Pig

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 10.08.2010, 14:43

Pig


Man nennt mich Pig. Könnten Sie mich sehen, würden Sie verstehen warum. Bei einem Gewicht von mehr als 500 Pfund, steht ein anderes Tier für einen Spitznamen nicht mehr zur Verfügung. Aber auch Pig hat schon lange keiner mehr zu mir gesagt. Der einzige, der noch mit mir spricht, ist der junge Armenier von der Health Care. Und der nennt mich immer brav Mister Templeton. Diese Jungs werden verdammt schlecht bezahlt. Und das, was sie bekommen, erhalten sie weniger fürs Pflegen, als dafür, dass sie immer freundlich sein müssen. Bei mir ist ja noch nicht so viel zu tun. Einmal die Bude durchsehen, Fußnägelschneiden ab und zu oder das ein oder andere Ekzem einschmieren. Ich weiß gar nicht, wie der Junge heißt. Ich nenne ihn Sansibar, und damit ist er offensichtlich zufrieden.

Hemingway hat einmal richtigerweise gesagt, Trinken sei eine Religion. Oder war es Pollock? Egal. Wenn dem so ist, dann ist Essen auch eine Religion. Eine, die wesentlich mehr Hingabe verlangt, sind doch die ästhetischen Opfer viel früher und viel offensichtlicher zu erbringen.
Die hundert Pfund überschritt ich mit sechs, die zweihundert mit vierzehn Jahren. Es war, als wäre man in eine Sekte hineingeboren. Es gab keine unbeantworteten Fragen. Und jedes Problem schien sich darin zu begründen, dass es auf die eine oder andere Weise zu einem Engpass in der Nahrungsaufnahme gekommen war. Man mag eine solche Engstirnigkeit verurteilen. Paradoxerweise entspricht es aber der Wahrheit. Am Ende läuft alles auf das Essen hinaus, daran glaube ich fest.
Nun, ich geh mit dieser Erkenntnis nicht hausieren. Dennoch es ist meine Überzeugung, dass das Essen einen hinreichenden Lebensinhalt bieten kann. Hinreichend genug, um eventuelle negative Folgen in Kauf zu nehmen. Wie im Rennsport zum Beispiel. Oder beim Boxen. Es ist immer der Geist, der die Zerstörung des Körpers billigend in Kauf nimmt. Mein Körper will bestimmt keine fünfzehn Hamburger zum Frühstück haben. Der gäbe sich auch mit ein paar Scheiben Matzen zufrieden. Oder mit ein oder zwei Äpfeln. Ich bin derjenige, der keine Äpfel oder kein ungesäuertes Brot haben will. Ich bin es, der bestimmt, dass die Mayonnaise auf einem Sandwich mindestens einen Zentimeter dick aufgetragen werden muss. Ich ertränke dasselbe Sandwich unter einen halben Liter Ketchup.
Maßloses Essen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern davon, dass man seinen Körper zu einem gehorsamen Hund macht. Man bezwingt dessen Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und Mäßigkeit und macht ihn zu einem Gefäß der Gier.
Und das ist gut so, möchte ich sagen.
Witzigerweise ist die erste Frage, die sich vielen Menschen bei meinem Anblick stellen, ob ich es denn noch tun kann. Ich kann Sie beruhigen. Noch kann ich, auch wenn mein Arzt (die einzige Person, die sich außer dem Armenier noch um mich kümmert) mir prophezeit hat, dass damit in den nächsten Monaten endgültig Schluss sei. Verfettung der Drüsen etc. Schwellkörperlähmung infolge von kontinuierlich ansteigendem Cholesteringehalt im Blut. Und und und.
Meinen ersten Sex hatte ich mit einem Pirellikalender, den mein Vater für fünfhundert Dollar bei einer Auktion in Las Vegas ersteigert hatte. Seit ich dreizehn bin, kann ich meinen Schwanz nur noch im Spiegel sehen. Na und? Sex ist die am meisten überschätzte Sache der Welt. Ich habe mir Nutten kommen lassen. Manchmal sogar zwei oder drei zugleich und sie sind über meinen fetten Leib hergefallen, als wären meine kalkweißen Schenkel die Pforten zum Paradies. Sie haben ihre Nasen in meine Fleischfalten gepresst und an mir herumgesaugt und gelutscht. Dennoch bereitet mir ein Tiramisu weit mehr Vergnügen, ja selbst ein Viertelpfünder mit Käse bringt mein Blut eher in Wallung, als ein nackter Frauen- oder Männerarsch, wie jung er auch sei.
Die Völlerei ist der Sieg des Willens über das Bedürfnis. Und weit intensiver in seinem Ausleben, als jedwedes sexuelle Verlangen. Wie oft kann man innerhalb von vierundzwanzig Stunden Sex haben? Drei Mal, vier Mal, fünf Mal vielleicht. Essen können sie den ganzen Tag. Und das Schöne dabei: Das Essen alleine hat nichts von der Lächerlichkeit der Selbstbefriedigung, nichts von jener erbärmlichen Halbheit der Selbststimulierung, die nur dadurch funktioniert, dass man sich eine weitere Person vorstellt. Denn das andächtige Fressen, wie auch das Trinken, ist eine gewollt einsame Tätigkeit. Es ist kein Ersatz, es ist genau das, was man möchte. Der Unterschied zwischen dem Duft eines guten Essens und Musik ist der, dass Musik niemals die Bedürfnisse befriedigen kann, die sie weckt. Aber der Bissen im Mund erfüllt jenes Versprechen, welches der Duft bereits gemacht hat.

