Das Sterben der Großmutter

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Sam

Beitragvon Sam » 08.05.2010, 08:24

Das Sterben der Großmutter

oder

Variationen zu einem Thema


Ein autobiografischer Essay


Ernst Morwitz, ein Freund Stefan Georges, sagte: „Die Toten lächeln, weil sie ein Geheimnis vor uns voraushaben.“ Dies bemerkte er, weil andere Freunde des gerade verstorbenen Dichters dessen Totenantlitz als erhaben und nach Innen lächelnd beschrieben hatten.
Großmutter lächelte nicht, nachdem sie gestorben war. Ihr zahnloser Mund, tief in die Mundhöhle eingesunken, sah aus, als würde sie ihn zusammenpressen. Die Nasenlöcher waren nur noch dünne Schlitze. Man hätte meinen können, ihre Nase sei in den letzten Stunden vor ihrem Tod noch gewachsen, neben dem Leben, hätte auch das Nasenbein versucht aus dem Körper zu fliehen. Am auffälligsten aber waren ihre Augen. Rund wie Murmeln, die geschlossenen Lider von einer glänzend violetten Farbe, erschienen sie wie Fremdkörper, die man in die leeren Augenhöhlen eingelegt hatte. Das Totengesicht der Großmutter hatte mit ihr nichts mehr zu tun. Es war ein stillgelegter Bahnhof, ein für immer verlassenes Gebäude. Warum hätte sie lächeln sollen wegen eines blöden Geheimnisses, das die Toten überhaupt nicht interessiert? Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist.


Die meisten Religionen, die ein Weiterleben nach dem Tod lehren, verurteilen den Selbstmord. Als bestünde die Gefahr, dass diejenigen, die an die Unsterblichkeit glauben der Versuchen erliegen könnten, eine Abkürzung zu nehmen. Womöglich waren sich aber auch die Personen, die solche Regeln aufstellten, ihrer Sache nicht ganz sicher. Wie dem auch sei, es ist ein Gebot für Kranke und Unglückliche. Kein gesunder und glücklicher Mensch würde seinem Leben ein Ende setzen wollen, nur weil ihn auf der anderen Seite etwas Besseres erwartet. Und selbst die meisten Kranken und Unglücklichen halten an ihrem Leben fest, klammern sich an jeden Strohhalm, der ihnen eine Stunde, einen Tag oder länger ihre Existenz bewahren hilft. Der Mensch hat ein ihm innewohnendes Gespür dafür, dass nach dem Tod nichts mehr kommt.


Die letzten zwei Tage lag die Großmutter mit geschlossenen Augen im Bett und atmete schnell durch den offen stehenden Mund. Die eingesaugte Luft schabte trocken ihren Hals hinunter. Es sah so aus, als würde sie den Kopf in das Kissen drücken. Kein Wunder, dass die Umstehenden dachten, sie kämpfe gegen den Tod. Einmal beugte sich die Schwiegertochter zu ihr herunter, strich ihr über die Stirn und flüsterte: Lass doch los. Lass doch los!
Aber Großmutter dachte nicht daran. Als sei Ein- und Ausatmen ebenso ein Daseinszweck. Eine Aufgabe, die man zu erfüllen hatte, bis eben auch das nicht mehr ging. Es war schmerzhaft dieses heftige Atmen zu hören, weil man sich vorstellte, dass es für sie schmerzhaft sein musste. Es erinnerte mich an Wanderungen, bei denen man stundenlang bergauf läuft und irgendwann nur noch einen Schritt vor den anderen setzt. Spaß macht das keinen mehr, aber wenn man ankommen will, muss man weiterlaufen. Und wer leben will, muss atmen. Also weiteratmen, auch wenn man dabei Gott verspottet. Oder die Natur. Mindestens einer von beiden will den Tod. Aber das sieht ein Mensch wie Großmutter gar nicht ein. Sechsundneunzig Jahre schenkt man nicht einfach so her. Das Leben schenkt man nicht her. Wer es haben will, der muss es sich nehmen und zwar mit Gewalt. Muss es aus dem wundgeatmeten Hals herausreißen.


Die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ist nicht zu überbrücken. Viele, die sich Christen nennen und an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod glauben, sind ebenso davon überzeugt, dass die Evolution eine Tatsache ist. Man stelle sich das vor: Das Leben entwickelt sich vom Einzeller hinauf bis zum Homo Sapiens. An welchem Punkt kommt die Seele ins Spiel? Welches war das erste Lebewesen, das eine Seele hatte, die nach dem Tod weiterlebte? Woher kam die? Und selbst wenn ein Schöpfer sich der Evolution bedient hätte, dann müsste er zu irgendeinem Zeitpunkt festgelegt haben, das nächste Geborene bekommt das Geschenk einer Seele. Das ist unlogisch und auch grausam.
Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod ist eine klare Verneinung allgemein anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse.


Die Pornografie des Sterbens. Atemzüge, die immer langsamer werden, obwohl sie nichts an Kraft verlieren. Und man steht dumm daneben. Vater war ins Nebenzimmer gegangen. Jetzt wurde er gerufen. Es ginge zu Ende. Aber niemand schrie auf, niemand stellte sich schützend vor die Sterbende. Weil es ja sowieso passiert. Der Mensch hat den Tod von Anfang an hingenommen. Deswegen war er auch stets dazu bereit, andere zu töten. Niemand, der den Tod nicht akzeptiert, wird je zum Mörder werden. Als Kain seinen Bruder Abel erschlug, war noch nie ein Mensch gestorben. Was wusste Kain vom Tod? Er kannte ihn nur aus der göttlichen Strafverkündung: Ihr werdet sterben!
Das Wissen ums Sterben hat aus dem Menschen einen Mörder gemacht.


Warum stand nicht der Geist neben Großmutter und macht sie wieder jung und gesund? Jener Geist, der sie, als sie zwölf Jahre alt war und an einer schweren Innenohrentzündung litt, heilte. Es ist die einzige unheimliche Geschichte, die Großmutter jemals erzählte und sie wirkte dabei selbst so erschrocken, dass ich die Begebenheit bis heute für wahr halte.
Meine Urgroßeltern hatten ein Haus in der Nähe von Zwickau. Es war Anfang der zwanziger Jahre. Aufgrund einer Blutvergiftung starb der zweitjüngste Bruder der Großmutter. Ein Bekannter der Familie erzählte ihrer Mutter von einem Medium, das Kontakt zu dem Verstorbenen herstellen könne. Also ging meine Urgroßmutter zu einer dieser Seancen und tatsächlich sprach ein Geist durch das Medium zu ihr und berichtete von ihrem Sohn. Von da an besuchte die Urgroßmutter regelmäßig das Medium. Ihr Mann stand dem Ganzen sehr skeptisch gegenüber, ließ sich jedoch eines Tages dazu überreden, an einer der Sitzungen teilzunehmen. Als der Geist in das Medium fuhr, war er sehr aufgebracht, da sich jemand im Raum befände, der nicht an Geister glaubte. Der Urgroßvater gab sich zu erkennen. Darauf sagte der Geist zu ihm: „Du hast eine Tochter, die sehr krank ist. Ich werde heute Nacht zu ihr gehen und sie heilen.“.
In jener Nacht erwachte die Großmutter mit dem Gefühl, dass jemand neben ihrem Bett stünde. Sie schlief wieder ein und als sie am Morgen erwachte, waren ihre Ohrenschmerzen verschwunden. Sie kehrten auch nicht wieder, aber von diesem Tag an spukte es in dem Haus. Jede Nacht hörte man Stimmen und Geräusche, als würden schwere Möbel verrückt. Urgroßmutter verlor zeitweise den Verstand und verbrachte mehrere Monate in einer Nervenheilanstalt. Das war kurz nachdem der jüngste Bruder der Großmutter über Nacht verstarb, ohne dass man hätte sagen können warum. Auffällig war nur gewesen, dass er am Abend zuvor viele Dinge noch einmal machen wollte. Darf ich noch mal diesen Tee haben? hatte er gefragt, oder noch mal jenes Spielzeug? In der Nacht kam er in das Bett der Eltern gekrochen und fragte, ob er noch einmal bei ihnen schlafen dürfe. Am nächsten Tag war er tot.
Das Spuken hörte nicht auf, bis die Familie aus dem Haus auszog.


