Komma vor "Anke" vergessen und das sei ihr Name. Erst wesentlich später habe ich verstanden, dass sie Katja heißt, Anke wohl seine Freundin oder Frau ist. Vielleicht würde es reichen, den Zeilenumbruch nach "Er brummte zustimmend" raus zu nehmen, um klarer zu machen, dass die Person nicht wechselt. Ähnlich bei: Er wird rot. "Ach komm!"

Bei den Händen würde ich sagen, dass er ihre Hände zwischen seine nimmt, nicht legt. Legt klingt nach anheben und ablegen, dazu bräuchte er die Hände. Oder anders, legen kann in dem Fall m.E. nur die Person, die die Hände nachher in der Mitte hat.

Die Stelle
"Jetzt sei mal nicht so zimperlich, früher..."
Er schneidet ihr ins Wort: "Es ist nicht früher".

beinhaltet sehr viel Schärfe, alte Verletzungen und unüberbrückbare Gräben, insbesondere durch das harte "Schneiden". Dagegen ist mir der Satz danach fast etwas zu banal, weil zu lang. Da könnte man vielleicht auf den Ballon verzichten.

Das hier:
Sie wirkt, als überlege sie, ihre wegzuziehen.

ist auch noch nicht optimal. Wie wirkt jemand, der so schnell überlegt. Kann man diesen Moment der Entscheidung, des Zögerns, sichtbarer machen?

Das Ende finde ich hervorragend. Ein ganz stilles Scheitern. Klasse.

Sehr gern gelesen, das Gemecker bezieht sich echt nur auf Feinschliff.

Grüße,
Henkki

Sam

Beitragvon Sam » 03.04.2010, 11:58

Hallo Nifl,

das ist ein interessantes kleines Prosastück. Besonders gefällt mir, dass man auf die kurze Strecke doch recht viel über die beiden Protagonisten und ihre Beziehung zueinander erfährt. Das Unerzählte schimmert überall hindurch, weil du die entscheidenden Hinweise vor allem in den Dialogen gut gesetzt hast. Wie z.B. jenes "Flecken sind besser als Ringe".

Ein Problem habe ich dennoch mit dem Text.
Da ist der Mann. Der Text ja aus seiner Perspektive geschrieben. Während das Äußere der Frau recht gut beschrieben wird, bleibt der Mann ohne Gestalt. Seine Motivation wird genau beschrieben (er blickt ihr in den Ausschnitt, um Altersfalten zu entdecken), während die Frau nur handelt oder redet. Die einzig angesprochene Motivation (das Wegziehen der Hände) wird vermutet. Der Leser schlüpft also automatisch in eine "voreingenomme" Beobachterrolle. Der Mann zeigt wenig Interesse an der Frau, er sucht eigentlich nur nach Anzeichen der Veränderung zum Negativen (sie ist wohl dünner geworden und natürlich auch älter). Es scheint fast so, als wolle er seine Entscheidung, das Verhältnis mit jener Frau beendet zu haben, bestätigt wissen. Sein ganzes Verhalten ist von Oben herab (das Brummeln, das Austrecken der Beine). Die Frau dagegen ist in der Defensive. Sie hat den Mann eingeladen, einer Bitte, der er scheinbar nur ungern gefolgt ist. Die FRau ist angespannt und versucht sich zu wehren. Das gipfelt dann in dem Ausbruch, bei dem sie ihm ihre Titten anbietet. Aber auch da unterliegt sie wieder. Und schließlich ist es wiederum er, der den Anstoß gibt, den Besuch zu beenden.

Die Erzählpersepktive lässt die beiden nicht auf gleicher Augenhöhe agieren. So als stünde der Erzähler (bewusst oder unbewusst) auf der Seite des Mannes und ließe deswegen das ganze Treffen zu dessen Gunsten ausgehen. Was mich als Leser wiederum an dem Erzählten zweifeln lässt und ich dem Anfangs erwähntem "Unerzählten", das hinter dem Text hervorleuchtet, nicht mehr ganz traue.

Gruß

Sam

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 03.04.2010, 12:10

Hallo Nifl!