Ob ich Angst vor dem Tod habe? Natürlich nicht! Angst vor dem Tod haben nur diejenigen, die sich Diäten verordnen lassen und sie dann durchhalten. Schließlich ist der Tod das finale Abspecken. Damit muss man ja nicht schon vorzeitig beginnen. Und so, wie sich mein Körper bei vielen Dingen endlos Zeit lässt, sei es das Scheißen, das Pissen oder das Einschlafen, ja mit der gleichen Mühsal, mit der ich aufstehe und ein paar Schritte umhergehe, mit der ich mich in die Badewanne hinein und wieder hinauswuchte, mit der gleichen Gemächlichkeit, mit der alle meine Muskeln auf zerebrale Befehle reagieren, wird sich auch mein Körper an das Sterben machen. Da muss ich nun wirklich keine Befürchtungen haben. Zumal sich mein Schmerzempfinden auf angenehme zehn Prozent des Normalen eingependelt hat. Da könnte sich sogar meine Bauchspeicheldrüse verflüssigen, ohne dass es mir den Appetit verschlüge.
Wenn es noch etwas gäbe, für das ich mich stark machen würde, dann für mehr gesellschaftliche Akzeptanz von Fettleibigkeit. Ich wünsche mir, die Leute sähen ein, dass es sich hier nicht um eine Schwäche, sondern eine Stärke handelt. Und mehr noch. Um eine Art Kunst. Man formt den eigenen Körper zu etwas, das einerseits dem eigenen Wesen entspricht, unberührt von den Strömungen der Mode, gleichzeitig aber auch eine Abstraktion dessen darstellt, was weithin als akzeptabel gilt. So bereite ich mein Essen wie der Maler die Farbe anrührt und der Schriftsteller nach den richtigen Worten sucht. Bei den einen steht am Ende das Bild oder das Buch. Bei mir ist es der Körper als amorpher Kontrapunkt zum allgemeinen ästhetischen Empfinden. Und wenn ich in einigen Monaten das Stadium der absoluten Unbeweglichkeit erreicht habe, wäre mein Platz eher der in einer Kunstausstellung, als in einem Krankenhaus oder Pflegeheim.
Zugegeben, dies sind Träume. Aber eines Tages wird es vielleicht so sein. Unsere Lobby ist stark und wächst mit jedem Jahr, das der Wohlstand noch unter uns zu weilen gedenkt.
Was uns zustößt, enthält kein Urteil über uns, habe ich mal gelesen. Das mag stimmen. Aber unser Aussehen provoziert jede Menge Beurteilungen über das, was wir sind, was wir waren oder sein werden. Wenn die Leute mich anschauen, will ich, dass sie urteilen. Sie sollen den unvermeidlichen Rückschluss ziehen, von der Form zum Wesen, von der Gestalt zum Charakter. Und die Menschen tun es. Ich habe es oft gesehen. Niemanden treffen ehrlichere Blicke als einen fettleibigen Menschen.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 10.08.2010, 16:55