In einem kurzen Text beschreibt George Orwell eine Hinrichtung, der er während seiner Dienstzeit in Burma beiwohnte. Dem Bericht fehlt auf beunruhigende Weise jedwedes Pathos. Nachdem der Tod des Delinquenten festgestellt ist, wird darüber diskutiert, was es wohl zu essen gäbe. Interessant sind jedoch die Gedanken des Erzählers, während der Verurteilte zum Galgen läuft. Dessen Ruhe beeindruckt Orwell offensichtlich, was ja nichts anders heißt, als dass er diese Gelassenheit gegenüber dem Tod nicht besitzt. Weil ihm bewusst wird, was es heißt, wenn ein Mensch stirbt. Er sagt wörtlich: „Eine Welt geht unter.“ Jeder Tod ist ein Weltuntergang, da es keine zwei Menschen gibt, die die Welt mit den gleichen Augen sehen. Der Tod zerstört einen absolut einzigartigen Blick auf das Leben und einen Geist, der diesen Blick wahrnimmt und als sein Eigentum beansprucht.


Großmutter glaubte an Gott. Seit ihrer Kindheit ging sie regelmäßig in die Kirche. Und da sie sehr musikalisch war, wurde sie schon in sehr jungen Jahren Organistin. Zunächst in einer evangelischen Kirche. Später sprach sie der katholische Pfarrer des Ortes an und fragte, ob sie denn nicht auch in seiner Kirche spielen könne. Die Gemeinde entbehrte schmerzhaft einen guten Organisten. Und außerdem müsste er sie warnen. Der protestantische Kollege wäre dafür bekannt, es mit der ehelichen Treue nicht so genau zu nehmen. Großmutter akzeptierte sowohl die Warnung als auch das Angebot und radelte sonntags zwischen zwei Kirchen hin und her. Am Ende war es allerdings der katholische Hirte, der versuchte sie zu verführen.


Die ersten Toten die ich sah, waren Leichenhaufen. Fotos in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Großmutter hatte mich dort mit hingenommen. Da war ich sieben oder acht Jahre alt. Am meisten beidruckte mich die so gut leserliche Aufschrift „Duschbad“ über dem Eingang zur Gaskammer. Ich wusste genau, welchem Zweck diese Anlagen dienen sollten. Der Hohn der Worte war mir bewusst. Großmutter erzählte, dass sie oftmals den Gestank der verbrannten Leichen riechen konnten. Und wie der behinderte Sohn einer Bekannten abgeholt wurde, und seine Mutter für ihn extra einen Apfelkuchen gebacken hatte, um ihm etwas mitzugeben, was er sehr mochte. Der Junge kam nie wieder. Großmutter erzählte auch, dass sie, als schon die amerikanischen Panzer in der Stadt waren, noch immer an Hitlers Wunderwaffe geglaubt hatte.


Das Gehirn bereitet den Menschen aufs Sterben vor, indem es vergisst. Die Vorstellung von Zeit ist ein Konzept von Sterblichen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr wird vergessen. Die Zeit ist ein Pfeil, der schnell vorwärts schießt, daran angebunden ein unendlich großer Sack, der sekündlich mit Vergessen gefüllt wird. Die Zeit ist ein Grab. Großmutters Geschichten werden mit mir sterben und damit in den Sack gefüllt. Ich werde in den Sack gefüllt. Es ist lächerlich, überhaupt darüber nachzudenken. Aber alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt. (Thomas Bernhard)


Vor einigen Jahren gingen Vater und ich die Straße entlang, in der er und Großmutter während der Kriegszeit wohnten. Er zeigte mir die Stelle, wo er auf eine Glasscherbe getreten war und sich dabei den großen Fußzeh abgetrennt hatte. „Und da hinten“, sagte er, „da wohnte der Soundso. Den habe ich während des Krieges immer beneidet und tue es im Grunde heute noch. Der hatte sich einen Unterstand in seinem Garten gebaut und jedes Mal, wenn die Sirenen einen Luftangriff ankündigten, ging er dorthin. Von da aus konnte er genau beobachten wohin die Bomben fielen. Wir saßen derweil im Keller, hatten Angst und wussten überhaupt nichts.“
Es ist beeindruckend zu erfahren, dass der eigene Vater einen Menschen heute noch beneidet, der sechzig Jahre zuvor nicht soviel Angst zu haben brauchte.


Eine Mutter sieht ihr Kind sterben. Leukämie. Die Ärzte haben getan was sie können und das war in diesem Fall nicht genug. Das Leben schleicht sich aus dem jungen Körper. Das Kind stirbt zu Hause, so will es die Mutter. Es erscheint ihr richtig, auch wenn sie weiß, dass sie damit die Wohnung und das Haus für alle Zeit vergiften wird. Es wird ein Totenhaus werden, mit einer Totenwohnung. Darin ein Totenzimmer. Auch das Kind lächelt nicht, als es gestorben ist, sondern sieht seltsam alt aus und erschöpft.
Einige Straßen weiter klingelt ein Prediger einer so genannten Sekte an einem Haus. Ein älterer Herr öffnet die Tür. Der Prediger erzählt vom Paradies und vom ewigen Leben. Der Mann meint daraufhin, dass ewig zu leben wohl doch langweilig wäre. Und alles so friedlich, nein, es brauche das Böse, um das Gute zu schätzen. Es brauche den Tod, damit die Lebenden wissen, was sie haben.


Der erste wirkliche Tote, den ich sah, war Großvater. Ich hatte einige Wochen bei meinen Großeltern verbracht und nun wollten wir gemeinsam mit der Bahn zu den Eltern fahren. Großvater ließ Plätze reservieren. Im letzten Wagon, weil es da am ruhigsten war und niemand in den Gängen stand. Als wir auf den Bahnsteig kamen, stand der Zug schon da und wir stiegen ein. Großvater las Zeitung und Großmutter stickte den armen Poeten von Spitzweg. Ich beobachtet sie dabei und schaute mir immer wieder das Gedränge auf dem Bahnsteig an. Schließlich hörte ich den Pfiff des Schaffners. Ein kurzes Rumpeln. Die Leute draußen winkten. Aber wir bewegten uns nicht. Großvater legte die Zeitung weg, schob das Fenster herunter und sah hinaus. Dann fing er an zu schreien. Ich weiß nicht mehr genau was, aber es dauerte nur einige Sekunden, da ließ er sich wieder auf den Sitz fallen, schaute meine Großmutter an und sagte: „Die haben den Wagon nicht angehängt.“ Großmutter legte den armen Poeten neben sich und blickte ebenfalls aus dem Fenster. „Das gibt es doch nicht“, sagte sie, „die können doch nicht ohne uns fahren.“ Großvater aber flüsterte nur noch: „Ich bin müde“, und im gleichen Moment fiel sein Kopf nach hinten und er war tot.


