Waschen, Schneiden, Legen (Pfingstprotokoll)
Verfasst: 24.05.2010, 21:12
Waschen, Schneiden, Legen: Pfingstprotokoll
Vorher. Diese freien Tage sind anders geplant. Nicht durchgestylt, aber als angenehme Unterbrechung, als Mußezeit, mit Schwimmbad, Bewegung, viel Luft für Kind und Kegel. Eine Kurzreise aufs Land, Freundin der Kinder mitnehmen, ein paar Sonnenstrahlen erwarten, etwas Ruhe und, so Gott will, könnte auch gern ein guter Geist mit irgendeiner klasse Botschaft kommen. Er wäre hochwillkommen.
Kommt aber nicht. Schickt seinen Cousin, den Unfall.
14.10 Uhr, Beginn der Kettenreaktion: Schreie. Der Sohn fällt, einfach so, beim harmlosen Fußballrangeln mit seiner Schwester. Der Sohn schreit (man kann das intuitiv unterscheiden: es ist nicht jenes genervte Wehtun-Schreien des „Mach-endlich-dass-es-weg-geht-Mama“, sonders dieses drängende, das sofortige Reaktion verlangende Schreien einer bösen Verletzung). Die Tochter schreit „Mama, Anton hat irgendwas Schlimmes“ . Die Mutter erschreckt, reagiert ebenfalls schreiend, bevor sie die Lage überhaupt einschätzen kann („WasistpassiertverdammteScheiße!“), stürzt hin zum Sohn, sieht einen sechseinhalbjährigen Ellbogen, der absolut nicht so aussieht, wie ein sechseinhalbjähriger Ellbogen aussehen soll (eine Art Kugel wölbt die Haut nach außen), ist paradoxerweise erleichtert, denn die rasch von irgendeinem Teufel eingespielten Horrorbilder – klaffende Kopfwunde, BLUT, Schnitt im Hals, TOD, Nagel im Auge, GENICKBRUCH – sind offenbar für diesmal von der Wirklichkeit nicht bestätigt.
14.15 Uhr. Man rast ins 30 km entfernte Krankenhaus, den schreienden Sohn im Ohr, hilflosen Trost murmelnd, innerlich flehend „bitte lass ihn nicht ohnmächtig werden“, hoffend noch, es sei „nur“ ein ausgekugeltes Gelenk, das „nur“ unter Narkose „mal eben“ wieder reingedreht gehört.
15.15 Uhr. Der vom überforderten Assistenzarzt herbeigerufene Oberarzt des regionalen Krankenhauses spricht nach dem Röntgen nicht nur von Dislokation, sondern auch von Fraktur und OP. Er legt einen provisorischen Gips an. „Fahren Sie nach Berlin, er hat ja zwei gesunde Beine und ist transportfähig. Ich gebe Ihnen die Röntgenbilder auf CD mit.“ Sprich: Er traut sich oder seinen Leuten die Operation nicht zu, verfügt weder über Unfall- noch Kinderchirurgie.
16.00 Uhr. Die Schwester des Patienten und ihre Freundin bei der Oma lassen. Den von Schmerz und Schreien erschöpften Sohn im Regionalexpress nach Berlin bringen, Ankunft 18.19 Uhr. Taxi suchen, „ich kann nicht so schnell, Mama!“, „ins Klinikum Westend bitte“.
18.42 Uhr Notaufnahme Anmeldung. Warten, Hoffen, Verkrampfen, Trösten, Durst, Hunger, Schwitzen, Frieren, die hartnäckige Migräne ignorieren, sich selbst den Nacken massieren, den Sohn auf den Schoß nehmen, ihn (und sich selbst) um Geduld bitten, ein debiles Bilderbuch vorlesen, das auf Bitten des Jungen nach drei Sätzen abbrechen, auf Kaffee aus dem Automaten verzichten, raten, was die anderen haben, zur Untersuchung gerufen werden.
20.00 Uhr Im Untersuchungsraum weiter warten. Die Dehnzeit verblüfft zur Kenntnis nehmen. Trösten. Sohn am Einschlafen hindern. Kein Handy dabei haben. Ärzte kommen und gehen, mit Erklärungen oder ohne, mit Handschlag oder ohne, Krankenschwestern hin-und-her, jede und jeder mit dem am Boden klebenden Schritt, schwapp-schwapp, alle mit einer ähnlich patenten Art zu gehen. Der Oberarzt der Unfallchirurgie hat grad den Dienst angefangen und wirkt frisch, autoritär, kompetent. „Ich werde operieren.“ Verantwortung abgeben müssen, und wollen. Informationen erhalten. Fragebögen ausfüllen, Risiken unterschreiben.
