Höhlenbegehung
Verfasst: 20.09.2010, 14:57
Höhlenbegehung
Ein senkrechter Spalt im Fels, so sauber geschlitzt wie ein Hieb mit dem Schwert: etwas über einen Meter hoch und in der Mitte zwei Fußlängen breit. Der Mann setzt seinen Rucksack ab, holt eine Stablampe hervor und leuchtet in den Spalt hinein. Tief öffnet er sich in den Bauch des Berges. Der mattweiße Lichtstrahl erhellt Wände, Steinbrocken; einen schmalen Durchgang, der eine leichte Kurve nach links macht, aber der Mann kann erkennen, dass es dahinter noch weiter geht.
Mit einem zufriedenen Seufzer bückt sich der Mann nach seinem Rucksack, holt drei Strand-Stoffhüte hervor und setzt sie übereinander auf. Jeden einzelnen zieht er gründlich nach unten bis über die Ohren. Ein Helm wäre natürlich weit sicherer und sähe zünftiger aus. Aber er hat sich nicht getraut, einen Laden für Bergsteigerausrüstung zu besuchen und nach Schutzhelmen zu fragen. Niemand soll wissen, dass er eine Höhle entdeckt hat. Nicht einmal ahnen. Dieser Gang gehört ihm allein.
Vorgestern noch hat er sich über eine Geröllhalde bergauf gequält, vergebens nach Wegmarkierungen gesucht, in seinem Wanderführer geblättert und ihn schließlich entnervt in eine Schlucht geschmissen (was er später bereut hat). Der ausgewiesene Weg ist nicht mehr vorhanden. Eine Steinlawine, vermutlich durch Schmelzwasser im Frühjahr ausgelöst, hat ihn zugedeckt. Nichts Ungewöhnliches. Der Mann hat sich auf seinen Teleskopstock gestützt, den Schweiß von der Stirn gewischt und erwogen umzukehren, weil er Angst hatte, sich zu verlaufen. Gerade in diesem Augenblick fiel ihm der jungfräuliche Riss in der Bergwand ins Auge, keine fünfzig Meter von ihm entfernt. Der Spalt steht auf keiner Wanderkarte: Abends im Hotel hat der Mann alle Karten und Prospekte durchgeblättert, die zu bekommen waren. Zwei Höhlen sind bekannt, viel begangen, mit steinzeitlichen Malereien, die man sich gegen Gebühr ansehen kann. Beide viel weiter im Landesinneren. Hier ist vor ihm noch niemand gewesen.
Einen Tag lang hat er überlegt und besorgt, was er für eine Höhlenerforschung braucht. Schwierig, weil er niemanden um Rat fragen wollte. Die drei Hüte halten hoffentlich das Schlimmste vom Kopf ab. Eine wattierte Bomberjacke muss sein, die ihn vor spitzen Steinen schützt. (Er holt sie aus dem Rucksack und zieht sie über.) Stabile Wanderstiefel – hat er. Wasserflasche. Zwei Tafeln Schokolade. (Nervennahrung, falls er einen Höhlenkoller bekommen sollte. Könnte ja passieren. Viele Menschen gingen gesunden Sinnes in eine Höhle und kamen als Irre wieder heraus, hat er gelesen.) Farbige Wachskreide, eine ganze Tüte voll, um die Höhlenwände zu kennzeichnen. Damit er sich nicht verirrt und womöglich tagelang im Berg bleiben muss, mit nichts als Wasser, Schokolade und keiner anderen Gesellschaft als (vielleicht) Knochen.