Borges glaubte nicht an die Unsterblichkeit. Nicht an eine persönliche, wohl aber an eine, wie er es nennt, kosmische. Von allem was man getan, gesagt und auch geschrieben hat, wird etwas bleiben, und sei es nur eine vage Erinnerung. Im Grunde aber ist diese Unsterblichkeit nichts anderes, als der Glaube an einen ewigen Kreislauf von Wiederholungen. Hatte ein Mensch vor tausenden von Jahren das tosende Meer bestaunt, und stehe ich heute genauso staunend davor, dann bin ich auch jener schon längst vergessene Mensch, da in mir ein Gefühl wohnt, das einst auch ihn erfüllte. Wenn ich Shakespeare lese, dann bin ich Shakespeare, weil seine Worte durch mich hindurchgehen. Lese ich Goethe, bin ich Goethe usw. Diese Unendlichkeit bringt keinen Trost für den, der sich eine individuelle Unsterblichkeit ersehnt. Nicht jeder denkt wie der Argentinier, der den Gedanken grauenhaft fand, für immer Borges zu sein. Wahrscheinlich sogar die wenigsten. Vielleicht hat er in dem Moment seines Todes auch anders gedacht und sich gewünscht, doch noch weiter Borges sein zu können. Seine Existenz in ein philosophisches Konzept einzubetten, ist eben doch nur eine metaphysische Krücke, die dazu dienen soll, unser Unbehagen vor der Ewigkeit einerseits und der Endlichkeit anderseits zu überwinden. Gleiches gilt für die Religion. Den Toten sind alle diese Dinge natürlich egal.


Großmutter hatte es fast geschafft. Das war zu hören. Immer länger wurden die Pausen zwischen den Atemzügen. Man wartete nur noch auf den Tod, sehnte ihn fast herbei. Der innere Abschied war vollzogen, man mochte es nun auch offiziell haben. Großmutter blieb aber noch für einige Minuten. Immer wieder ein tiefes, noch hartes Einatmen. Danach das Abstoßen der verbrauchten Luft. Vater hielt ihre schlaffe Hand. Sie hatte ihm das Leben geschenkt und einmal sogar gerettet. Gegen Ende des Krieges, als täglich die Bomber kamen, nahm Großmutter den Sohn aus der Schule und er musste mit ihr zusammen auf die Arbeit gehen. Dort spielte er auf dem Boden oder las Bücher. Wenn die Sirenen heulten, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder in eines der Erdlöcher, schnell in den Boden gegrabene Unterstände die allenfalls Schutz vor Bombensplittern boten, oder in den großen Bunker auf der anderen Seite der Kreuzung. Als wieder einmal die Sirenen losgehen, schnappt die Großmutter den Jungen, rennt die Treppen herunter und schlüpft in eines der Erdlöcher. Nochmals ertönt das Signal, warnt vor einem Großangriff. Einen Moment zögert sie, dann greift sie den Jungen an der Hand und rennt aus dem Unterstand. Die ersten Bomben fallen schon, als sie den Bunker erreicht. Sie schlägt gegen die Tür, die kurz aufschwingt und die beiden werden hineingesaugt. Drei Stunden bleiben sie dort und spüren wie die Stadt bebt und ächzt. Als es vorbei ist, schlüpfen sie ins Freie, überqueren die Kreuzung und kommen an dem Erdloch vorbei, in dem sie zuvor gesessen hatten. Es ist größer geworden. Ein Trichter, gefüllt mit zerrissenem Holz und Asphalt. Das Bein eines kleinen Jungen liegt am Rande des Trichters, sein Kopf etwas weiter links. Die Großmutter erinnert sich an ihn. Er hatte auf dem Schoß seiner Mutter gesessen und der Rotz war ihm die Nase herunter gelaufen, sodass Großmutter noch nach einem Taschentuch für ihn suchen wollte, aber da waren dann die Sirenen und sie hatte plötzlich andere Dinge im Kopf.


Nietzsches Gottesverleugnung war eine Abwehrreaktion, die ihn in den Wahnsinn geführt hätte, wäre er es nicht auch so geworden. Ist man einmal mit dem Gottesglauben infiziert, dann gibt es keine Heilung davon. Man wird bis zum Rest seines Lebens versuchen ihn entweder zu beweisen oder zu widerlegen. Loswerden kann man ihn nicht.


Dann starb Großmutter. Nach dem letzten Ausatmen war für einige Sekunden Ruhe. Noch ein lauter und tiefer Seufzer und es war endgültig Schluss. Als hätte man eine Maschine abgeschaltet. Mit der Ruhe brachen die Tränen aus. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Die Familie hatte dem Tod einen weiteren Tribut gezollt. Keiner dachte in diesem Moment daran, wer der Nächste sein könnte, aber dass es einen Nächsten geben wird, ist gewiss.


„Ein guter Ruf ist besser denn gute Salbe, und der Tag des Todes denn der Tag der Geburt. Es ist besser in das Klagehaus gehen, denn in ein Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, und der Lebendige nimmt's zu Herzen.“
(Prediger 7:1,2)

Klara
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Beitragvon Klara » 08.05.2010, 13:22

Hallo Sam,
das fängt so spannend an, dass ich es mir ausdrucke zum Lesen. Ist zu lang für Buchstabenflimmern.

Erstmal nur das:
"Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist." HAb grad keine Zeit zu ergründen, was daran unlogisch scheint. Ist nicht eher gemeint: Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie mit sich jedes Interesse verloren haben?

Erstes Gefühl: der Text hindert sich selbst am freien Assoziieren durch das Klammern an die Dichotomie Wissenschaft-Glauben. Er erhält dadurch eine insgeamt unlogische Bitterkeit, die dem Glauben bzw. der Religion übel nimmt, dass sie, aus wissenschaftlicher Sicht, falsch ist -

Und dadurch enstehen so viele Behauptungen, z.B.:

"Die Kluft zwischen Religion und Wissenschaft ist nicht zu überbrücken."
Und wenn diese Kluft exakt der Glauben wäre? Vielleicht sogar, einfach schwer, ans Leben?

"Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod ist eine klare Verneinung allgemein anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse."
Auch hier schwächelt das Argument des "allgemein anerkannt"en. Was wäre mit allgemeiner Anerkennung bewiesen? Wessen Richtigkeit? Dass wir eine Bundeskanzlerin haben, ist z.B. allgemein anerkannt. Und dass es wichtig ist, für jede Dienstleistung, die auf irgendeinem Markt unterwegs ist, Geld nehmen zu müssen, zu dürfen, auch. Ist es deshalb - richtig? Und vor allem, um noch mal auf die Kanzlerin zu kommen, sie zitierend: alternativlos? Sind bestimmte Erkenntnisse AUSSCHLUSSERKENNTNISSE, die nur funktionieren, wenn das andere falsch ist? Oder gibt es parallele Erkenntniswelten, die wir nur verlernt haben, wahrzunehmen, im Wortsinn: für wahr zu nehmen? Ich meine das nicht mystisch, sondern menschlich. Vielleicht will ich auf ein weibliches Denken hinaus, das es nicht gibt, wie sollte es, nur erstmal als parallele Idee. Dein Text zeugt von männlichem Denken. Ausschließendem Denken. KRIEG. Als dem Menschen (oder dem Mann?) immanent. Alternativlos: Es gibt Tod, es gibt das Wissen um Tod, also gibt es Krieg und Mord.
Ist das so? Und auch: Muss das so?
Wenn der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod eine klare Verneinung allgemein anerkannter "Erkenntnisse" ist - muss er ja deswegen nicht nichtig sein, nichtmal falsch. Denn auch die Wissenschaft kann das Gegenteil - nicht beweisen. Und auch das Beweisen wäre, als solches, und als einzig mögliche Instanz, der man sich beugen dürfte - eine Hypothese. Eine Setzung. Ein - Glaube?

