Oktober

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 02.10.2010, 17:26

Dass dieser Sommer, von dem sie im Nachhinein als dem „bulgarischen“ redeten, ihren jungen Leben eine völlig neue Wendung geben würde, ahnte keiner von ihnen.

Sie waren Anfang zwanzig und sonnten sich am Strand von Varna. Abends tranken sie sauren Rotwein.
Später würden sie nach Trnovo aufbrechen, dort mit bärtigen Studenten Bekanntschaft schließen und die Sonne hinterm Zarewetz versinken sehen.
In Sofia standen sie staunend vor der goldkuppeligen Kathedrale und kauften Schafskäse für daheim.
Die DDR war unglaublich weit weg. Die thüringische Kleinstadt fern.

Doch schließlich gingen die unbeschwerten Sommertage ihrem Ende zu.
Der Semesterbeginn stand unmittelbar bevor und sie alle wollten an die Uni zurückkehren.

Der Sofioter Flughafen markiert gleichsam das Ende des Balkanaufenthaltes und das fast zögerlich zu nennende Wiedereintauchen in die ostdeutsche Zeitrechnung.

Auf dem Flug wird kaum gesprochen. Jeder hängt seinen Gedanken nach.
Die kleine Reisegruppe landet planmäßig in Berlin-Schönefeld.

Sie will sich noch vom Flughafen aus telefonisch bei der Familie zurückmelden. Der Vater hebt ab. Ungewöhnlich, denkt sie. Normalerweise ist die Mutter die Wächterin über den Telefonapparat.
„Gut, dass du gesund gelandet bist“, sagt der Vater mit ernstem Unterton.
„Alles Weitere erzählen wir dir zu Hause.“
Alles Weitere? Ein ungutes Gefühl beschleicht sie, das so gar nicht zur abklingenden Ferieneuphorie passen will.
Gesund gelandet?

Im Zug nach Dresden sitzt sie allein in einem Abteil. Sie ist müde von der Reise, erschöpft, aber ihre Gedanken kreisen beständig um die Worte des Vaters.
Der Zug fährt im Hauptbahnhof ein. Sie steigt aus und erschrickt. Überall sind Uniformierte postiert. Steine liegen umher. Zerschlagenes Fensterglas.
Dass in den vergangenen Wochen noch viel mehr zu Bruch gegangen ist, wird man ihr Stunden später erzählen. Und alles Weitere.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 04.10.2010, 17:58

Das ist doch auch ein sehr passender Text zu den jetzigen Gedenktagen und -wochen, Allerleirauh. Für meinen Geschmack sparst Du am Ende freilich allzu viel aus. Etwas mehr Information, was "alles Weitere" war, hätte ich mir gewünscht! Auch eine Beschreibung der Reaktion darauf. So bleibt mir nur das Gefühl, dass es sich um die wehmütige Darstellung eines auch allegorischen Sonnenuntergangs handelt.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 10.10.2010, 18:15

Hallo, Allerleirauh, ich habe mich gefragt, warum Du am Ende nicht mehr erzählst. Ich glaube, das liegt daran, dass Du die Geschichte für Menschen erzählst, die dasselbe oder Ähnliches erlebt haben wie Du. Ebenso wie Du haben sie diesen Moment des großen Bruchs in Erinnerung, in dem eine für "normal" gehaltene Welt mitsamt ihrer durchaus vorhandenen Poesie auf Nimmerwiedersehen versank. Dieser Moment dürfte in die Biografien derer, die ihn erlebten, wie ein Trauma eingekerbt sein. In meine ist er das nicht. Deshalb wüsste ich gern mehr - aber aus den erwähnten Gründen willst Du mehr nicht erzählen.
Gruß
Quoth
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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 10.10.2010, 18:31

lieber oder liebe quoth,

sorry, ich habe deine antwort erst soeben registriert.
ich glaube nicht, dass man eine geschichte für eine bestimmte menschengruppe schreiben kann. wenn der text entstanden ist, ist er da. und er wird (bestenfalls) gelesen. von wem nun auch immer.
tatsächlich ist es in diesem falle so, dass ich die aufgabe hatte, innerhalb von wenigen stunden das ende eines sommers zu beschreiben. ich habe lange überlegt und dabei festgestellt, dass das ende dieses einen sommers für mich eben noch ganz präsent ist.
dass der sommer einen "bruch" in meiner biografie darstellt, ist wohl wahr, allerdings würde ich nicht von einem traumatischen erlebnis sprechen. es gab tage und wochen, die schon prekär waren, politisch, was ja hinlänglich bekannt sein dürfte, mittlerweile, aber insgesamt würde ich schon von einem sehr willkommenen bruch sprechen.
in der endkonsequenz denke ich, dass die ereignisse vom september/oktober 89 nur sehr überraschend kamen für uns.

"alles weitere" kann ich gern erzählen, aber ich glaube, das wird ein neuer text.