Hallo Sam,

ich bin gespannt auf die Kommentare, denn ich kann mir gar nicht vorstellen, was es hier noch wesentliches zu besprechen gebe: Der Sprecher ist absolut echt, ich höre seine Stimme, seinen Tonfall, einfach perfekt, makelloses Literaturhandwerk. Dann: Der Inhalt. Da bleibt nicht viel Raum zum Kommentieren (nicht wegen des Körperfetts!). Der Text strotzt vor Neutralität, vor Urteilslosigkeit, -- Dein Spezialgebiet, Sam :-) -- dass ich weder zu Mitleid noch zu wissenschaftlichem Denken, weder zu voyeuristischer Neugier noch zu ethischen Urteilen mich veranlasst fühle. Jegliche Denkaktion scheint der Text mir zu verbieten -- und ich weiß noch nicht, weshalb (ich komm noch drauf). Da formt sich etwas zu Text, fällt wie ein nasser Sack auf den Lesetisch, und verschwindet wieder so, als ob er nichts hatte bewirken wollen, außer den Leser, den Urteilenden zu knebeln: Lies und schweig.

Eine technische Frage: "Die Völlerei ist der Sieg des Willens über das Bedürfnis." -- Ist hier das Bedürfnis zu essen gemeint? Worin liegt da der Sieg, wenn Wille und Bedürfnis sich ohnehin decken? Oder geht es um das Bedürfnis, abzunehmen?


Salve

Pjotr

Sam

Beitragvon Sam » 11.08.2010, 08:09

Hallo Pjotr,

vielen Dank für deinen Kommentar!

ich habe mich ehrlich gesagt auch schon gefragt, was der Leser nun mit dem Text anfangen soll. Meine Befürchtung geht dahin, dass das Vergnügen wohl ganz beim Autor verbleibt. Denn Spaß hat es schon gemacht, mich in eine mir völlig fremde Lebenssituation hineinzuversetzen (ich wiege 88 Kilo und hoffe, dass es bald wieder weniger wird) und diese dann mit aller Vehemenz zu verteidigen. Daher auch die von dir angesprochene Urteilslosigkeit, weil ich als Autor in dem Text ja gar nicht vorhanden bin.

Zu deiner technischen Frage:
Das Bedürfnis, welches hier angesprochen wird, bezieht sich auf das normale Bedürfnis zu essen. Man kann das auch auf andere Dinge beziehen: Sex, das Bedürfnis nach Entspannung etc. Der Wille kommt ins Spiel, wenn es darum geht, wie jemand diese Bedürfnisse befriedigt. In Pigs Fall: Der Körper hat zwar das Bedürfnis zu essen, aber nicht überfressen zu werden. Das ist aber genau das, was Pig will. Also siegt sein Wille über das Bedürfnis.

Hab nochmals herzlichen Dank für deine Gedanken zu diesem Text!

Gruß

Sam

Nicole

Beitragvon Nicole » 11.08.2010, 08:42

Guten Morgen mein Lieber,

Ich stimme Pjotr zu, dieser Text es dem Leser schwer macht, zu intervenieren. (Sieht komisch aus, schreibt man das so?)
Ich stimme ihn auch zu, er ist in Deiner besonderen Art der "Neutralität" geschrieben, die dem Leser auf den ersten Blick scheinbar eine eigene Meinung gestattet, aber eben genau durch diese Neutralität diese ausschließt.
Mich schüttelt es beim Lesen, ob der Beweihräucherung der Pfunde und ob der Vorstellung des Bildes von Pig. Das Bild der 2-3 Prostituierten, die sich an diesem Fleischberg zu schaffen mache - uargh. ABER, und das ist die besondere Stärke des Textes, es bleibt mir am Ende eigentlich nichts als "jeder nach seiner Facon". Der Text ist so überzeugend in der Schilderung seiner Ansicht, das ich, da ich gerne auch nach meinen Vorstellungen lebe, ohne das mir jemand anderes rein redet, dem Sprecher hier dieselbe Gunst zuteil werden lassen muß. "Wenn es Dir gefällt, friß Dich halt zu Tode. Dein Ding, deine Wunschvorstellung des Lebens.".
Und damit komme ich zu meinem großen Lob an diesen Text: Er ist authentisch und so gut geschrieben, das ich ihm jedes Wort glaube- Pig ist echt.