Er schiebt seitwärts eine Schulter in den Spalt, atmet einmal tief, zieht den Bauch ein und windet sich in den Berg. Schon vorgestern hat er probeweise den Oberkörper hineingesteckt und »Hallo« gerufen. Heute scheint der Spalt enger geworden zu sein. Wenn der Berg noch in Bewegung ist, könnte er verschüttet werden. Das Risiko muss er eingehen. Ja. Der Strahl der Taschenlampe rückt alle Hindernisse und Gefahren beruhigend scharf ins Licht: Geröllbrocken am Boden, spitze Vorsprünge an den Wänden. Kein ausgehauener Gang, sondern uneben und mit Steinen angefüllt, die unter den Schritten rasseln und auseinanderkollern. Engstellen und Stufen. Er kriecht und wirft kopfgroße Brocken hinter sich, die Taschenlampe zwischen den Zähnen. Eine Stirnlampe sollte er haben, notiert er sich in Gedanken, und einen Pickel. Und Handschuhe. Wenn er ein zweites Mal herkommt. Aber dann wird es das zweite Mal sein. Das erste Mal ist einmalig. Er holt die Wachskreide hervor und malt ein fettes rosa Kreuz an die Wand.
Dann gräbt er sich weiter wie ein Maulwurf. Es ist unsäglich mühsam. Mit beiden Händen schiebt er Steine zur Seite, zerrt den Rucksack hinter sich her und klopft mit Fußtritten die Felsnasen ab. Schweiß rinnt ihm in die Augenbrauen. Die Luft ist heiß und dumpfig, der Lichtkreis der Lampe um ihn verstörend klein, wie eine weiße Blase in der Dunkelheit.
»Hallo.«
Der Ruf bleibt vor ihm stehen wie eine Atemwolke. Kein Echo. Er verliert die Richtung und kriecht rückwärts, bis er das rosa Kreuz an der Wand sieht, dann wieder vorwärts. Von irgendwoher trifft ein Luftzug sein Gesicht, so fein, als bliese ihn ein sanfter Atem an: Es riecht frisch.
Lauter: »Hal-lo!!« Diesmal kommt, etwas verzögert, ein »l-lo« zurück und fliegt durch das Gewölbe vor ihm wie ein Gummiball. »l-lo … -lo … -lo …«
Ermutigt kriecht er weiter und malt alle paar Minuten rosa Wachskreuze an die Wände. Steine klopfen, mit bloßen Händen Geröll schippen. Staub auf den Lippen und in der Kehle, dann ein Schwall kalter Luft gegen die Brust: hier weitet sich der Gang endlich. Noch ein Kreuz hingezeichnet, und siegessicher gleich noch zwei weitere dazu.
Als er das zweite malt, sieht er neben seiner staubbepuderten Hand, die das Kreidestück hält, einen roten Fleck an der Wand.
Vor Schreck lässt er die Kreide fallen, sucht einen Augenblick konfus zwischen seinen Stiefelspitzen herum und leuchtet schließlich die Wand mit der Taschenlampe an. Rotes und schwarzes Gewimmel springt auf ihn los: eine ganze Herde rennender Männchen und Tiere. In alle Richtungen dehnt sie sich an der Wand aus. Kleine Männer mit Säbelbeinen. Kugelrunde rote Büffel. Wölfe oder Hunde, ein Bär. Vier Männchen mit Bogen, vier weitere mit Speeren. Nein, nicht Speere. Die Arme hängen seitwärts am Körper herab und enden in übermäßig langen, gekrümmten Fingern. Er findet kein Ende des Bildes. Ein Hirsch mit breitem Geweih, ein Baum. Ochsen und gehörnte Tiere, die wie Ziegen aussehen; Kreise rundherum, als seien sie eingezäunt. Und immer wieder Menschen; manche mit gespannten Bögen, manche mit Speeren. Die meisten lassen die Arme untätig zu Boden baumeln, mit fünf langen Sicheln am Ende jedes Arms. Die Sicheln zucken im Lichtschein.