Die Erklärung des KRieges aus dem Wissen um den Tod heraus erscheint mir ebenfalls noch nicht schlüssig, und auch ein klein wenig zu einfach.
"Der Mensch hat den Tod von Anfang an hingenommen. Deswegen war er auch stets dazu bereit, andere zu töten. Niemand, der den Tod nicht akzeptiert, wird je zum Mörder werden."
Wie kommt man zu solchen kategorischen Feststellungen?

"Das Wissen ums Sterben hat aus dem Menschen einen Mörder gemacht."
Man könnte genauso gut andersherum folgern: Erst das Morden produziert ein - tödliches - Wissen ums Sterben.
Im Übrigen mordet ja nun nicht jeder. Es wüsste dann nur der Mörder - um die Leerstelle nach dem Tod? Und wäre dieses Wissen nicht eher ein Grund mehr - NICHT ZU TÖTEN?

Du siehst, Sam: Dein Text bringt mich auf, interessiert mich, ich lese in Ruhe und sende später mehr.

Max

Beitragvon Max » 08.05.2010, 21:58

Lieber Sam,

den Anfang habe ich sehr gern gelesen - den Rest kann ich am Computer leider nicht lesen. Das geht irgendwie gar nicht und einen Drucker habe ich erst wieder daheim.
Ich hoffe, ich komme da zu einem ausführlicheren Feedback.

Liebe Grüße
Max

Quoth
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Beitragvon Quoth » 09.05.2010, 08:11

Hallo, Sam,
ein interessanter und anregend, ja, stellenweise amüsant zu lesender Essay über Tod und Sterben, exemplifiziert am Sterben Deiner Großmutter. Du hast sie mit Sicherheit sehr geliebt, diese Liebe hat Dir die Kraft gegeben, ihr Sterben so gnadenlos präzise zu beschreiben. Der subjektive Ansatz eines Essays erlaubt es Dir auch, zu Aussagen vorzustoßen, die nicht jeder, die auch ich nicht unterschreiben würde, z.B. "Der Mensch hat ein ihm innewohnendes Gespür dafür, dass nach dem Tod nichts mehr kommt." Andere Passagen hat Klara zitiert, und sie hat "männliches Denken" im Text geortet. Ich bin nicht sicher, ob sich das beweisen lässt, aber wenn ja, so macht das vielleicht gerade den Reiz des Essays aus - dass er es nicht allen recht zu machen versucht, sondern auf seiner Subjektivität besteht - wenn er auch schweres Geschütz auffährt und alle Gläubigen der Unwissenschaftlichkeit zeiht.

Sollte der Text durch die Lektüre meiner "Herkünfte" (auch dort stirbt eine Großmutter) angeregt worden sein, würde ich mich sehr freuen, ihn mit ausgelöst zu haben. Die orthographischen Flüchtigkeitsfehler sprechen dafür, dass er frisch ist. Aber auch wenn mein Text Dich nur veranlasst hat, diesen aus dem Archiv zu holen (dafür sprechen die zahlreichen literarischen Referenzen), wäre das doch eine ehrenvolle Resonanz!
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 09.05.2010, 09:31

Lieber Sam,

wieder ein Text, den ich spannend, interessant und "richtig" finde. Du bist der Schreibende und ziehst mich in deine Welt hinein, in deine Gefühls- und Gedankenwelt und überlässt es mir, eine eigene Position zu finden. Du willst den Leser weder verschrecken, noch überzeugen. Die genannten Autoren bilden eine Art unaufdringliches Kulturmotiv, die dem Text eine übers Individuelle hinausgehende Dichte verleihen. Da ist nicht Urteilendes, (über das Leben) nichts Beschönigendes (über den Tod).
Wie schön, dass es ein langer Text ist, ich habe ihn ausgedruckt, und beim Lesen gedacht, dass es von Schreibkunst zeugt, Spannung und Dichte solange aufrecht zu erhalten. Wie schnell erschöpfen sich die zu Worthöhepunkten aufgeschlagenen Schaumtürm(chen) und wie angenehm ist es, einen schwerpunktverankerten Text zu lesen, der sich und den Leser nicht verliert.
Wir haben alle diese Großmutter ...
Seit ich deine Geschichte / deinen Essay gelesen habe, schreibe ich auch an "einer". Die Form, eine klare Mischung aus Autobiografie und "Besinnungsaufsatz" ;) hat mir sehr gut gefallen. Deine Vorgehensweisse hat mich zu meiner Art der Gestaltung inspiriert. Das Sterben selbst kann ich vielleicht nicht beschreiben, aber diese Figur ...

Sehr, sehr gerne gelesen ... und, jetzt schreibe ich auch wieder!

Liebe Grüße

Renée

Klara
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Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 09.05.2010, 10:17

So. Gelesen. Also noch mal von vorn:
Und schon wieder etwas hilflos mit Fragen bewaffnet:

Auf welcher Ebene spricht man über den Text - wie wird man ihm am besten gerecht?
Wer spricht warum?

Da wäre die "autobiografische" Ebene, die ja ausdrücklich im Titel benannt wird.
Die philosophische Ebene.
Die männliche Ebene, die stilistische, die des Erzählbogens...

Ich kann dir nur Fragmente geben, doch das möchte ich gern, weil der Text stark nachklingt und eine Kraft hat, die mich an einer Stelle anrührt, die ich sonst nicht so oft wahrnehme, bei mir. (Das war die persönliche Leser-Ebene ;))

Die Großmutter scheint, so wie sie beschrieben wird, als Person beinahe zu verschwinden, ein interessanter Effekt: Sie verschwindet, als pars pro toto eines essayistischen Diskurses zum Objekt werdend, hinter all den allgemeinen Betrachtungen des - dennoch hörbar wie gepeinigten – Sprechers. Dessen Schmerz, so kommt es bei mir an, über einen Tod, der vielleicht schon eine Weile her ist, aber nicht nur individuell beschäftigt, sondern sozusagen eine Daseinsbedingung grob aufwirft (den Tod) der Erzähler nicht nur ausdrücken, sondern begründen will: die Unbedingtheit des Schmerzes, darf nicht sein ohne das Existenzialistische Todes-Hinterfragen, eine Absolutstellung von Diesseitigkeit. Die interessanterweise am Ende wieder ganz vorsichtig in Zweifel gezogen wird, unter Berufung auf ein fremdes, kosmisches Argument der Unsterblichkeit, dessen Billigkeit nicht mal thematisiert wird, und durch den Spuk..., ohne Aussicht auf Trost zwar, aber immerhin mit dem Angebot einer Möglichkeit: Es könnte auch anders (gedacht) sein.

Die reflektierenden Teile, die du zwischen die Beschreibungen schiebst, wirken unvermittelt, der Text wirkt auf mich insgesamt noch ein wenig roh gezimmert. (Was denkt eigentlich die Großmutter, frage ich mich lesend, über den Tod? Denn ihr und ihrem Sterben wird ja die Todes-Reflexion des Erzählers quasi unters Totenbett geschoben. Und doch glaubte sie ausdrücklich an Gott.) Ein „ich“ scheint fast unmöglich in diesem Text, es kommt dann auch immer wieder überraschend, kindlich fast. Obwohl „ich“ beinahe nur dann gesagt wird, wenn „ich“ Tote oder den Tod gesehen hat (in Dachau, den Großvater im Zug – hier auch beeindruckende Schilderung eines unvermittelten Sterbens im Zug, abgehängt, die gekonnte Metaphorik angenehm unprätentiös dargereicht mit einer nahezu uneitlen Selbstverständlichkeit, wie sie deinen Texten eignet).Einzige „ich“-Ausnahme, wenn ich richtig gezählt habe (bin mal mit dem „ich“-Finder über den Text gegangen): Der Spaziergang mit dem Vater. Da sagt der Erzähler „ich“, und niemand stirbt, sondern der Vater überlebt im Bunker.
(Ist der Absatz mit Thomas Bernard in der Klammer ein vollständiges Zitat?)