Chapeau,

Nicole

african queen

Beitragvon african queen » 11.08.2010, 09:39

Hallo Sam,
ja, so liegt der Text da, so wie die Pfunde des pig. Eine stimmige Beschreibung
eines Themas, das z.zt. in der Öffentlichkeit breitgetreten wird.
Zwischen den Zeilen steht noch viel mehr. Der Leser kann nicken, es unästhetisch
finden, oder...oder.... der Text haut rein, ohne zu urteilen, das gefällt mir.
hätte ich mir noch eine etwas differenziertere Ausarbeitung dieses Problemfeldes
erhofft. Ein wenig suffisant, platt in einigen Passagen, so wie man sich pig auch
vorstellt, reicht das aus? Andererseits macht es genau das aus, den Text zu verfolgen
und zu Ende zu lesen. Danach kommen erst die Fragen. zu schlicht über so ein Thema
zu schreiben, wird der Text dem Thema gerecht???
lg
gertraud

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.08.2010, 11:49

:-)

Nicole hat geschrieben:Er ist authentisch und ...

"Authentisch" wollte ich zuerst auch schreiben, Nicole :-)

Aber eine Sekunde später war mir aufgegangen, dass sich das auf den Autor beziehen könnte, der jedoch vermutlich, wie er auch selbst jetzt bestätigte, noch keine 500 Pfund wiegt.

...

Ich glaube, einen der größten Eckpfeiler des Knebelsystems gefunden zu haben: Der letzte Satz.

Beim Lesen bin ich automatisch Voyeur, auch wenn ich das nicht sein will. Während ich diese halbfreiwillige Voyeurs-Rolle übernehme, also während ich lese, habe ich sicherlich eine "ehrliche" Gesichtshaltung ("ehrlicher Blick"), zumal mich niemand beobachtet -- außer Pig, der sieht mich, wenn er mir erzählt. Nun bin ich also einer von denen, die ihn anblicken, und dann sagt er mir am Ende noch, er würde meinen ehrlichen Blick erkennen. Ich, meinerseits, wollte jedoch gar nicht in diese Rolle, in keinerlei Rolle, weder in eine ehrliche noch eine unehrliche. Was immer ich nun tue -- ich bin in irgendeiner Rolle gefangen. Da hilft nur maximale Neutralisierung, aber das ist so aussichtslos wie der Versuch, nicht zu denken. Trotzdem ist der Gedanke an Rollenlosigkeit die einzige Chance, keine Rolle zu spielen.


Ahoi

Pjotr

Sam

Beitragvon Sam » 11.08.2010, 12:36

Hallo meine Liebe,

vielen Dank! Es freut mich, dass du Pig authentisch findest. Wäre dem nicht so, würde der Text ja überhaupt nicht funktionieren.

Ich habe noch ein wenig über den Punkt, den du und Pjotr angesprochen habt nachgedacht. Ganz meinungsfrei kann man ja eigentlich nicht sein. Vielleicht erwartet man beim Lesen aber immer automatisch, dass der Text selbst zu seinem Gegenstand Stellung nimmt. Die Auseinandersetzung damit ist dann weniger rein inhaltlicher Art, sondern die mit der eigenen Meinung und derjenigen, die der Text seinem Inhalt gegenüber einnimmt. Durch die von euch angesprochene Neutralität, ist eine solche kritische Betrachtung jedoch nicht möglich und man ist mit dem Inhalt völlig alleine, was vielleicht ein wenig befremdlich wirkt.

Wie dem auch sei, ich freue mich sehr, dass der Text dir gefällt.



Hallo Gertraud,

auch dir herzlichen Dank für deine Meinung!