übrigens erinnere ich mich, wenn ich an diese zeit zurückdenke, auch an optimistische/euphorische stimmungen und die unglaublich scheinenden möglichkeiten, etwas mitzugestalten und zu verändern (damit meine ich nicht bananen!).

ich vermisse das manchmal. viele leute haben sich bequem mit sich und ihrer umwelt eingerichtet. oder resigniert.

lg
a.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 11.10.2010, 08:35

Hallo, allerleirauh,

was für ein beneidenswertes Selbstbewusstsein, dass Du die Erstbeantwortung eines eingestellten Textes übersiehst! Wir normalen User lungern auf diese Erstreaktion und schnappen nach ihr wie hungrige Wölfe! Aber das nur nebenbei ...

Darf man fragen, wo einem so reizvolle Aufgaben wie die, das Ende eines Sommers zu beschreiben, gestellt werden?

Du schreibst:
"alles weitere" kann ich gern erzählen, aber ich glaube, das wird ein neuer text.


Wird man den hier zu lesen bekommen? Würde mich freuen! Zumal Du Dich mit so klaren Worten von der "Ostalgie" lossagst, die in Deinen Sonnenuntergangstext hineingelesen werden könnte.

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 11.10.2010, 17:41

hallo quoth,

ich hatte in den letzten wochen in erster linie die ankündigung der sächsischen lesung im kopf und den text ein wenig verdrängt.
vielleicht auch deshalb, weil ich ihn als, ich weiß eigentlich nicht, wie ich das nennen soll, "nüchtern"/"sachlich" betrachte. ich schreibe solche texte selten. wenn ich zum beispiel ein gedicht poste, dann fühle ich mich, was die zu erwartenden reaktionen angeht, viel verletzbarer als in diesem fall. dann lauere ich selbstverständlich auch auf reaktionen... :-)

die schreibaufgabe stammt aus einer textwerkstatt. die teilnahme an dieser textwerkstatt hatte ich bei einer ausschreibung gewonnen und das ganze sah so aus, dass frau allerlei und neun andere menschen übers wochenende in ein haus im wald verfrachtet wurden. ein lyriker aus leipzig und eine germanistin leiteten das projekt. ich hatte zunächst große bedenken, ob dabei etwas herauskommen würde, kann aber im nachhinein sagen, dass ich viele anregungen und impulse wieder mit nach hause nehmen konnte. von vorteil war ganz sicher, dass die teilnehmer der werkstatt sowohl altersmäßig (der älteste war weit über 80) als auch vom familiären und beruflichen hintergrund her sehr unterschiedlich waren. beim thema "erinnerung" ist diese besetzung wohl ideal.

ich werde überlegen, ob meine ganz persönlichen erinnerung an dieses sommerende und den folgenden herbst eine fortsetzung hergeben. danke für dein interesse auf jeden fall!

lga

Sam

Beitragvon Sam » 11.10.2010, 18:47

Hallo allerleirauh,

mein Problem mit dem Text ist, dass er ein bestimmtes Wissen voraussetzt, um ihn zu verstehen bzw. ihn nachempfinden zu können. Dieses Wissen ist bestimmt bei den meisten deutschen Lesern vorhanden. Aber es ist, zumindest bei den westdeutschen, meist nur ein Halbwissen, ein Abgefüttertsein mit Stichworten. Viel mehr bietet dein Text leider auch nicht. Es ist nicht verwunderlich, dass Tellkamps Roman "Der Turm" so eine Resonanz gefunden hat, weil er in seiner epischen Breite eine Geschichte erzählt, jenseits der Stichwörter.

Ich glaube, die Ereignisse von 89 sind noch nicht so sehr ins kollektive, gesamtdeutsche Gedächtnis eingesickert, als dass man sich ihnen auf so kurzem Wege nähern kann, ohne dass Leser, welche die Ereignisse nur aus der Ferne oder als Unbetroffene beobachtet haben, nicht nach "mehr" verlangen.

Gruß

Sam

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 13.10.2010, 19:30

hallo sam,

ich finde spannend, was du schreibst, weil du im prinzip mit klareren worten wiederholst, was quoth bereits andeutete. du meinst, dass der text ein bestimmtes wissen voraussetzt. ich habe ganz ehrlich keine ahnung, wovon du/ihr in diesem falle sprichst/sprecht bzw. schreibst/schreibt.
welche dinge sind ohne eine entsprechende vorerfahrung nicht verständlich?

ich selbst bin mir nicht im klaren darüber, wieviel von diesen erinnerungen ich in niedergeschriebener form zulassen möchte, weil ich zum einen oft denke, dass das gesamtdeutsche interesse an den ereignissen gering ist und zunehmend geringer wird. (auch ich bin über weite strecken ziemlich fertig damit. "der turm" zum beispiel ist momentan kein buch, das mich interessiert.) zum anderen, und das hat quoth bereits angesprochen, ärgert mich die verklärende ostalgie, die nicht meiner sicht auf die dinge entspricht. ich würde dem gern etwas entgegensetzen, auch, weil die ereignisse ein wichtiger teil unserer familiengeschichte sind.

lg
a

Max

Beitragvon Max » 14.10.2010, 22:57

Liebe A.,

allererster Eindruck: Der text is sehr dicht, so, dass er mich in seinem Metz fängt und in mir Erinnerungen nach oben spült, die ich gerne auch in einen Text fassen würde.