»Hal-lo!«, ruft er, und das »l-lo« dröhnt ihm entgegen, als stünde er vor einer Menschenmenge, die zurückschreit und sichelförmige Finger ausstreckt. Der Gang macht einen Knick und reißt plötzlich eine Halle auf, einen Felsendom von gewaltigem Ausmaß. Dicke Tropfsteine hängen von der Decke, andere recken sich vom Boden empor. Stalagtiten – Stalagmiten. Die Zweitausend-Euro-Frage. Der Mann lehnt sich gegen einen Tropfstein und versucht, den Raum auszuleuchten. Vergebens. Ohne Ende wachsen priapische Zapfen aus der Erde, manche unförmig wie übereinander gestapelte Pfannkuchen, andere feinziseliert wie abgebrannte Tropfkerzen; von der Saaldecke hängen Fahnen und Kristalle. Der Mann lässt sein bisschen Licht durch die Halle zucken und schnappt kalte Luft. Vor seinem Gesicht bleibt eine Atemwolke stehen, eine Blase aus winzigen Tröpfchen, die sich gleich darauf auflöst.
Der Tropfstein. Seine Oberfläche ist platt wie ein Tisch. Der Tisch ist angerichtet. Es liegen drei faustgroße Kugeln darauf, dunkelbraun und rau wie Baumrinde.
Der Mann tastet danach und richtet einen Lichtstrahl hin. Die Dinger sehen aus wie eingetrocknete Roggenbrötchen. Darüber ein weiteres Gemälde. Liegende Männchen. Die Finger krümmen sich zum Himmel.
Vorsichtig befühlt er die Kugeln. Es sind Artefakte, ohne Zweifel. Knochenhart. Aus Ton vermutlich. Auf der mittleren Tonkugel wächst bereits ein zarter Tropfstein, wie ein spitzer Hut auf einem Kugelkopf. Er nimmt die Kugel vorsichtig in die Hand, um sie von nahem anzuleuchten. Die Kugel besteht aus zwei übereinander gesetzten Schalen. Die Fuge in der Mitte ist sorgfältig mit Ton verschmiert.
Der Lichtkegel der Lampe beginnt zu verblassen und zuckt hin und her. Der Mann zittert. Er schiebt die Kugel sachte wieder auf die Steinfläche. Wie ein Stehaufmännchen schaukelt sie um ihren Schwerpunkt und stößt mit der Tropfsteinmütze gegen eine der anderen Kugeln, die sofort ins Rollen kommt. Der Mann greift hastig danach und stößt dabei die dritte Kugel herunter. Mit hellem Klirren schlagen beide Gefäße gleichzeitig am Boden auf und springen auseinander; die Kugeln öffnen sich wie Kastanienschalen. Ein unsäglicher Geruch fährt heraus, ein Furz aus tiefster Vergangenheit, so abgestanden und faulig wie aus dem Gedärm der Erde. Instinktiv tritt der Mann gegen den Tropfstein und wirft dabei auch die erste Kugel zu Boden. Die Tropfsteinmütze zerspringt. Ein neuer Schwall verpesteter Luft befreit sich und trifft ihn mitten ins Gesicht. Er würgt vor Übelkeit.
Er packt die Taschenlampe und stürzt sich in den Gang, tastet sich an den Felswänden entlang, verhakt sich in Speeren und sichelförmig gekrümmten Fingern. Steine rollen ihm vor die Füße, Felskanten schlagen ihm die Stirn blutig; er gerät auf dem glatten Geröll ins Rutschen und wird beinahe unter einer Flut von Kieseln und Strichmännchen begraben. Die fetten rosa Kreuze tanzen an den Wänden und lachen ihn aus. Das Licht seiner Lampe wird rasch schwächer und schwindet ganz. Weit vor ihm leuchtet eine blasse Mandel; die Felsspalte, durch die er hereingekommen ist – armselig schmal, kaum lässt sie ein Bündel Tageslicht durch. Atemlos erreicht er die Spalte und legt die Hände in die steinerne Öffnung. Seine Finger sind schwarz und krumm wie Sicheln. »Hallo?!« Ein zittriger Ruf. Keine Antwort mehr.