Hm, die bisherigen Kommentare bestätigen mir, was ich schon vermutet habe: Dass ich mit meinem Eindruck, der Text sei recht dünn, weil er rein über den Kopf arbeitet, meilenweilt danebenliege... Na ja, irgendwann komme ich dem Prosa-Geheimnis auch noch auf die Schliche :-)

Nimmt / legt, wie von Henkki angemerkt, sehe ich genauso; auch den Ballon-Vergleich empfinde ich als (zu starke) Abweichung vom sonstigen Ton. Warum plötzlich würde hierzulande niemand sagen (Da müsste ein "so" dazwischen), aber da gibt es bestimmt Unterschiede in der Umgangssprache.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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noel
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Beitragvon noel » 03.04.2010, 12:56

phantastisch!
das unausgesprochene, das gestern gewesene, die affaire perdu, kommt durch die nichtssagende dialoge hervorragend rüber.
er empfindet nicht nur nichts (mehr ) für sie, sondern beobachtet sie kritisch, abschätzend



Nifl hat geschrieben:Die engen Hüftjeans wölben sich nicht am Hintern. Ihre braunen Lederstiefel betonen die dünnen Beine. Es ist ihm, als hätte sie ausgeprägtere O-Beine als früher bekommen.


ungeduldig ist er ihr & der situation gegenüber.

Nifl hat geschrieben:"Also, was ist?"

sie fragt nach seiner frau & doch fragt sie damit nach
seiner beziehung zu seiner frau

Nifl hat geschrieben:"Wie geht es Anke?"
"Gut"
"Gut?"
"Ja, gut."

& das gut, ist nicht das, was sie hören wollte.



Nifl hat geschrieben:Sie stellt die Tassen auf den Esstisch. Kaffee samt Schaum schwappt über den Rand.
"Gibt Ringe auf dem Tisch" sagt er.
Sie nickt, holt aber keinen Lappen. Er hebt seine Tasse und verstreicht mit der Hand den verschütteten Kaffee auf dem geölten Buchentisch.
"Flecken sind besser als Ringe"
"Was geht's dich an?"
Er lächelt.


die banale situation, der überschwappende kaffee, sein einziges "eingehen" auf sie, besser ihr umfeld, ihr tisch...
zeigt das "nichts" dass er für sie empfindet.

Nifl hat geschrieben:Beide schweigen ein paar Minuten. Sie will einen Schluck trinken. Die Tasse zittert. Schnell nimmt sie die zweite Hand zu Hilfe.
"Und Tom?"
"Keine Panik. Tagung in München"
"Ich habe keine Panik. Warum auch?"
"Ja ja, schon gut"

sie ist nervös. er neutral. sie will dennoch seine nachfrage in eine emotion wandeln, die im gestern wohl gewesen wäre. sie sucht etwas zurück zu erhalten. er ist nett.

das ganze steigert sich noch, da sie einen abschätzenden blick in verlangen ummünzt

Nifl hat geschrieben:Er starrt in ihr Dekolleté, sucht erste Altersfalten.
"Bist scharf auf meine Titten?"
Er wird rot.
"Ach komm!"
"Hier, darfst mal grapschen". Sie beugt sich vor, atmet tief ein. Ihre kleinen Brüste heben kaum den roten Synthetikstoff des Shirts.
"Hör auf damit!"
"Jetzt sei mal nicht so zimperlich, früher..."
Er schneidet ihr ins Wort: "Es ist nicht früher".


& endlich stirbt die hoffnung... schön umschrieben mit der luftballonmetapher....
Nifl hat geschrieben:Sie sackt in sich zusammen wie ein Ballon, dem man die Luft raus lässt.
Er langt über den Tisch und legt ihre Hände zwischen seine.
Sie wirkt, als überlege sie, ihre wegzuziehen.
"Also Katja, was ist?"
"Ich wollte dich nur sehen"
"Warum plötzlich?"
Sie schweigt. Nach einer Weile fragt er:
"Soll ich wieder gehen?"
"Ja".



& seine nachfrage,lässt den stolz & ihre verfahrene situation noch schlimmer herausstechen.

gelungen
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Nifl
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Beitragvon Nifl » 04.04.2010, 20:15