20.45 Uhr. Staunen über eine unglaublich freundliche Belegschaft (immerhin hat dieser Nachtdienst statt an einem Feiersonntag vor einem Feiermontag). Die Schwestern spendieren Kräutertee, machen nette Sprüche und veranstalten insgesamt eine Atmosphäre des „Keine Sorge, wir kümmern uns“. Man erinnert sich an andere Aufenthalte hier, mit anderen Kindernotfällen (Schlüsselbeinbruch, Hautverbrennung … und dieses Gefühl dabei, das man nicht beschreiben kann: eine Mischung aus Bangen, Notwendigkeit, Geworfensein, aber auch Gebrauchtwerden, auch Zuversicht), als man ähnlich kompetent und freundlich versorgt wurde, weshalb man auch jetzt, mit dem gebrochenen, dislozierten, sechseinhalbjährigen Ellbogen spontan lieber hierhin fuhr anstatt in die Riesenmaschine Charité oder Virchow. Ungefähr 20 Mal laut, leise oder stumm aus voller Seele „Scheiße“ sagen. Dem Sohn ein Gleiches erlauben.
21 Uhr. Durch die „Schleuse“, „Zutritt verboten“. „Geben Sie ihm ruhig noch einen Kuss“, rät der junge Anästhesist. Der Junge steht schon unter Drogen, liegt kurz vorm Wegdämmern, dennoch wird er am kommenden Morgen das Legen der Kanüle als sehr schmerzhaft beschreiben, sobald er seine Sprache wieder hat detailliert berichten. „Raus mit Ihnen“, sagt der Oberarzt.
Warten. Sitzen, Gang rauf und runter gehen, pinkeln. Weiterwarten. Sich an die seltenen eigenen Narkotisierungen erinnern, an das schöne weiße Wegdämmerndürfen, das hässliche graue Aufwachenmüssen samt Übelkeit und Schmerz. Weiße Wände anstarren, internationale Putzfrauen ihre Arbeit verrichten sehen, die Videokamera entdecken, sich fragen, ob man live beim In-der-Nase-Popeln beobachtet wird. Sich einen Gesprächspartner wünschen, oder einen Arm um die Schulter. Froh sein, nicht reden zu müssen. Kein Buch dabei haben. "Gala“ in die Hand nehmen ( top news: kleine Kinder sind immer noch „in“ in Hollywood, solange sie schick angezogen sind). Sich Sorgen machen – warum dauert das so lange? Man sollte doch um 22 Uhr hereingerufen werden? Die OP-Lampe grellt rot wie ein Warnsignal (komplizierter Bruch, erfährt man später, langwierige Fummelarbeit).
23.30 Uhr, endlich in den Aufwachraum können, doch der Junge schläft und darf das auch, weil die Geräte ("Sättigung" 99) und die Gesichtsfarbe (frischrosa) melden: alles ok. Sich überflüssig fühlen. Small talk mit den Anästhesisten. Warten auf die Kinderschwester. Gemeinsam den Jungen auf dem Krankenbett durch kalte Keller auf die Kinderstation rollen. Informationen über Dusche, WC und Teeausgabe entgegennehmen. Lächeln und freundlich sein, man ist todmüde aber angewiesen.
24 Uhr. Das Klappbett für das begleitende Elternteil aufschlagen, beziehen, das Loch im Magen spüren
00.15 Uhr endlich selbst hinlegen, die Plastikplane unterm Laken des Behelfsbettes spüren (man könnte ja einnässen, im Krankenhaus weiß man nie). Jede Stunde wach werden, weil die Schwester Fieber und Puls misst. Die ganze Zeit diese unsagbare Liebe für ein Kleines noch mal durch die Gefahr potenziert spüren, die einzige Liebe, die man kennt, die unbedingt bleibt und lebenslang währt, keine Erschöpfung duldet und doch in diesem Moment (denn er schläft und heilt sich und hat alles, was er braucht) gar nicht nötig wäre. Was macht er auch für Sachen. Nüchtern und sentimental und ohne Ärger sein. Staunen über das Rausfallen, das plötzliche, das Fallen aus der Zeit in diesem Raumschiff übergeordneter Wichtigkeiten und durchstrukturierter Planung: Ein medizinischer Notfall lehrt Abstraktion, Demut, Prioritäten, Dankbarkeit und hinterlässt ein heiseres, leiseres Flüstern, mitten in der Stadt, mitten in der Nacht.