----------
Änderungen nach Tipps von Yorick und Nifl
Ein senkrechter Spalt im Fels, so sauber geschlitzt wie ein Hieb mit dem Schwert: etwas über einen Meter hoch und in der Mitte zwei Fußlängen breit. Der Mann setzt seinen Rucksack ab, holt eine Stablampe hervor und leuchtet in den Spalt hinein. Tief öffnet er sich in den Bauch des Berges. Der mattweiße Lichtstrahl erhellt Wände, Steinbrocken; einen schmalen Durchgang, der eine leichte Kurve nach links macht, aber der Mann kann erkennen, dass es dahinter noch weiter geht.
Mit einem zufriedenen Seufzer bückt sich der Mann nach seinem Rucksack, holt drei Strand-Stoffhüte hervor und setzt sie übereinander auf. Jeden einzelnen zieht er gründlich nach unten bis über die Ohren. Ein Helm wäre natürlich weit sicherer und sähe zünftiger aus. Aber er hat sich nicht getraut, einen Laden für Bergsteigerausrüstung zu besuchen und nach Schutzhelmen zu fragen. Niemand soll wissen, dass er eine Höhle entdeckt hat. Nicht einmal ahnen. Dieser Gang gehört ihm allein.
Vorgestern noch hat er sich über eine Geröllhalde bergauf gequält, vergebens nach Wegmarkierungen gesucht, in seinem Wanderführer geblättert und ihn schließlich entnervt in eine Schlucht geschmissen (was er später bereut hat). Der ausgewiesene Weg ist nicht mehr vorhanden. Eine Steinlawine, vermutlich durch Schmelzwasser im Frühjahr ausgelöst, hat ihn zugedeckt. Nichts Ungewöhnliches. Der Mann hat sich auf seinen Teleskopstock gestützt, den Schweiß von der Stirn gewischt und erwogen umzukehren, weil er Angst hatte, sich zu verlaufen. Gerade in diesem Augenblick fiel ihm der jungfräuliche Riss in der Bergwand ins Auge, keine fünfzig Meter von ihm entfernt. Der Spalt steht auf keiner Wanderkarte: Abends im Hotel hat der Mann alle Karten und Prospekte durchgeblättert, die zu bekommen waren. Zwei Höhlen sind bekannt, viel begangen, mit steinzeitlichen Malereien, die man sich gegen Gebühr ansehen kann. Beide viel weiter im Landesinneren. Hier ist vor ihm noch niemand gewesen.
Einen Tag lang hat er überlegt und besorgt, was er für eine Höhlenerforschung braucht. Schwierig, weil er niemanden um Rat fragen wollte. Die drei Hüte halten hoffentlich das Schlimmste vom Kopf ab. Eine wattierte Bomberjacke muss sein, die ihn vor spitzen Steinen schützt. (Er holt sie aus dem Rucksack und zieht sie über.) Stabile Wanderstiefel – hat er. Wasserflasche. Zwei Tafeln Schokolade. (Nervennahrung, falls er einen Höhlenkoller bekommen sollte. Könnte ja passieren. Viele Menschen gingen gesunden Sinnes in eine Höhle und kamen als Irre wieder heraus, hat er gelesen.) Farbige Wachskreide, eine ganze Tüte voll, um die Höhlenwände zu kennzeichnen. Damit er sich nicht verirrt und womöglich tagelang im Berg bleiben muss, mit nichts als Wasser, Schokolade und keiner anderen Gesellschaft als (vielleicht) Knochen.