Hallo Herby, Henkki, Sam, Ferdi, noel,
habe mich sehr über eure Kommentare gefreut, nicht, weil die Grundtendenz positiv ist, sondern weil sie von einer intensiven Auseinandersetzung zeugen. Wunderbar. Allen ein großes Dankeschön.
Feine Betrachtungsweise, Herby.
Henkki, den Vorschlag zwei Umbrüche zu entfernen, übernehme ich gerne.
Und die Hände nimmt er, ja.
Der Ballonvergleich behagt mir auch nicht so recht in seiner unoriginellen Gebräuchlichkeit und seiner nicht ganz ins Kolorit passenden Semantik. Da muss ich noch grübeln, ob ich einem anderen den Vorzug gebe (falls ich einen finde *hihi).
SDT bzgl. der Vermutung, dass sie die Hand wegziehen möchte, hielte ich auch für die eingängigere Variante. Überlege mir wie.
Deine Perspektivenbeleuchtung, Sam, finde ich sehr spannend und auch treffend. Und –ich klopfe mir gerade selbst auf die Schulter- durchaus auch dergestalt intendiert. Über einen längeren Text würde sich die Möglichkeit einer Antagonistenperspektive sperren, hier ist es mE. jedoch möglich, den Leser nicht mit Sympathie zu “interessieren“ .
Ich empfinde ihn auch als Unsympath. Er ist ein unsensibler, spießiger Chauvinist, schafft es nicht, eine offene Atmosphäre zuzulassen und denkt nur in beziehungskleinkarierten Schemen. Darum rastet sie in Wahrheit aus und zeigt aggressiv vulgär, dass sie das –vielleicht auch unbewusst- ebenso sieht wie ich als Autor … ä *hihi . Ich glaube nicht, dass sie die Beziehung wieder aufwärmen wollte. Sie wollte ihm was anvertrauen (weil sie sich mal was bedeutet haben). Vielleicht, dass sie unter Multiple Sklerose leidet. Insofern habe ich als Autor versagt.
Ähm, aber aus o.g. Gründen halte ich den Ausgang mitnichten für zugunsten des Mannes.
Ferdi, du alter Tiefstapler. So so. Hm. „Warum so plötzlich“ klingt in meinem Ohr nach gestelztem Fernsehdialog.
noel, deine Deutungen finde ich sehr aufschlussreich! Danke.
LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 05.04.2010, 05:30

Vielleicht, dass sie unter Multiple Sklerose leidet.

Das hab ich nicht herauslesen müssen, oder?

Nifl
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Beitragvon Nifl » 05.04.2010, 10:51

Ich denke –wie oben auch erwähnt- dass dich als Leser keine Schuld trifft, es nicht zu erkennen. Mit dieser Perspektive ist das auch sehr schwer, weil man leicht auch mit den Augen des „Erzählnahen“ wertet. Also gleich alles in Richtung „Unattraktivität“ deutet und nicht in Richtung Krankheit.
Macht nichts, wollte mein Versagen nur angesprochen haben *hihi
Werde noch eine Variante aus ihrer Perspektive schreiben und dazustellen. Ist vielleicht spannend.
Habe bisweilen eure Anmerkungen eingearbeitet.
LG
Nifl
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Beitragvon Zakkinen » 05.04.2010, 13:15

Komischerweise habe ich den Text gar nicht mit so viel Wertung gelesen. Älter sind die beiden geworden. Alles, was es an gemeinsamer Geschichte gab, ist sauer geworden, verspannt. Der Leser begleitet ihn, schaut ihm über die Schulter. Sympathien muss man nicht für ihn empfinden, aber auch keine Antipathien. Er sagt ja auch gleich zu Anfang, dass er nicht gern da sei. Wer weiß, warum er nicht mehr da ist? Vielleicht hat sie ihn ja mal rausgeworfen? Vielleicht ist auch er alt und unansehnlich geworden und sucht daher nach der Bestätigung, dass es mit ihr auch so ist? Vielleicht hatten sie mal eine intensive, leidenschaftliche Beziehung und er testet seine Empfindungen durch, dass da wirklich nichts mehr ist? Ich kann ihn nicht als unsensiblen, spießigen Chauvinisten sehen. Er hat sogar noch einen gewissen Humor, "Flecken sind besser als Ringe" hat zwar eine mögliche Zweitbedeutung, aber ist, trotz Nähe zum Zynismus, noch eine Bemerkung mit Humor. Sie hat ihn gebeten zu kommen, und er ist gekommen. Er hätte nicht müssen. Um ihn abzuurteilen ist mir diese ganze Aufnahme zu kurz.

Ich mache übrigens, obwohl ich ihm über die Schulter schaue, immer noch einen Unterschied zwischen dem Erzähler und ihm. Daher schreibe ich den Hüftjeans-Satz auch nicht direkt ihm zu. Mochte ich übrigens nicht, den Satz, fand ich zu platt, zu chauvinistisch. Also ist die gewünschte Wirkung da, aber zumindest bei mir nicht eindeutig zugeordnet. Nun bin ich natürlich auch ein Mann, eine Frau liest das vermutlich komplett anders.