Unklar für mich, aber auch verlockend im Unklaren, die Schilderung der spiritistischen Sitzung zu Urgroßelternzeiten, das Spuken… Wo wäre die wissenschaftliche Erklärung? Die Abwehr? Die hier doch viel näher läge, als Reflex, als beim „allgemein anerkannten“ Glauben. Da ist eine Leerstelle… - ist die gewollt?
Die Essay/Philosophie-Ebene: Eine Schwäche der Argumentation scheint mir darin zu bestehen, dass gewaltsamer Tod (Krieg) und „natürliches“ Sterben, durch den von mir nicht nachvollziehbaren Kniff zu Beginn, in eine Klammer gefasst werden (ganz stark die emotionslose Beschreibung des toten Jungen im Erdloch: Man kann noch nicht mal weinen, so heftig wirkt die absurde Sinnlosigkeit, die kaum beachtete, wie irrelevante Grausamkeit – das ist eine große Stärke deines Schreibens: diese heftigen Bilder, hinter denen der Erzähler verschwindet, und in diesem Fall ist es ja sogar ein Erzähler aus zweiter oder dritter Hand: er hat es selbst erzählt bekommen, wieder und wieder womöglich, zumindest die Rettung des Vaters)

Der Erzähler wäre nicht ohne die Großmutter, wäre gleich doppelt nicht, weil sie nicht nur den Vater geboren, sondern ihm auch das Leben gerettet hatte. (Mein Sohn gab mir heute morgen ein selbstgebasteltes Schatzkistchen, erwartungsvoll auf meine Reaktion hoffend, drauf kleben ein paar Muscheln und Glitzersteine und Spiegelstückchen, ich sehe mein Auge darin, und in dem kleinen Karton liegt ein viermal gefalteter Zettel (er weist mich darauf hin: dass es viermal gefaltet ist, und dass sich dadurch 16 Teilknicke ergeben, denn Zahlen faszinieren ihn), auf dem er in seiner verblüffend ordentlichen Erste-Klasse-Druckschrift Gründe geschrieben hat, warum er mich lieb hat: „Ich habe dich lieb, weil du mit mir Eis essen gest. Ich mag es, wenn du mich ins Bett bringst. Du bist etwas Besonderes, weil du mich geboren hast. Ich habe ihn gefragt, ob ihm die Gründe diktiert wurden von der Lehrerin, die diese Muttertagsgabe mit den Kindern vorbereitet hat, doch die Lehrerin hat nur „Ich habe dich lieb, weil… Ich mag es, wenn… und Du bist etwas Besonderes, weil…“ vorgegeben. "Weil du mich geboren hast." Das ist ein interessanter Grund, finde ich. So - unverstellt. Vielleicht trifft er sogar das Wesen der Liebe.
Die Großmutter steht in einer Kette von Leben, vor ihr und nach ihr war Leben, das einander ermöglicht. Dies wäre ein Versuch nicht eines Trostes, sondern einer anderen Perspektive auf das Sterben, auf den Tod. Vielleicht gar einer weiblichen - mütterlichen?)

Noch ein anderer Gedanke: Durch die verwendete konkrete Sachlichkeit entsteht an mancher Stelle der Eindruck, dass der Text nicht nur den Tod – als philosophisches Faktum - ent-individualisiert, sondern auch das Leben.

Andererseits schätze ich gerade das an deinem Schreiben, Sam: die Zuwendung zum einzelnen, das Warme, das unter den pessimistischen Grundton einer fatalistischen Sachlichkeit sich duckt.

Sam

Beitragvon Sam » 09.05.2010, 11:52

Hallo Klara,

ich hatte gerade eine Antwort auf deinen ersten Kommentar fertig und wollte ihn abschicken, da war dann dein weiteres Posting. Ich versuche nun das alles zu kombinieren.

vielen Dank fürs Lesen und deine Gedanken zu diesem Essay. Es reut mich wirklich sehr, dass du dich so intensiv mit dem Text auseinandersetzt.

Zunächst wollte ich in meiner Antwort an dich auf den Grund eingehen, warum ich besagte Essayform gewählt habe, aber nun hat es Quoth in seinem Kommentar schon sehr gut zum Ausdruck gebracht. Der Essay erlaubt, Aussagen zu machen und Behauptungen aufzustellen, ohne dass diese, wie z.B. in einem Aufsatz oder Traktat bewiesen werden müssten. Er ist ganz und gar subjektiv, erlaubt Gedankenspiele und Schlussfolgerungen ohne Wahrheitsanspruch. Er ist ein Versuch und gleichzeitig Suche, soll nichts beweisen und nicht überzeugen, kann allenfalls anregen und aus der gedanklichen Bewegung beim Leser entweder ein Mitbewegen erzeugen, oder aber eine Gegenbewegung. Beides ist in meinen Augen gleich gut.
Ich werde also die Schlussfolgerungen, die ich in diesem Text geäußert habe nicht verteidigen. Bestenfalls kann ich erklären, warum ich es so und nicht anders formuliert habe.

Du hast Recht, wenn du sagst, dass die Großmutter im Text verschwindet, bzw. zum Objekt wird. Die Ursprungsfassung war mindestens doppelt so lange und gespickt mit Anekdoten, die das vermutlich geändert hätten, aber zu Lasten der Konzentration auf das eigentliche Thema. Aber das sind dann alles Dinge, die besser in Geschichten erzählt werden sollten.
Aus diesem Grund ist der Text auch keine Trauerarbeit (meine Großmutter starb im Dezember 2008, kurz vor Weihnachten), sondern wirklich eine Beschäftigung mit dem Tod und dem Sterben. Und dabei wird, wie du ja auch festgestellt hast, gewaltsamer und „natürlicher“ Tod zusammengefasst. Vielleicht weil dies die erschütternste Erfahrung war in Verbindung mit ihrem Tod: Dass auch er mir unendlich gewaltsam vorkam. Vielleicht resultiert daraus auch die von dir so genannte „Absolutstellung von Diesseitigkeit“. Vielleicht ist Angesichts des Todes die Diesseitigkeit desjenigen, der den Tod beobachtet immer absolut, zumindest für den Moment. Sonst gäbe es keine Trauer.

Du schreibst:
"Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist." HAb grad keine Zeit zu ergründen, was daran unlogisch scheint. Ist nicht eher gemeint: Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie mit sich jedes Interesse verloren haben?


Ich denke beide Formulierungen kommen auf dasselbe hinaus. Da jeder Mensch ein gewisses Interesse an sich selbst hat, verliert er mit seinem Tod auch sich selbst. Sicher ist der Grund dieses Interesseverlustets der Verlust des Selbst.
Meine Formulierung lässt das aber in sofern außen vor, als dass sie den Toten eine Handlung zubilligt (sich nicht interessieren). Das habe ich in Bezug auf das erste Zitat gemacht, wo es heißt, die Toten hätten den Lebenden ein Geheimnis voraus. Auch hier ist der Tote noch "aktiv" (ein Geheimnis voraushaben).