Er schiebt seitwärts eine Schulter in den Spalt, atmet einmal tief, zieht den Bauch ein und windet sich in den Berg. Schon vorgestern hat er probeweise den Oberkörper hineingesteckt und »Hallo« gerufen. Heute scheint der Spalt enger geworden zu sein. Wenn der Berg noch in Bewegung ist, könnte er verschüttet werden. Das Risiko muss er eingehen. Ja. Der Strahl der Taschenlampe rückt alle Hindernisse und Gefahren beruhigend scharf ins Licht: Geröllbrocken am Boden, spitze Vorsprünge an den Wänden. Kein ausgehauener Gang, sondern uneben und mit Steinen angefüllt, die unter den Schritten rasseln und auseinanderkollern. Engstellen und Stufen. Er kriecht und wirft kopfgroße Brocken hinter sich, die Taschenlampe zwischen den Zähnen. Eine Stirnlampe sollte er haben, notiert er sich in Gedanken, und einen Pickel. Und Handschuhe. Wenn er ein zweites Mal herkommt. Aber dann wird es das zweite Mal sein. Das erste Mal ist einmalig. Er holt die Wachskreide hervor und malt ein fettes rosa Kreuz an die Wand.
Dann gräbt er sich weiter wie ein Maulwurf. Es ist unsäglich mühsam. Mit beiden Händen schiebt er Steine zur Seite, zerrt den Rucksack hinter sich her und klopft mit Fußtritten die Felsnasen ab. Schweiß rinnt ihm in die Augenbrauen. Die Luft ist heiß und dumpfig, der Lichtkreis der Lampe um ihn verstörend klein, wie eine weiße Blase in der Dunkelheit.
»Hallo.«
Der Ruf bleibt vor ihm stehen wie eine Atemwolke. Kein Echo. Er verliert die Richtung und kriecht rückwärts, bis er das rosa Kreuz an der Wand sieht, dann wieder vorwärts. Von irgendwoher trifft ein Luftzug sein Gesicht, so fein, als bliese ihn ein sanfter Atem an: Es riecht frisch.
Lauter: »Hal-lo!!« Diesmal kommt, etwas verzögert, ein »l-lo« zurück und fliegt durch das Gewölbe vor ihm wie ein Gummiball. »l-lo … -lo … -lo …«
Ermutigt kriecht er weiter und malt alle paar Minuten rosa Wachskreuze an die Wände. Steine klopfen, mit bloßen Händen Geröll schippen. Staub auf den Lippen und in der Kehle, dann ein Schwall kalter Luft gegen die Brust: hier weitet sich der Gang endlich. Noch ein Kreuz hingezeichnet, und siegessicher gleich noch zwei weitere dazu.
Als er das zweite malt, sieht er neben seiner staubbepuderten Hand, die das Kreidestück hält, einen roten Fleck an der Wand.
Vor Schreck lässt er die Kreide fallen, sucht einen Augenblick konfus zwischen seinen Stiefelspitzen herum und leuchtet schließlich die Wand mit der Taschenlampe an. Rotes und schwarzes Gewimmel springt auf ihn los: eine ganze Herde rennender Männchen und Tiere. In alle Richtungen dehnt sie sich an der Wand aus. Kleine Männer mit Säbelbeinen. Kugelrunde rote Büffel. Wölfe oder Hunde, ein Bär. Vier Männchen mit Bogen, vier weitere mit Speeren. Nein, nicht Speere. Die Arme hängen seitwärts am Körper herab und enden in übermäßig langen, gekrümmten Fingern. Er findet kein Ende des Bildes. Ein Hirsch mit breitem Geweih, ein Baum. Ochsen und gehörnte Tiere, die wie Ziegen aussehen; Kreise rundherum, als seien sie eingezäunt. Und immer wieder Menschen; manche mit gespannten Bögen, manche mit Speeren. Die meisten lassen die Arme untätig zu Boden baumeln, mit fünf langen Sicheln am Ende jedes Arms. Die Sicheln zucken im Lichtschein.