02.12 Uhr, 03.20 Uhr, 04.30 Uhr, 05.46 Uhr. Die unterschiedlichen Geräusche des Morgens wahrnehmen, das Immer-Wieder-Einschlafen hinnehmen, das veränderliche Licht registrieren, die bunten Vorhänge, eine Ruhe, das leise Schnarchen des Jungen hören, sein schwitziges Gesicht streichen, das kleine Beutelchen, das aus dem Verband hängt und restliches Blut sammelt (es wird ihn faszinieren, wenn er wach wird) nicht berühren, halbwach seinen Schlaf begleiten.
07.00 Uhr. Aufstehen, duschen, in die dreckigen Klamotten zurück steigen. Sich von der Tagschwester begrüßen lassen. Dem erwachten Sohn zu bequemerer Lage verhelfen. Mit ihm frühstücken und jeden Bissen genießen. Feststellen, dass er verschiedene Strümpfe, ein vollgekleckertes T-Shirt und dreckige Fingernägel hat. Sich vornehmen, vor dem nächsten Unfall darauf zu achten.
09.00 Uhr Warten. Den Sohn zur Toilette begleiten. Es geht ihm gut: Er quatscht schon wieder am Stück.
10.15 Uhr Wieder durch die Kellergänge (diesmal mit Rollstuhl, diesmal mit der Schwesternschülerin) von der Kinder- zurück in die Unfallstation. Warten. Noch mal röntgen. Verband aufschneiden. 8 cm Wunde mit blauem Faden bestaunen. Sich wundern, dass dem mit frischer Unterhose und warmer Kinderjacke herbeigeeilten Vater beim Anblick der Naht schlecht wird, dem Sohn aber nicht.
10.30 Uhr. Neuer Verband. Halber Gips. Anweisungen („in einer Woche Fäden ziehen, … Sprechstunde Dienstag 14 bis 17 Uhr… dann der richtige Gips, vier Wochen mindestens, in sechs bis zehn Wochen Schraube und Draht raus“…)
11.00 Warten. Drängeln. Regen. Taxi. „Können Sie bitte unterwegs bei einem Bäcker halten, der auf hat.“ Der grummelige Fahrer ist findiger als erwartet. Brötchen holen. „Was für’n Wetter“, schimpft er noch. „Ist nur der Kachelmann dran Schuld. Ist doch’n Witz, dit Janze.“ Sich aufraffen, das nicht so stehen zu lassen: „Seine Frau findet das Ganze wahrscheinlich weniger lustig.“ „Hm-gr-hm.“
12.15 Uhr. In der Wohnung ankern. Jetzt bloß nicht heulen, sich nicht leidtun, man hat der Hafen zu sein, und nicht das schwankende Boot. Kaffee. Darauf einstellen, dass die kommenden Wochen hart werden: Zwar ist der schlimmste Schmerz vorbei, aber das Schwierige kommt erst noch: Kein Ballspielen, kein Toben, kein Klettern, kein Schwimmbad, kein Irgendwas, das Spaß macht. Wochenlang. Vielleicht Monate. Und das bei einem Kind, das schon ausflippt, wenn es ein paar Stunden nicht genug Bewegung bekommt.
15.00 Uhr. Heile-Welt-Kuchen backen. Einen eigenen Gesundheitssegen erfinden – einen mit Kussluft und Duft von frischem Warmen aus dem Ofen. Puzzlespiele und Memory bereit legen.
17.00 Uhr Das Gewitter pladdern hören. Gemeinsam lachen über das oder etwas anderes.
21.00 Uhr. "Tatort" verpassen. Stattdessen dies hier schreiben, ohne zu wissen für wen und warum (interessiert doch keinen, der Privatmist), irgendwie nicht loslassen können, irgendwie denken, dass das ganze doch einen Sinn haben muss – eine Botschaft?