Erstes Gefühl: der Text hindert sich selbst am freien Assoziieren durch das Klammern an die Dichotomie Wissenschaft-Glauben. Er erhält dadurch eine insgesamt unlogische Bitterkeit, die dem Glauben bzw. der Religion übel nimmt, dass sie, aus wissenschaftlicher Sicht, falsch ist -


Ich denke diese Dichotomie wird im Laufe des Textes ein wenig aufgelöst. Nicht zuletzt durch die Begebenheit der Heilung durch einen Geist und der daraus resultierenden Spukgeschichte. (Warum aber hier keine Abwehr? Kein wissenschaftliches Gegenhalten?
Vielleicht aus dem Grund, auch Gegenpositionen zuzulassen. Als Zugeständnis an die Unerklärlichkeit. Wahrscheinlich, um mich selbst in Frage zu stellen.)
Im Übrigen könnte man es auch umdrehen und sagen, die Wissenschaft ist aus religiöser Hinsicht falsch. Ob der Text sich aber nun an der postulierten Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Religion festklammert, vermag ich nicht zu sagen. Wohl aber führt er Punkte an, wo diese beiden Felder miteinander kollidieren und sie denkenden Menschen eine Art von Entscheidung aufzwingt. Mit Logik kommt man nicht immer weiter. Das habe ich versucht in dem Abschnitt über die Evolution und den Glauben an eine unsterbliche Seele aufzuzeigen. Der dort angeführte Widerspruch ist nicht aufzulösen, die Kluft (in diesem Fall) nicht zu überbrücken. Du führst den Glauben an als jene Brücke, aber der Glaube ist ja schon eine der Seiten, die es zusammen zu führen gilt, denn an eine unsterbliche Seele muss man glauben, sie lässt sich nicht beweisen. Die Evolution dagegen gilt bei den meisten Menschen, zumindest in unserem Kulturkreis, als bewiesen. Deshalb meine Formulierung "allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse". Aber dennoch ist auch dies, und da hast du völlig Recht, eigentlich auch nur ein Glaube.
Es geht nicht darum, was nun richtig und was falsch ist. Was ich mir nun aber immer wieder denke, ist, dass es eben gewisse Dinge gibt, die entweder richtig oder falsch sind. Beides geht nicht. Man kann diese Frage bis nach ganz oben schrauben und sagen: Entweder es gibt einen Gott, oder es gibt keinen. Beides geht nicht.


Die Erklärung des KRieges aus dem Wissen um den Tod heraus erscheint mir ebenfalls noch nicht schlüssig, und auch ein klein wenig zu einfach.
"Der Mensch hat den Tod von Anfang an hingenommen. Deswegen war er auch stets dazu bereit, andere zu töten. Niemand, der den Tod nicht akzeptiert, wird je zum Mörder werden."
Wie kommt man zu solchen kategorischen Feststellungen?

Auch hier kann ich wieder nur auf den völlig subjektiven Ansatz des Essays verweisen. Und dieser Gedanke ruht natürlich auf einer konsequent biblischen Geschichtsinterpretation. (Adam und Eva, Kain und Abel). Aber darüber hinaus finde ich den Gedanken durchaus reizvoll. Hätte der Mensch kein Bewusstsein vom Tod, bzw. gäbe es ihn nicht, wäre noch nie jemand gestorben, würde dann ein Mensch zum Mörder werden?

Man könnte genauso gut andersherum folgern: Erst das Morden produziert ein - tödliches - Wissen ums Sterben.
Im Übrigen mordet ja nun nicht jeder. Es wüsste dann nur der Mörder - um die Leerstelle nach dem Tod? Und wäre dieses Wissen nicht eher ein Grund mehr - NICHT ZU TÖTEN?

Nein, natürlich mordet nicht jeder. Es geht darum, dass der Mensch fähig ist zu morden. Und die von dir angeführte Frage ist doch ein riesig Paradox. Der Mensch weiß um die Leerstelle nach dem Tod und mordet trotzdem. eigentlich müsste es doch umgekehrt sein, oder? da dem nicht so ist, kann man also auch den Umkehrschluss ziehen: wüsste der Mensch nicht um diese Leerstelle, würde er nicht morden.

Die Großmutter steht in einer Kette von Leben, vor ihr und nach ihr war Leben, das einander ermöglicht. Dies wäre ein Versuch nicht eines Trostes, sondern einer anderen Perspektive auf das Sterben, auf den Tod. Vielleicht gar einer weiblichen - mütterlichen?)

Du erwähntest ja, dass du den Text für „männlich“ hältst, und das ist er wohl auch, bei all der Subjektivität und der Tatsache, dass ich nun mal ein Mann bin. Mit dem Gedanken der Kette des Lebens habe ich mich ja auch befasst. Das ist ein Trost, der aber das Individuelle außer Acht lässt. Und somit eigentlich kein Trost ist. Aus diesem Grund gibt es den Absatz über die Hinrichtung (die Einmaligkeit eines jeden Lebens), aber auch den über Borges.

Von Thomas Bernhard stammt die Aussage: „Alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“


Ich danke dir nochmals herzlich für deine so tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Text. Das schätze ich ungemein! Und entschuldige bitte, wenn ich (nicht aus Absicht) nicht auf alles eingegangen bin, was du geschrieben hast.


Hallo Max,

freut mich, dass du den Einstieg schon mal interessant und spannend fandest. Ich hoffe, der Eindruck bleibt, wenn du alles in Ruhe gelesen hast.


Hallo Quoth,

auch dir vielen Dank für deinen Kommentar. deine Einschätzung eines Essays und seiner Subjektivität teile uneingeschränkt. Gerade deswegen habe ich diese Form auch gewählt.

wenn er auch schweres Geschütz auffährt und alle Gläubigen der Unwissenschaftlichkeit zeiht.

Nun dem mag ich ein klein wenig widersprechen. Ich habe es versucht in meiner Antwort an Klara ein wenig zu erläutern. Es geht nicht um Glauben vs. Wissenschaft, auch nicht darum, dass wer glaubt unwissenschaftlich ist. Am allerletzten darum, was nun richtig oder falsch ist. Aber, so denke ich, gibt es doch Dinge die nur entweder richtig oder falsch sein können. Und das von mir angeführter Beispiel (Evolution/unsterbliche Seele) ist eine solche Sache.

Der Essay selbst entstand während des letzten halben Jahres. Ursprünglich war er doppelt so lange. Vor einigen Wochen habe ich alles Anekdotenhafte entfernt, um eine gewisse Konzentration auf das Thema beizubehalten.
Ich wollte ihn dann schon einstellen, aber da ich weiß, dass mir bei längeren Texten immer eine Menge Schreibfehler durchgehen (von Kommas gar nicht zu reden), habe ich ihn wieder und wieder Korrektur gelesen.
Und ja, nachdem ich deinen Text gelesen und kommentiert hatte, beschloss ich, den Essay einzustellen. Es tut mir leid, dass da immer noch einige Fehler drin sind.


Hallo Renée,

Ich dank dir herzlich. Schön, dass du die Lektüre so genossen hast. Und dass es mir gelungen ist, dir den nötigen Freiraum für eigene Überlegungen zu lassen. Überzeugen wäre das Letzte, was ich gewollt hätte. Jedenfalls ich all das, was du an positivem über diesen Essay sagst, genau das, was ich mir vorgestellt habe, wie er sein sollte.
Und wenn er dich zu einem eigenen Text inspiriert hat, um so besser. Ich bin schon gespannt darauf.


Euch Allen nochmals herzlichen Dank!