Ich hoffe das gelingt.

Merci,
Max

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 15.10.2010, 12:19

mein erster eindruck: großartig. da sind kleinigkeiten an denen man herumpflücken könnte, aber die geschichte an sich, dieses ende in dem alles steht, weil es alles offen lässt und das spiel mit den zeiten, das springen in den zeitebenen und die andeutungen, ja, das ist sehr dicht und doch offen genug, um jeden einzufangen. sehr sehr gut gefällt mir dieser text.
im gegensatz zu sam mag ich gerade dieses angedeutete, ja, vielleicht birgt das die gefahr, dass nicht jeder versteht, worum es geht, aber dafür gibt es ja dann den turm von herrn tellkamp. das hier ist etwas anderes. und das ist gut so.
xanthi

Trixie

Beitragvon Trixie » 15.10.2010, 12:59

hallo a.,

mal eine rückmeldung von einer 86 geborenen, die dich in bezug auf das vorher gesagte hoffentlich nicht verärgert.

der schreibtstil - wunderbar.
der lesefluss - toll.
die story - interessant. man ahnt, dass da was kommen muss, das reizt, da will ich ganz langsam weiterlesen, weil ich sehe, dass da nur noch wenige zeilen sind und die will ich genießen, das gefällt mir gut, diese art von text.

aber
dann zum schluss - hätte ja was ganz persönliches sein können, die mutter liegt im krankenhaus oder der bruder und die mutter ist bei ihm oder so, nee, dann kommt wieder sowas geschichtliches und ich weiß nich genau, weil da steht ja auch kein jahr dabei, ob es jetzt das ist, was ich denke, und das ärgert mich, weil ich ja den teil nur aus geschichtsbüchern kenne und ich denke mir, hätteste besser aufgepasst, dann wüsstest du, was zerbrochene scheiben zu bedeuten haben, was kann das gewesen sein, ein stichwort, ein hinweis, ich grübel nach, gab es da was, hm, blöde schule, äh, vielleicht find ich ja noch mehr hinweise, aber nein, die geschichte ist zuende. und warum hat die mutter jetz nich das telefon abgenommen? was ist denn da jetzt so spannendes in der ddr passiert, als der sommer vorbei war? und welcher sommer war das denn? naja, kann ja dann nur das gewesen sein, das niemand ausspricht, das aber anscheinend alle denken, also sprech ich es auch nicht aus.

trotzdem - kommentare lesen.
ahso. scheint wohl der ersten vermutung gewidmet zu sein, mauerfall.

das nimmt mir den spaß an der geschichte, mir ganz persönlich als junger mensch, der doch viel zu wissen glaubt für sein alter, und dann irgendwie keinen plan von so wichtigen ereignissen hat, welche man nicht mal mehr aussprechen(ausschreiben) muss, sondern nur andeuten muss. ich fühl mich ein wenig dumm und unsicher.

aber das hat ja nix mit der geschichte zu tun, die ist an sich echt ein gelungener erinnnerungen-ausschnitt =).

liebe grüße
trix

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 05.11.2010, 12:09

hallo xanthippe und trixie,

danke für eure rückmeldungen.

es ist für mich ein wenig schwierig, auf deine ausführungen zu antworten, trixie, vielleicht, weil du eine ganz bestimmte sicht auf die dinge hast.
du schlägst vor, am schluss der geschichte hätte etwas persönliches stehen können, die krankheit der mutter zum beispiel. ich denke, und ich hoffe, dass du das jetzt nicht falsch verstehst, dass mir diese art schluss für diese art text zu banal gewesen wäre. dann hätte ich ihn nicht geschrieben, glaube ich.

ich wollte die stimmung dieses sommerendes einfangen/zurückholen und ausschlaggebend waren dabei nur meine persönlichen erinnerungen. ich bin nicht angetreten, um die nachgeborenen über die ereignisse des sogenannten wendeherbstes aufzuklären. das können andere tun. außerdem meine ich, dass es bei interesse ein leichtes wäre, sich zu informieren.
hier zum beispiel: http://www.geest-verlag.de/node/15793 (man muss sich die dresdner ereignisse suchen.)

lg
a

Trixie

Beitragvon Trixie » 05.11.2010, 14:16

hallo liebe a,

diese "diskussionen" darüber, ob man sich, während man einen text liest, darüber schlau machen muss, was man da eigentlich liest, hatten wir jetzt schon ansatzweise in mehreren anderen fäden.

dann schließe ich einfach dieses kapitel für mich als weiterer "text aus der zeit", mit dem ich mich nicht weiter beschäftigen sollte, weil er ja "vor meiner zeit" und daher für mich nich so zugänglich ist, wie ich es mir wünschen würde. wobei ich eigentlich gerne texte lese, die vor 1986 spielen, bzw. vor der zeit, an der ich mich erinnern kann, etwas mitbekommen zu haben.

ein anderer text ist dann bestimmt wieder zugänglicher für mich!

liebe grüße
trix


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