»Hal-lo!«, ruft er, und das »l-lo« dröhnt ihm entgegen, als stünde er vor einer Menschenmenge, die zurückschreit und sichelförmige Finger ausstreckt. Der Gang macht einen Knick und reißt plötzlich eine Halle auf, einen Felsendom von gewaltigem Ausmaß. Dicke Tropfsteine hängen von der Decke, andere recken sich vom Boden empor. Stalagtiten – Stalagmiten. Die Zweitausend-Euro-Frage. Der Mann lehnt sich gegen einen Tropfstein und versucht, den Raum auszuleuchten. Vergebens. Ohne Ende wachsen priapische Zapfen aus der Erde, manche unförmig wie übereinander gestapelte Pfannkuchen, andere feinziseliert wie abgebrannte Tropfkerzen; von der Saaldecke hängen Fahnen und Kristalle. Der Mann lässt sein bisschen Licht durch die Halle zucken und schnappt kalte Luft. Vor seinem Gesicht bleibt eine Atemwolke stehen, eine Blase aus winzigen Tröpfchen, die sich gleich darauf auflöst.
Der Tropfstein. Seine Oberfläche ist platt wie ein Tisch. Der Tisch ist angerichtet. Es liegen drei faustgroße Kugeln darauf, dunkelbraun und rau wie Baumrinde.
Der Mann tastet danach und richtet einen Lichtstrahl hin. Die Dinger sehen aus wie eingetrocknete Roggenbrötchen. Darüber ein weiteres Gemälde. Liegende Männchen. Die Finger krümmen sich zum Himmel.
Vorsichtig befühlt er die Kugeln. Es sind Artefakte, ohne Zweifel. Knochenhart. Aus Ton vermutlich. Auf der mittleren Tonkugel wächst bereits ein zarter Tropfstein, wie ein spitzer Hut auf einem Kugelkopf. Er nimmt die Kugel vorsichtig in die Hand, um sie von nahem anzuleuchten. Die Kugel besteht aus zwei übereinander gesetzten Schalen. Die Fuge in der Mitte ist sorgfältig mit Ton verschmiert.
Der Lichtkegel der Lampe beginnt zu verblassen und zuckt hin und her. Der Mann zittert. Er schiebt die Kugel sachte wieder auf die Steinfläche. Wie ein Stehaufmännchen schaukelt sie um ihren Schwerpunkt und stößt mit der Tropfsteinmütze gegen eine der anderen Kugeln, die sofort ins Rollen kommt. Der Mann greift hastig danach und stößt dabei die dritte Kugel herunter. Mit hellem Klirren schlagen beide Gefäße gleichzeitig am Boden auf und springen auseinander; die Kugeln öffnen sich wie Kastanienschalen. Ein unsäglicher Geruch fährt heraus, ein Furz aus tiefster Vergangenheit, so abgestanden und faulig wie aus dem Gedärm der Erde. Instinktiv tritt der Mann gegen den Tropfstein und wirft dabei auch die erste Kugel zu Boden. Die Tropfsteinmütze zerspringt. Ein neuer Schwall verpesteter Luft befreit sich und trifft ihn mitten ins Gesicht. Er würgt vor Übelkeit.
Er packt die Taschenlampe und stürzt sich in den Gang, tastet sich an den Felswänden entlang, verhakt sich in Speeren und sichelförmig gekrümmten Fingern. Steine rollen ihm vor die Füße, Felskanten schlagen ihm die Stirn blutig; er gerät auf dem glatten Geröll ins Rutschen und wird beinahe unter einer Flut von Kieseln und Strichmännchen begraben. Die fetten rosa Kreuze tanzen an den Wänden und lachen ihn aus. Das Licht seiner Lampe wird rasch schwächer und schwindet ganz. Weit vor ihm leuchtet eine blasse Mandel; die Felsspalte, durch die er hereingekommen ist – armselig schmal, kaum lässt sie ein Bündel Tageslicht durch. Atemlos erreicht er die Spalte und legt die Hände in die steinerne Öffnung. Seine Finger sind schwarz und krumm wie Sicheln. »Hallo?!« Ein zittriger Ruf. Keine Antwort mehr.
----------
Änderungen nach Tipps von Yorick und Nifl