Gruß

Sam

Mucki
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Beitragvon Mucki » 10.05.2010, 00:26

Hallo Sam,

ein spannender Text ist das hier. "Ein autobiografischer Essay" ist in meinem Augen einerseits ein Widerspruch. Wie kann eine Abhandlung gleichzeitig auch autobiografisch sein? Auf der anderen Seite ist dies aber auch raffiniert gestrickt, finde ich. Da durch den Begriff "Essay" quasi die "Erlaubnis" für dich als Autor erteilt wird, apodiktische Aussagen zu treffen. Und diese Aussagen, derer sich viele in deinem Text finden, dürfen in einem Essay absolut subjektiv sein. Durch den Zusatz "autobiografisch" dürfen sie zudem ziemlich persönlich sein und durch die authentischen Erlebnisse wird das "autobiografisch" doppelt untermauert. Zugleich entziehst du damit dem Leser das "Veto-Recht", das "Ja, aber ...". Natürlich bieten deine Aussagen dennoch endlosen Stoff für philosophische und andere Diskussionen, was den Tod angeht, und das bei jeder einzelnen Aussage. Ich denke, du hast keine Sichtweise, keine Beleuchtungsnuance ausgelassen. Alle sind vertreten.

Für mich ist diese parallele Betrachtung des Todes ein interessantes Experiment, vortrefflich geschrieben.
Doch habe ich die "echten" autobiographischen Passagen besonders gerne gelesen. Ich weiß ja um deine Fertigkeit, einen Faden immer wieder aufzunehmen und wurde hier auch nicht enttäuscht. So gierte ich regelrecht nach der nächsten echten autobiographischen Szene. Du beschreibst die Ereignisse derart sachlich (z.B. die Szene mit dem Jungen, Arm und Kopf), dass sie mich regelrecht erschüttern, eben durch diese Sachlichkeit. Durch die Essay-Abschnitte wurde ich immer wieder rausgeworfen, im Sinne von: Menschenskinder, ich will wissen, wie es mit der Großmutter weitergeht. Jetzt muss ich mich wieder mit einer neuen Feststellung auseinandersetzen. Am liebsten hätte ich diese Feststellung einfach überlesen. Aber auch da hast du mich am Haken, weil eben auch diese Passagen sehr reizvoll und reizbar sind. Fängt schon mit der ersten an (mit dem Geheimnis) und ich, als Leserin, darüber nachdenke. Ich kann es nicht einfach so runterlesen. Ich bleibe dort und in meinem Kopf geht es turbulent zu. Einerseits, weil ich mich darüber ärgere, dass du mich immer wieder rauswirfst aus der authentischen Geschichte und andererseits immer wieder zum Nachdenken anregst. Dies ist ein Text, den man nicht in einem durchlesen kann. Das heißt, man kann schon, aber dann entgeht einem zu viel.
Wie du siehst, stellst du eine Menge mit mir an mit deinem Text.

In deinem Kommentar sagst du, dass du etliche Anekdoten entfernt hast, die Geschichte sehr viel länger war, was ich sehr schade finde. Klar, im Sinne deiner Intention eines Essays war dies konsequent, doch ich persönlich würde sehr viel lieber die ganze, echte Geschichte der Großmutter mit tausen Anekdoten lesen, weil du sehr fesselnd schreibst, wie man hier ja schon wunderbar sieht, wenn auch nur fragmentarisch. Wie würde dann erst die ganze Geschichte aussehen.

Saludos
Mucki

Yorick

Beitragvon Yorick » 10.05.2010, 16:31

Hallo Sam,

ich schließe mich Gabriellas Kommentar so ziemlich genau an.

Viele Grüße,
Y.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 10.05.2010, 23:35

Lieber Sam,
Mir hat diese konsequent durchgeführte Mischform zwischen Erlebtem und den ebenfalls erlebten Zu-gedanken gleich gefallen. Das erinnert mich an Barthes und seine Notizen zum Tod seiner Mutter. Wozu dienen die essayistischen Werke, die wir lesen, wenn nicht zur Begleitung - zu Begleitkrücken, bei Erlebnissen jedweder Art.

Dabei finde ich den Anfang nicht so gut. Dieses Lächeln der Toten irritiert mich und ich glaube, es ist die einzige Stelle, die ich brutal (.... widahm) finden könnte. Dadurch hebt sich allerdings der Anspruch sofort, und ich lese gespannt weiter.
Ernst Morwitz, ein Freund Stefan Georges, sagte: „Die Toten lächeln, weil sie ein Geheimnis vor uns voraushaben.“ Dies bemerkte er, weil andere Freunde des gerade verstorbenen Dichters dessen Totenantlitz als erhaben und nach Innen lächelnd beschrieben hatten.


Diese zwei Sätze empfinde ich ebenfalls als problematisch:
Warum hätte sie lächeln sollen wegen eines blöden Geheimnisses, das die Toten überhaupt nicht interessiert? Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist.

So fände ich es klarer, prägnanter:

" Warum hätte sie lächeln sollen? Wegen eines blöden Geheimnisses? Die Toten interessiert gar nichts mehr, da sie alles verloren haben, was von Interesse ist, das vermuten wir jedenfalls."

Die folgende Passage über Selbstmord führt über zu einer eindringlich-kalten Beschreibung der Agonie. Die Parallele zwischen beiden deutet an, und lässt unausgesprochen, was sich der im Leben stehende Betrachter für den Sterbenden Wünscht.

Bei der inneren Debatte über Glaube und Religion kommt mir der Erzähler näher, er steht für mich im Mittelpunkt, seine Großmutter und ihr Sterben stehen für mich stellvertretend für alle Großmutter, für alles Wegsterben der Generation, deren Sterben uns "natürlich" erscheint. Der Tod wird in seinen Erscheinungsformen dekliniert: Selbstmor, Krankheit, Mord. Der Tod als Erfinder des Mordes. Das mag schon sein. Wie die Sättigung das Kochen erfindet, oder die Muttermilch den Alkoholismus oder andere Formen der Abhängigkeit ..

Dann kommen wir zum "Geist der Erzählung", der mich an "der Erwählte" von Thomas Mann erinnert. Auch hier ist der Geist ein Bindeglied zwischen narrativer und philosophischer Ebene.

Die Anekdote vom heilenden Geist (und nicht vom Heiligen Geist) passt, weder stört sie, noch erwarte ich sie - ich gehe einfach mit den vorgeschlagenen Wegen mit.

Orwells Bericht über eine Hinrichtung, und die Ereignisse aus dem Leben de Großmutter zeigen deutlich die Verknüpfung von Schreiben, Lesen mit Leben und Tod. Beschreiben wie es war, was gewesen ist, betrifft nie eine Abbildung der Ereignisse wie sie waren. Es betrifft aber den zum Scheitern verurteilten Versuch, aus dem Leben eine Art Konzentrat herauszufiltern, das zur lesbaren (konsumierbaren) 'Geschichte' würde. Schreiben=töten (sterben).

Wie gesagt, ich folge dieser Aufeinanderfolge von real (konzentriert) Erzähltem und dem Forschen in Erzählspuren anderer (Borges) mit steigendem Interesse. Es stellt sich mir höchstens die Frage, woher kommt die Behauptung "den Toten sei alles egal"?
Aber der Text funktioniert als ein Text, der diese Frage bewirkt.
Diese Stelle gefällt mir besonders:
Das Gehirn bereitet den Menschen aufs Sterben vor, indem es vergisst. Die Vorstellung von Zeit ist ein Konzept von Sterblichen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr wird vergessen. Die Zeit ist ein Pfeil, der schnell vorwärts schießt, daran angebunden ein unendlich großer Sack, der sekündlich mit Vergessen gefüllt wird. Die Zeit ist ein Grab. Großmutters Geschichten werden mit mir sterben und damit in den Sack gefüllt. Ich werde in den Sack gefüllt. Es ist lächerlich, überhaupt darüber nachzudenken. Aber alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt. (Thomas Bernhard)


Die Einbettung des Todes der Großmutter zwischen Nietzsche, einer Krankheit 'zum Glauben' und die Passage aus den Predigern ist ebenfalls sehr gelungen. Der Tod ist nicht nur eine Tatsache, er ist nicht nur der Einbruch der Realität in die Illusion von zeitlosem Fortleben, er ist auch denkwürdig ...