So viel zum Heiligen Geist 2010. Er möge sich bessern.
Vorher. Diese freien Tage sind anders geplant. Nicht durchgestylt, aber als angenehme Unterbrechung, als Mußezeit, mit Schwimmbad, Bewegung, viel Luft für Kind und Kegel. Eine Kurzreise aufs Land, Freundin der Kinder mitnehmen, ein paar Sonnenstrahlen erwarten, etwas Ruhe und, so Gott will, könnte auch gern ein guter Geist mit irgendeiner klasse Botschaft kommen. Er wäre hochwillkommen.
Kommt aber nicht. Schickt seinen Cousin, den Unfall.
14.10 Uhr, Beginn der Kettenreaktion: Schreie. Der Sohn fällt, einfach so, beim harmlosen Fußballrangeln mit seiner Schwester. Der Sohn schreit (man kann das intuitiv unterscheiden: es ist nicht jenes genervte Wehtun-Schreien des „Mach-endlich-dass-es-weg-geht-Mama“, sonders dieses drängende, das sofortige Reaktion verlangende Schreien einer bösen Verletzung). Die Tochter schreit „Mama, Anton hat irgendwas Schlimmes“ . Die Mutter erschreckt, reagiert ebenfalls schreiend, bevor sie die Lage überhaupt einschätzen kann („WasistpassiertverdammteScheiße!“), stürzt hin zum Sohn, sieht einen sechseinhalbjährigen Ellbogen, der absolut nicht so aussieht, wie ein sechseinhalbjähriger Ellbogen aussehen soll (eine Art Kugel wölbt die Haut nach außen), ist paradoxerweise erleichtert, denn die rasch von irgendeinem Teufel eingespielten Horrorbilder – klaffende Kopfwunde, BLUT, Schnitt im Hals, TOD, Nagel im Auge, GENICKBRUCH – sind offenbar für diesmal von der Wirklichkeit nicht bestätigt.
14.15 Uhr. Man rast ins 30 km entfernte Krankenhaus, den schreienden Sohn im Ohr, hilflosen Trost murmelnd, innerlich flehend „bitte lass ihn nicht ohnmächtig werden“, hoffend noch, es sei „nur“ ein ausgekugeltes Gelenk, das „nur“ unter Narkose „mal eben“ wieder reingedreht gehört.
15.15 Uhr. Der vom überforderten Assistenzarzt herbeigerufene Oberarzt des regionalen Krankenhauses spricht nach dem Röntgen nicht nur von Dislokation, sondern auch von Fraktur und OP. Er legt einen provisorischen Gips an. „Fahren Sie nach Berlin, er hat ja zwei gesunde Beine und ist transportfähig. Ich gebe Ihnen die Röntgenbilder auf CD mit.“ Sprich: Er traut sich oder seinen Leuten die Operation nicht zu, verfügt weder über Unfall- noch Kinderchirurgie.
16.00 Uhr. Die Schwester des Patienten und ihre Freundin bei der Oma lassen. Den von Schmerz und Schreien erschöpften Sohn im Regionalexpress nach Berlin bringen, Ankunft 18.19 Uhr. Taxi suchen, „ich kann nicht so schnell, Mama!“, „ins Klinikum Westend bitte“.
18.42 Uhr Notaufnahme Anmeldung. Warten, Hoffen, Verkrampfen, Trösten, Durst, Hunger, Schwitzen, Frieren, die hartnäckige Migräne ignorieren, sich selbst den Nacken massieren, den Sohn auf den Schoß nehmen, ihn (und sich selbst) um Geduld bitten, ein debiles Bilderbuch vorlesen, das auf Bitten des Jungen nach drei Sätzen abbrechen, auf Kaffee aus dem Automaten verzichten, raten, was die anderen haben, zur Untersuchung gerufen werden.
20.00 Uhr Im Untersuchungsraum weiter warten. Die Dehnzeit verblüfft zur Kenntnis nehmen. Trösten. Sohn am Einschlafen hindern. Kein Handy dabei haben. Ärzte kommen und gehen, mit Erklärungen oder ohne, mit Handschlag oder ohne, Krankenschwestern hin-und-her, jede und jeder mit dem am Boden klebenden Schritt, schwapp-schwapp, alle mit einer ähnlich patenten Art zu gehen. Der Oberarzt der Unfallchirurgie hat grad den Dienst angefangen und wirkt frisch, autoritär, kompetent. „Ich werde operieren.“ Verantwortung abgeben müssen, und wollen. Informationen erhalten. Fragebögen ausfüllen, Risiken unterschreiben.