Ich gebe dir Recht, wäre das Ziel des Textes eine Auseinandersetzung mit der Probematik der Fettleibigkeit, dann wäre er nicht differenziert genug. Aber darum ging es mir nicht. Die Idee zu dem Text kam mir, als ich nach einem Jahr in Südamerika das erste Mal wieder in die Staaten reiste und das Gefühl hatte, überall nur fette Menschen zu sehen. Und bei vielen hatte ich den Eindruck, ihr Übergewicht wäre für sie völlig selbstverständlich. Daraus ist dann die Idee entstanden, aus der Sicht eines dicken Menschen zu schreiben und diese Selbstverständlichkeit dabei irgendwie auf die Spitze zu treiben. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Thematik hatte ich nicht im Sinn.


Hallo Pjotr,

Dank dir für deine interessante Beschreibung des "Knebeleffekts". Ich habe oben bei Nicole schon etwas dazu gesagt, warum der Text vielleicht dieses Gefühl erzeugt. Natürlich ist der Leser immer Voyeur und hat damit schon automatisch die Rolle des Beobachters übernommen. Diese ist bestimmt auch meistens "ehrlich", denn niemand wird dazu gezwungen, etwas gut zu finden, obwohl er es ablehnt oder sogar widerlich findet. Das Bild, das der Leser während der Lektüre von Pig bekommt, erzeugt (denke ich mir jedenfalls) bei den meisten zumindest eine gewisse Ablehnung, aus ästhetischen, gesundheitlichen oder anderen Gründen. Nun ja, und am Ende sagt Pig eben, dass er genau das erwartet. Ein bisschen befremdlich ist das schon, und vielleicht rührt auch daher dann der "Knebeleffekt", bzw. eine gewisse Hilflosigkeit in dem Sinne, als dass Pig keinerlei Platz für Gegenargumente mehr lässt. Insofern spielt der Leser dann wirklich keine Rolle, außer die des Beboachters, ohne Möglichkeit der Interaktion.

Danke nochmals für deine intensive Beschäftigung mit diesem Text!


Gruß

Sam

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.08.2010, 13:29

Lieber Sam,

Eine Wucht, mit der der Wuchtige, offenbar voll bei Sinnen, wenigstens vordergründig, sich zum Fettberg getrimmt hat und das auch noch ganz in Ordnung findet. Er stellt das Fressen über den Sex. Erinnert mich an diese sexuelle Perversion des Fütterns vom "geliebten" Du, bis es vielleicht platzt. Er macht das aber mit sich selbst und benötigt kein Du dafür. Ich schließe mich den Vorkommentatoren an, der Text ist (wie meist aus deiner Feder) perfekt geschrieben, er lässt dem Leser jedoch wirklich keine Wahl, außer vielleicht die, zu sagen: Wie kann mann nur!
Denn an der Entscheidung des Protag ist ja nicht zu rütteln.

Liebe Grüße
ELsa
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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 11.08.2010, 13:47

Bemerkenswert konsequent erzählt hier jemand davon wie er sich selbst vergewaltigt, wie er jeglichen Bezug zu seinem Körper verloren hat, zu einer Idee von Einklang und Wohlsein und Ausgeglichenheit. Demut vielleicht auch. Es ist ein sehr gewalttätiger Text, der über Macht und Herrschaft redet. Von der Einverleibung. Ein Text, der alles aufzufressen scheint. Sogar den Leser.

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 11.08.2010, 19:57

Hallo zusammen,

ich bin etwas verwirrt.

Wahrscheinlich weil ich irgendein Perspektivenproblem habe. Oder so.

Wo und was ist an diesem Text neutral?

Der Text ist in der Ich-Form geschrieben. Ein Mensch erzählt von seinem Leben. Fast schon ein Plädoyer für seine Art zu leben. Beinahe schon eine Rechtfertigung für das Leben, was er sich ausgesucht hat. Beinahe deshalb, weil, um es eine Rechtfertigung zu nennen, ist es zu selbstbewußt.
Ich stelle mir eine Situation, wo dieser Mensch jemanden anderen sein Leben erzählt. Dieser andere schreibt dieses auf, wahrscheinlich während er zuhört und aufschreibt mit den unterschiedlichsten Gesichtsausdrücken passend zu dem gerade gehörten.
Der Text enthält eine reine subjektive Beschreibung eines Lebens. Also so ziemlich das Gegenteil von neutral.