Du hast die MS erwähnt. Weißt Du, was mit Menschen passiert, die mit dieser Krankheit leben müssen? Mit ihren Partnern und Freunden? Da sieht manches von außen ganz anders aus, als es innen ist. Ich lese sofort auch eine riesige Unsicherheit, eine Unfähigkeit mit Geschichte, eine Resignation, ein Scheitern. Also muss ich schließen, dass es Dir nicht gelungen ist, Deine Intention umzusetzen. Aber das macht den Text ja nicht schlechter.

Da:
Er brummt zustimmend. Also, was ist?"

fehlt übrigens jetzt ein Anführungszeichen.

Liebe Grüße,
Henkki

Mucki
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Beitragvon Mucki » 05.04.2010, 14:00

Hallo Nifl,

seltsamerweise war das erste, was ich vermutete, tatsächlich, dass die Frau krank ist. Ich dachte an eine Muskelschwäche oder so etwas. Hinweise waren da die O-Beine, das Händezittern, dass sie sehr dünn ist.
Aber dann las ich die anderen Kommentare und dachte, nee, das ist wohl Quatsch. Nun, da du es selbst erwähnst. Lag ich also doch mit meiner Ahnung richtig.
Ansonsten wirken die beiden Charaktere eher neutral auf mich. Also keiner von beiden nimmt hier für mich die "Hauptrolle" ein, obwohl man nur wenig von ihm liest. Ich empfinde das eher ausgeglichen. Das einzige, was ich im Text spürte, war, dass sie ein großes Verlangen nach etwas hat, etwas will, was sie aber nicht ausführt.

Saludos
Mucki

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.04.2010, 20:53

Hallo,

Komischerweise habe ich den Text gar nicht mit so viel Wertung gelesen.


ich auch nicht - und das hat mir gerade gefallen, weil das den Text frei und feinsinnig macht.

Die MS habe ich auch nicht herausgelesen - bei mir wurde eher (wahrscheinlich durch das restliche Auge des männlichen Protagonisten) das alles unter "typische Frauenhysterie in Bezug auf Sex/Alter/Frust etc., was sich alles im Körper zeigt" abgelegt (das wurde von mir übrigens nicht als Klischee gelesen, weil der männliche Protagonist analoge, hilflose Gesten an den Tag legt). Die Intention, dass der Leser sowas wie eine Erkrankung (auch nur tendentiell) herauslesen soll, schadet dem Text, finde ich. Das kann auch sein, aber ich finde es eben gerade schön, wenn die Gedanken da gar nicht so konkret sein müssen. Sie wird einen Grund gehabt haben - das weiß der Leser - darauf läuft es für mich hinaus und mehr braucht es für das Scheitern nicht.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 08.04.2010, 10:24

Hallo Henkki, Mucki und Lisa.

Tolle Schilderung deiner Rezeption, Henkki, sehr wertvoll für mich.
Ob es jetzt MS ist oder eine andere, spielt für diesen Text eine untergeordnete Rolle. Es wäre schön gewesen, wenn mehr Leser ihre „physische Schwäche“ erkannt hätten, in dem der eigentliche Grund liegt, dass er sie treffen sollte. Aber wenn es auch als normales Beziehungsgedöns beim Leser funktioniert, ist es mir auch recht.
Mucki! Freut mich.
Sie wird einen Grund gehabt haben - das weiß der Leser - darauf läuft es für mich hinaus und mehr braucht es für das Scheitern nicht.

Deutlicher möchte ich die Krankheit auch nicht formulieren, Lisa. Und wenn das Scheitern beim Leser auch unspezifisch ankommt und plausibel ist, umso besser.

Danke für eure Meinungen und An- und Aussichten!
LG
Nifl
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 16.04.2010, 09:54

Hallo Nifl, freue mich, Dich zu lesen!
Eine wirklich feine Uhrmacherarbeit. Die "Unruhe" freilich wird zu sehr ausgespart. Warum fragt er sie nie nach ihrer Gesundheit? Das ist in solchen Situationen absolut unausweichlich. Natürlich wird sie tapfer "okay" oder sogar "fit wie'n Turnschuh" antworten, aber der Leser spürt, dass hier was verschwiegen wird, er wird ermuntert, die angedeuteten Symptome anders zu deuten.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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