Bürotagebuch 2
Verfasst: 01.06.2010, 22:38
CONCORDANZ LEBENSVERSICHERUNGS-ACTIEN-GESELLSCHAFT
Dienstag, 1. Juni 2010
Was ist es eigentlich, das mich gelegentlich magnetisch an den Computer zieht und zwingt, meine von der CONCORDANZ bezahlte Dienstzeit für private Notizen zu missbrauchen? Ich habe den Sterbefall Zamzow neben mir liegen, die Akte ist aufgeschlagen, ich werfe während des Schreibens gelegentlich Blicke hinein, damit Petersen glaubt, ich befasste mich mit diesem Vorgang, der, wie Unfalltode sehr oft, Probleme in Hülle und Fülle aufwirft, die in Form von Aktennotizen beizuheften durchaus üblich ist.
Aber nicht der Sterbefall Zamzow interessiert mich, sondern mein täglicher Erlebensfall! Ich glaube, seit der Klassenkampf aus der Mode gekommen ist, ist dies sein letzter, niedlicher Überrest: Dem allmächtigen Arbeitgeber, in dessen Fürsorge wir uns sonst so vertrauensvoll kuscheln, ein paar Minuten bezahlter Zeit entfremden! Bin ich nicht durch den Zwang, mich Tag für Tag mit Sterbefällen von mir völlig gleichgültigen Menschen wie diesem unglückseligen Immobilienmakler Zamzow zu befassen, mir selbst entfremdet genug? Ist es nicht nur recht und billig, dass ich mir ein wenig von dem, was mir hier geraubt wird – wenn auch gegen Gehalt – zurückhole? Ein wenig meines Ichseins, meiner kostbaren nur mir gehörigen und zugänglichen Identität?
Während Petersen sich durch Pornoseiten langweilt, begebe ich mich auf die Suche nach dem verschütteten Urtext meines armen Angestelltenego, ich grabe und grabe und habe die allergrößte Angst, als unterste Schicht einfach einen blanken Stein anzutreffen, auf dem nichts, reinweg nichts steht. Was bin ich denn als ein bezahltes wandelndes Nichts? Ein nie zur Selbstverantwortung gereiftes ewiges Kind, das in pubertärem Oppositionsverhalten gegen den mächtigen Arbeitgeber am Schreiben nur das Eine genießt: Dass es verboten, dass es Diebstahl ist! Ich fürchte, ich werde eines Tages wie Zamzow betrunken in meinem Peugeot über die Kaimauer rollen ...
„Wir wissen, dass wir Concordanzler sind, und wir sind stolz darauf!“, hat Direktor Schüssel uns auf der Betriebsversammlung einzuhämmern versucht; dass wir gut „aufgestellt“ seien, dass sich die Zukunft der CONCORDANZ in „trockenen Tüchern“ befinde, dass wir Sterblichkeitsgewinne „satt“ zu verbuchen hätten ... Eine Wüste von einer Rede, so bar jeden Sinnes, dass es in mir schrie, nur in mir, da ich weiß, was einen guten Angestellten auszeichnet: Selbstdisziplin – aber hier, hier in diesen Notizen, die ich ausdrucken muss, bevor sie zu lang werden, muss es mir erlaubt sein, ganz, ganz leise ein wenig zu schreien – und diesen leisen Schrei, der fast nur ein Mauspiepsen ist, ihr, der Einzigen, zu widmen, für die ich das alles auf mich nehme: Libgart.
Dienstag, 1. Juni 2010
Was ist es eigentlich, das mich gelegentlich magnetisch an den Computer zieht und zwingt, meine von der CONCORDANZ bezahlte Dienstzeit für private Notizen zu missbrauchen? Ich habe den Sterbefall Zamzow neben mir liegen, die Akte ist aufgeschlagen, ich werfe während des Schreibens gelegentlich Blicke hinein, damit Petersen glaubt, ich befasste mich mit diesem Vorgang, der, wie Unfalltode sehr oft, Probleme in Hülle und Fülle aufwirft, die in Form von Aktennotizen beizuheften durchaus üblich ist.
Aber nicht der Sterbefall Zamzow interessiert mich, sondern mein täglicher Erlebensfall! Ich glaube, seit der Klassenkampf aus der Mode gekommen ist, ist dies sein letzter, niedlicher Überrest: Dem allmächtigen Arbeitgeber, in dessen Fürsorge wir uns sonst so vertrauensvoll kuscheln, ein paar Minuten bezahlter Zeit entfremden! Bin ich nicht durch den Zwang, mich Tag für Tag mit Sterbefällen von mir völlig gleichgültigen Menschen wie diesem unglückseligen Immobilienmakler Zamzow zu befassen, mir selbst entfremdet genug? Ist es nicht nur recht und billig, dass ich mir ein wenig von dem, was mir hier geraubt wird – wenn auch gegen Gehalt – zurückhole? Ein wenig meines Ichseins, meiner kostbaren nur mir gehörigen und zugänglichen Identität?
Während Petersen sich durch Pornoseiten langweilt, begebe ich mich auf die Suche nach dem verschütteten Urtext meines armen Angestelltenego, ich grabe und grabe und habe die allergrößte Angst, als unterste Schicht einfach einen blanken Stein anzutreffen, auf dem nichts, reinweg nichts steht. Was bin ich denn als ein bezahltes wandelndes Nichts? Ein nie zur Selbstverantwortung gereiftes ewiges Kind, das in pubertärem Oppositionsverhalten gegen den mächtigen Arbeitgeber am Schreiben nur das Eine genießt: Dass es verboten, dass es Diebstahl ist! Ich fürchte, ich werde eines Tages wie Zamzow betrunken in meinem Peugeot über die Kaimauer rollen ...
„Wir wissen, dass wir Concordanzler sind, und wir sind stolz darauf!“, hat Direktor Schüssel uns auf der Betriebsversammlung einzuhämmern versucht; dass wir gut „aufgestellt“ seien, dass sich die Zukunft der CONCORDANZ in „trockenen Tüchern“ befinde, dass wir Sterblichkeitsgewinne „satt“ zu verbuchen hätten ... Eine Wüste von einer Rede, so bar jeden Sinnes, dass es in mir schrie, nur in mir, da ich weiß, was einen guten Angestellten auszeichnet: Selbstdisziplin – aber hier, hier in diesen Notizen, die ich ausdrucken muss, bevor sie zu lang werden, muss es mir erlaubt sein, ganz, ganz leise ein wenig zu schreien – und diesen leisen Schrei, der fast nur ein Mauspiepsen ist, ihr, der Einzigen, zu widmen, für die ich das alles auf mich nehme: Libgart.