20.45 Uhr. Staunen über eine unglaublich freundliche Belegschaft (immerhin hat dieser Nachtdienst statt an einem Feiersonntag vor einem Feiermontag). Die Schwestern spendieren Kräutertee, machen nette Sprüche und veranstalten insgesamt eine Atmosphäre des „Keine Sorge, wir kümmern uns“. Man erinnert sich an andere Aufenthalte hier, mit anderen Kindernotfällen (Schlüsselbeinbruch, Hautverbrennung … und dieses Gefühl dabei, das man nicht beschreiben kann: eine Mischung aus Bangen, Notwendigkeit, Geworfensein, aber auch Gebrauchtwerden, auch Zuversicht), als man ähnlich kompetent und freundlich versorgt wurde, weshalb man auch jetzt, mit dem gebrochenen, dislozierten, sechseinhalbjährigen Ellbogen spontan lieber hierhin fuhr anstatt in die Riesenmaschine Charité oder Virchow. Ungefähr 20 Mal laut, leise oder stumm aus voller Seele „Scheiße“ sagen. Dem Sohn ein Gleiches erlauben.
21 Uhr. Durch die „Schleuse“, „Zutritt verboten“. „Geben Sie ihm ruhig noch einen Kuss“, rät der junge Anästhesist. Der Junge steht schon unter Drogen, liegt kurz vorm Wegdämmern, dennoch wird er am kommenden Morgen das Legen der Kanüle als sehr schmerzhaft beschreiben, sobald er seine Sprache wieder hat detailliert berichten. „Raus mit Ihnen“, sagt der Oberarzt.
Warten. Sitzen, Gang rauf und runter gehen, pinkeln. Weiterwarten. Sich an die seltenen eigenen Narkotisierungen erinnern, an das schöne weiße Wegdämmerndürfen, das hässliche graue Aufwachenmüssen samt Übelkeit und Schmerz. Weiße Wände anstarren, internationale Putzfrauen ihre Arbeit verrichten sehen, die Videokamera entdecken, sich fragen, ob man live beim In-der-Nase-Popeln beobachtet wird. Sich einen Gesprächspartner wünschen, oder einen Arm um die Schulter. Froh sein, nicht reden zu müssen. Kein Buch dabei haben. "Gala“ in die Hand nehmen ( top news: kleine Kinder sind immer noch „in“ in Hollywood, solange sie schick angezogen sind). Sich Sorgen machen – warum dauert das so lange? Man sollte doch um 22 Uhr hereingerufen werden? Die OP-Lampe grellt rot wie ein Warnsignal (komplizierter Bruch, erfährt man später, langwierige Fummelarbeit).
23.30 Uhr, endlich in den Aufwachraum können, doch der Junge schläft und darf das auch, weil die Geräte ("Sättigung" 99) und die Gesichtsfarbe (frischrosa) melden: alles ok. Sich überflüssig fühlen. Small talk mit den Anästhesisten. Warten auf die Kinderschwester. Gemeinsam den Jungen auf dem Krankenbett durch kalte Keller auf die Kinderstation rollen. Informationen über Dusche, WC und Teeausgabe entgegennehmen. Lächeln und freundlich sein, man ist todmüde aber angewiesen.
24 Uhr. Das Klappbett für das begleitende Elternteil aufschlagen, beziehen, das Loch im Magen spüren
00.15 Uhr endlich selbst hinlegen, die Plastikplane unterm Laken des Behelfsbettes spüren (man könnte ja einnässen, im Krankenhaus weiß man nie). Jede Stunde wach werden, weil die Schwester Fieber und Puls misst. Die ganze Zeit diese unsagbare Liebe für ein Kleines noch mal durch die Gefahr potenziert spüren, die einzige Liebe, die man kennt, die unbedingt bleibt und lebenslang währt, keine Erschöpfung duldet und doch in diesem Moment (denn er schläft und heilt sich und hat alles, was er braucht) gar nicht nötig wäre. Was macht er auch für Sachen. Nüchtern und sentimental und ohne Ärger sein. Staunen über das Rausfallen, das plötzliche, das Fallen aus der Zeit in diesem Raumschiff übergeordneter Wichtigkeiten und durchstrukturierter Planung: Ein medizinischer Notfall lehrt Abstraktion, Demut, Prioritäten, Dankbarkeit und hinterlässt ein heiseres, leiseres Flüstern, mitten in der Stadt, mitten in der Nacht.