Oder ist mit neutral gemeint, daß der andere einfach so wie er es erzählt bekommt, es aufschreibt?
Das kann es aber auch nicht sein.
Dieser Text ist fiktiv, ausgedacht und eben nicht das wortwörtliche Protokoll eines Gesprächs. Sam hätte es ja auch anders schreiben können, aus der dritten Person Perspektive als beobachter z.B. "Man nennt ihn Pig " Schon bei der Wahl des Mittels der Darstellung ist es da nicht aus mit der Neutralität des Schreibers? Oder mit der Urteilslosigkeit des Schreibers. Es wirkt doch anders, wenn der Text ist einer anderen Perspektive geschrieben wäre. Dadurch, Pig als Ich sprechen zu lassen, wirkt es auf den Leser anders. Weniger Distanz, als wenn da jetzt stehen würde "Pig hat", "Er hat" usw. Durch die Wahl der Perspektive, wie der Text geschrieben wurde, hat der Autor im gewissen Sinne schon ein Urteil und eine Wertung abgegeben. Zumindest darüber, wie sein Protagonist bei der Leserschaft ankommen soll.

Der Zuhörer bzw. der Leser kann auch nicht neutral bleiben. Denn beim Zuhören bzw. hier Lesen bildet er sich seine eigene Meinung, und schon ist die Neutralität und die Urteilslosigkeit futsch. Der Zuhörer, der Pig direkt zuhören würde, hat nur ein Problem: Er kann seine eigene Meinung, und seine Gefühle schwerer verbergen, als diejenige, die den Text für sich alleine liest.

Wenn der Text als neutral empfunden wird, und/oder hier und da bewirkt, daß sich der Leser in einer Situation fühlt, nichts wertendes dazu sagen zu können, dann finde ich, ist der Text - ein fiktiver Text, der ja keine Beschreibung einer wissenschaftlichen Formel ist (selbst der löst bei dem einem oder anderen eine Wertung aus)- nicht gelungen . Was soll der Leser und die Leserin mit einem Text, der ihn zur Neutralität und zur Urteilslosigkeit verdammt?

Mich verwirrt es daher doch ziemlich, wenn zum einen von Neutralität und von Sam selber von Urteilslosigkeit geschrieben wird.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

scarlett

Beitragvon scarlett » 11.08.2010, 20:06

Lieber Sam,

ich glaube, das ist der erste Text aus deiner Feder, mit dem ich nichts anfangen kann.

Alles daran ist mir fremd, berührt mich entweder unangenehm oder lässt mich kalt.

Klar, brillant erzählt ist er, keine Frage, aber das allein macht es diesmal für mich nicht aus.

Es tut mir leid, ich habe mich so sehr gefreut, nach langer Zeit etwas von dir zu lesen, aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, der Text berührt/erreicht mich.

Vielleicht das nächste Mal wieder,

herzlichst

Monika

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.08.2010, 21:16

Nicht Pig, aber Sams Text ist neutral, Sethe; Pig wird von Sam nicht bewertet, Sam ist nicht einmal da, denn er steckt in seiner Erfindung, in Pig, und nur Pig spricht, aber Pig ist kein Text, sondern ein nicht-neutraler Fleischberg.


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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 12.08.2010, 05:40

Gedankensprung ...

Sam, Du bist ein Meister der Knebelkunst, wahrlich. Faszinierend. Hier ist der Schweigende der Leser. In den Rubriken Publicus und Anonymus ist es der Autor. Der Erfinder dieser Rubriken: Sam :-)

... Gedankenschluss.


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Sam

Beitragvon Sam » 12.08.2010, 12:13

Hallo Elsa,

vielen Dank für deine Beschäftigung mit dem Text!

Du schreibst, der Protagonist bräuchte kein DU. Diese bewusste Vereinsamung finde ich fast noch schlimmer, als die Völlerei an sich. Und da bleibt scheinbar wirklich kein Spielraum mehr, um ein gewisses Maß an Verständnis aufzubringen.