Die ausführlichen Kommentare zeigen das ...

Stundenlang diskutieren könnte man.

Im Laufe meiner Überlegungen stieß ich auf Blanchot, der sagt, dass Schreiben und Sterben das selbe sei. Die Aktivität des Schreibens hole den Menschen aus dem Bereich des Lebens heraus und setze ihn unter die Toten, als einer von ihnen.

Das empfinde ich auch und glaube so etwas in deinem Text gespürt zu haben ...

lG
Renée

Quoth
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Beitragvon Quoth » 11.05.2010, 07:43

Auch für mich ist das gefundene (und erarbeitete) Gleichgewicht zwischen Autobiografischem und Gedanklichem der Hauptreiz des Textes. Meister Montaigne lässt grüßen ...
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 11.05.2010, 08:46

hallo sam,


war für mich harter stoff zu lesen (der tod meiner mutter liegt noch nicht weit genug zurück... ), auch, wenns guter stoff ist.


"die pornographie des sterbens" las ich da irgendwo in deinen zeilen.
für jemanden, der der eigenen mutter beim todeskampf ähnlich genau zugesehen hat wie du deiner großmutter, hat auch dein text diese grenze fast erreicht, wo man sagt "ich würde mir gern selbst aussuchen, ob und wann ich mir das so genau (nochmal) vor augen führen möchte".

diese wahl lässt einem die literatur aber nicht. und das ist auch teil ihrer bestimmung, wie ich es sehe.

dennoch - ich habe gemerkt: dieses wieder-erkennen von etwas so intensiv nahegehendem wie dem sterbenskampf der eigenen mutter (oder großmutter) hat zugleich gepackt und auch gar nicht mal abgestoßen (das tun pornos ja auch nicht wirklich bei genauerer betrachtung) - im gegenteil: ich selbst habe mich beim lesen deines textes dabei beobachtet, wie ich manches sehr bewusst wieder weit von mir schieben musste, nachdem ich durch den text nochmal sehr genau hingesehen habe. (die bilder im kopf sind ja eingebrannt und zwar bis in details, die man mit der macro-linse fotografieren hätte müssen, um sie anderen sichtbar zu machen).

genau das macht auch dein text: solche details (für mich wieder) sichtbar. unbarmherzig. genau. treffsicher.

im gegensatz zu renee würde ich die ergänzung "das vermuten wir jedenfalls" nicht brauchen und auch nicht haben wollen. ist nicht alles, was wir über das sterben sagen, denken, feststellen auf einer ganz bestimmten ebene immer nur vermutung? aus eigenem erleben können wir ja nicht sprechen.
und dass dieser text keinen wissenschaftlichen anspruch hat, ist für mich so klar, dass diese vermutungs-anmerkung eher "geschwafelt" wirken würde. und auch als zu weit weg von der stimme (betroffenheits-ebene) des autors, der ja hier spricht - und zwar höchst persönlich.


dieses hin- und herspringen zwischen selbst-erlebtem (dem, was das sterben mit mir als augenzeuge und angehörigem und auch-mal-sterben-werdenden macht) und zitiertem wissen und theorien macht mE. dasselbe, was auch ich so empfunden habe (damals am sterbebett und jetzt beim lesen): genau hinsehen und dann dem impuls folgen, wegzuschieben. möglichst weit. zu versachlichen. um damit klarkommen zu können.

und genau DAS macht diesen text für mich sehr "nah". er greift mich dadurch tief an - auch auf einer ebene, die mit dem inhalt nichts direkt zu tun hat. aber das thema "tod" und "letzter gang" wird dadurch sehr lebendig. die frage "wie werde ich das mal erleben, wenn meine zeit gekommen ist?" ist hier indirekt das eigentliche thema. ist es ja immer, wenn jemand im allernächsten umfeld stirbt.

der text wird dem hier mehr als gerecht. daher hab ich ihn zwar nicht gern gelesen im sinne von "genüsslich", aber gern im sinne von "ich lese sehr gern, wenn jemand einen inhalt so darstellt, dass er im lesen für mich zu einer wahrheit wird für diesen moment".


ein wahrhaftiger text also. eine seltenheit.
daher bin ich definitiv froh, ihn gelesen zu haben. (auch, wenn ich jetzt wohl eine runde trauern und nochmal-verarbeiten gehen muss).


herzlicher gruß,


keinsilbig

Sam

Beitragvon Sam » 11.05.2010, 19:50

Hallo Zusammen,

habt recht herzlichen Dank für eure Kommentare! Ich werde die Tage noch ausführlich auf das eingehen, was ihr geschrieben habt. Im Moment fehlt mir leider die Zeit. Ich freue mich aber sehr, dass ihr euch so intensiv mit dem Text auseinandersetzt.

Gruß

Sam

Nicole

Beitragvon Nicole » 12.05.2010, 10:54

Mein Liebster,
Du kennst mein Herangehen an Texte und auch meine sehr subjektive Beurteilung um zu entscheiden, was ich mag… Nun, diesen Text mag ich. Mag ihn sehr.
Ich kenne die „lange“ Version. Die erste, die Du nahezu in einem Rutsch geschrieben hast. Sie war gespickt mit kleinen, eigentlich völlig unwichtigen Anekdoten, die nach warmem Griespudding rochen, sich der Wärme des Bettes der Großmutter noch erinnerten, um das sich drei Brüder stritten und in denen das Lachen der Großmutter leise nachklang. Auch diese Version habe ich sehr gemocht und hoffe, dass diese Geschichten, die es wert sind zu erzählen, auch irgendwann in „gefeilter“ Form geschrieben werden.
Aber, nachdem ich diese Version nun mehrfach gelesen habe, gebe ich Dir Recht. Das wäre eine andere Geschichte, die auch ein andermal erzählt werden sollte. Hier schwingt noch ein wenig der Wärme mit, ohne Pathos, wie es Deine Art ist, und umfasst den eigentlichen Kerngedanken des Textes damit so geschickt, dass die widerstrebende, trotzige Auseinandersetzung mit Gott oder auch nicht Gott, Unsterblichkeit und Tod einen Rahmen bekommen, der diese Gedanken nachfühlbar und mitdenkbar machen. Ich bin fast schockiert, wie gut es Dir gelingt, einen Bogen zwischen den Bilder zu schlagen und damit die einzelnen Thesen, die für sich genommen fast ketzerisch wirken, so eindrucksvoll zu präsentieren, das dem Leser im ersten Augenblick kein Widerspruch bleibt. Und die Gewissheit, dass sich die Gedanken noch lange mit dem Gelesenen beschäftigen werden. Tut mir leid, wenn ich jetzt überschwänglich werde, aber das ist brillant. Jede andere Form, die man möglicherweise hätte finden können um Gedanken über die Diskrepanz zwischen der religiösen Doktrin des „Gott hat’s gegeben und Gott wird, wenn es ihm beliebt, uns zu sich holen ins Paradies (wenn wir nur brav genug waren!)“ und der wissenschaftlichen Betrachtungsweise „Evolution“ hätte den Leser möglicherweise schnell in eine widersprechende, ablehnende Position gebracht. So findest Du eine Klammer, die dazu führt, das die Gedanken sich langsam setzen können und der Leser quasi erst nach Ende der Lektüre (lange danach) merkt, was Du ihm da serviert hast und dann, ohne spontane Ablehnung, darüber nachdenken kann. Ich klinge wirr? Nun, das macht nichts, spiegelt es doch wieder, welche Purzelbäume meine Synapsen gerade schlagen.

Nicole


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