02.12 Uhr, 03.20 Uhr, 04.30 Uhr, 05.46 Uhr. Die unterschiedlichen Geräusche des Morgens wahrnehmen, das Immer-Wieder-Einschlafen hinnehmen, das veränderliche Licht registrieren, die bunten Vorhänge, eine Ruhe, das leise Schnarchen des Jungen hören, sein schwitziges Gesicht streichen, das kleine Beutelchen, das aus dem Verband hängt und restliches Blut sammelt (es wird ihn faszinieren, wenn er wach wird) nicht berühren, halbwach seinen Schlaf begleiten.
07.00 Uhr. Aufstehen, duschen, in die dreckigen Klamotten zurück steigen. Sich von der Tagschwester begrüßen lassen. Dem erwachten Sohn zu bequemerer Lage verhelfen. Mit ihm frühstücken und jeden Bissen genießen. Feststellen, dass er verschiedene Strümpfe, ein vollgekleckertes T-Shirt und dreckige Fingernägel hat. Sich vornehmen, vor dem nächsten Unfall darauf zu achten.
09.00 Uhr Warten. Den Sohn zur Toilette begleiten. Es geht ihm gut: Er quatscht schon wieder am Stück.
10.15 Uhr Wieder durch die Kellergänge (diesmal mit Rollstuhl, diesmal mit der Schwesternschülerin) von der Kinder- zurück in die Unfallstation. Warten. Noch mal röntgen. Verband aufschneiden. 8 cm Wunde mit blauem Faden bestaunen. Sich wundern, dass dem mit frischer Unterhose und warmer Kinderjacke herbeigeeilten Vater beim Anblick der Naht schlecht wird, dem Sohn aber nicht.
10.30 Uhr. Neuer Verband. Halber Gips. Anweisungen („in einer Woche Fäden ziehen, … Sprechstunde Dienstag 14 bis 17 Uhr… dann der richtige Gips, vier Wochen mindestens, in sechs bis zehn Wochen Schraube und Draht raus“…)
11.00 Warten. Drängeln. Regen. Taxi. „Können Sie bitte unterwegs bei einem Bäcker halten, der auf hat.“ Der grummelige Fahrer ist findiger als erwartet. Brötchen holen. „Was für’n Wetter“, schimpft er noch. „Ist nur der Kachelmann dran Schuld. Ist doch’n Witz, dit Janze.“ Sich aufraffen, das nicht so stehen zu lassen: „Seine Frau findet das Ganze wahrscheinlich weniger lustig.“ „Hm-gr-hm.“
12.15 Uhr. In der Wohnung ankern. Jetzt bloß nicht heulen, sich nicht leidtun, man hat der Hafen zu sein, und nicht das schwankende Boot. Kaffee. Darauf einstellen, dass die kommenden Wochen hart werden: Zwar ist der schlimmste Schmerz vorbei, aber das Schwierige kommt erst noch: Kein Ballspielen, kein Toben, kein Klettern, kein Schwimmbad, kein Irgendwas, das Spaß macht. Wochenlang. Vielleicht Monate. Und das bei einem Kind, das schon ausflippt, wenn es ein paar Stunden nicht genug Bewegung bekommt.
15.00 Uhr. Heile-Welt-Kuchen backen. Einen eigenen Gesundheitssegen erfinden – einen mit Kussluft und Duft von frischem Warmen aus dem Ofen. Puzzlespiele und Memory bereit legen.
17.00 Uhr Das Gewitter pladdern hören. Gemeinsam lachen über das oder etwas anderes.
21.00 Uhr. "Tatort" verpassen. Stattdessen dies hier schreiben, ohne zu wissen für wen und warum (interessiert doch keinen, der Privatmist), irgendwie nicht loslassen können, irgendwie denken, dass das ganze doch einen Sinn haben muss – eine Botschaft?
So viel zum Heiligen Geist 2010. Er möge sich bessern.