Hallo Xanthippe,

auch dir herlzichen Dank für deine Stellungnahme! Der Begriff "Einverleibung" gefällt mir in Zusammenhang mit dem Text sehr gut. Jemand, der sich sich selbst einverleibt, zum Leib wird und nichts anderem.
Gefressen werden sollte der Leser allerdings nicht ;-)


Hallo Sethe,

vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar!

Pjotr ist ja schon kurz auf deine Argumentation eingegangen und so wie er, verstehe ich den Punkt der Neutralität bzw. Urteilslosigkeit auch. Der Text an sich ist natürlich nicht neutral. er ist, wie du es ja richtigerweise gesagt hast, eine rein subjektive Lebenssicht eines Menschen. Und da hier in der Ich-Form erzählt wird, ist die Erzählhaltung mit dem Erzählten identisch. Wäre der Text in der dritten Person geschrieben, käme automatisch eine zweite Dimension hinzu, nämlich die des Erzählers. Außer erwürde nur Fakten berichten oder wortgetreu das wiedergeben, was Pig sagt.
Ein Beispiel:
Pig erzählt von den Nutten und beschreibt dabei seine kalkweißen Schenkel. Würde nun ein Erzähler die Situation beschreiben und Pigs Schenkel als kalkweiß bezeichnen, wäre dies schon eine Art Wertung. Oder die Aussage, Pig hatte seinen ersten Sex mit einem Pirellikalender. So von einem Erzähler gesagt, und nicht als direktes Zitat verwendet, klänge das zynisch.
Da es mir als Autor aber gar nicht darum ging Fettleibigkeit zu thematisieren, sondern nur darum, in die Rolle eines Menschen mit extremen Ansichten zu schlüpfen und diese möglichst glaubwürdig zu "spielen", erschien mir die Ich-Form als die bestmögliche. Natürlich liegt auch darin ein Urteil meinerseits. Nämlich, dass ich der Meinung bin, Pigs Ansichten sind extrem und für "normale" Menschen kaum nachvollziehbar. Das war es aber auch schon.

Ich kann mich an die ein oder andere Diskussion hier im Salon erinnern zu Texten, bei denen es zu keinerlei Reflexion von außen zu dem geschilderten Inhalt kommt (z.B. das Gedicht "Beichte"). Scheinbar wird das oftmals erwartet, zumindest bei heiklen oder schwierigen Themen. Dazu fühle ich mich als Autor aber nicht verpflichtet. Im Gegenteil, ein großer Reiz beim Schreiben solcher Texte liegt darin, sich selbst völlig heraus zu nehmen und sozusagen nackt und unvoreigenommen in eine andere Rolle zu schlüpfen. Das ist meist so anregend wie unbehaglich. Aber auf eine gewisse Art versteht man plötzlich Dinge, die man eigentlich gar nicht verstehen kann.

Allerdings verdammt die Urteilslosigkeit des Autors nicht den Leser es genauso zu tun. Irgenein Urteil bildet man sich immer, über den Inhalt wie über den Text selbst. Nur ist man in diesem Fall damit völlig allein, weil der Text nicht darauf angelegt ist, dass der Leser so oder so über das Geschilderte denken sollte.



Hallo Monika,

es tut mir natürlich leid, dass du dich jetzt umsonst gefreut hast (wobei ich mich natürlich darüber freue, dass du dich auf einen weiteren Text von mir gefreut hast). Es wäre, glaube ich, sehr vermessen zu erwarten, dass ein Text alle Leser erreicht oder allen gefällt. Vielleicht sieht das beim nächsten Text in deinem Fall schon wieder anders aus.
Dennoch finde ich es schön, dass du dich hier kurz geäußert hast. Hab vielen Dank dafür!


Hallo Pjotr,

na, ganz so schweigend sind die Leser dann doch nicht ;-)

An Knebelung liegt mir eigentlich nicht viel. Vielleicht aber daran, die Dinge einfach mal für sich stehen zu lassen.


Euch Allen nochmals vielen Dank!

Gruß

Sam


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