Die Schreie

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
LudwigP.

Beitragvon LudwigP. » 25.04.2006, 02:13

Der Atem wird immer langsamer. Er liegt auf dem Bett, schaut die Leute, die um ihn versammelt waren, an - und schreit. Er schreit so laut, wie er nur kann, aber was soll denn das - niemand scheint ihn zu hören!

So geht es die ganze Zeit, schon seit Tagen, wenn nicht sogar Monaten - er hat schon längst das Zeitgefühl verloren. Was ist da nur mit mir los - fragt er sich immer öfter, immer verzweifelter und in seinem Kopf breitet sich immer stärker die Resignation. Er versteht es nicht - warum beachtet ihn niemand, warum hört ihn niemand und warum liegt er da? Fragen, die er niemandem stellen kann, weil ihn niemand hört. "Ich höre euch doch, warum versucht ihr mich nicht zu verstehen?" - ruft er, als eine junge Frau in Weiß ins Zimmer kommt. Nein, es passiert nichts, sie schaut auf einen Monitor neben dem Bett, drückt paar Knöpfe und geht wieder, ohne ihn anzuschauen. Die Nacht bricht an, die wievielte schon? Er weiß es nicht - vielleicht die zehnte Nacht? Oder die dreißigste? Er gibt das Denken auf und schläft ein - wie immer.

Langsam wacht er auf. Wie lange hat er geschlafen? Ist doch egal, ich liege ja schon eine Ewigkeit hier - denkt er sich und schaut die Frau in Weiß an. Soll ich es wieder probieren? - überlegt er kurz, er probiert es und schreit - "Hallo, hören Sie mich? Hallo!". Nichts, sie dreht sich nicht einmal um. Warum hört sie ihn nicht, er hört sich doch - er denkt immer öfter, dass er verrückt geworden ist. Jetzt - jetzt dreht sie sich doch um. Sie hat mich gehört - freut er sich, doch was tut sie? Sie dreht ihn um, sie - oh Gott, sie wäscht ihn. Er kann es nicht verstehen - warum tut sie das, das kann ich doch selber - langsam wächst in ihm ein Verdacht. Sie geht wieder. Jetzt passiert wieder was - ein Mann in Weiß kommt rein und hinter ihm schon wieder die Frau. "Schwester, rufen Sie seine Frau an! Er wird aus dem Koma nicht mehr aufwachen, die Gehirnströme werden immer flacher!" - der Arzt schaut sie traurig an - "Ich weiss, dass es schwierig ist, aber fragen Sie seine Frau, ob Sie mit dem Abschalten der Geräte einverstanden ist!"
"Hallo, das darf doch nicht wahr sein!" - jetzt versteht er, er ist ein Patient in Koma - "Ich lebe, ich bin nicht tot!" Sinnlos schreit er, niemand hört ihn. Auf einmal kommt eine schwarze Gestalt in sein Zimmer, es wird kalt. Er weiß es - es ist der Tod, der auf ihn wartet. Er versucht sich zu bewegen, er versucht sich auf seine linke Hand zu konzentrieren und - nichts.

Der Arzt kommt wieder - ist es vielleicht so weit? Ja, er geht zu dem Gerät neben seinem Bett und dreht an paar Knöpfen. Der Monitor wird schwarz - es ist aus. Doch auf einmal erschreckt der Arzt - die rechte Hand hat sich bewegt. Schnell schaltet er wieder die Geräte ein und ruft die Schwester.
Die schwarze Gestalt geht zur Tür - "Ich komme wieder, wenn die Zeit reif ist!" - sagt sie und verschwindet.

"Sie waren 2 Jahre lang im Koma" - sagt der Arzt zu dem Peter - "es ist fast ein Wunder, wir haben schon die Geräte ausgeschaltet, als Sie sich bewegt haben!"
"Ich habe ständig gerufen, aber niemand hat mich gehört!" - erzählt Peter, er wirkt beruhigt, ja sogar glücklich.



(c) Ludwig P.

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 26.04.2006, 15:27

Hallo Ludwig,

du hast ein schwieriges Thema einfühlsam beschrieben, ohne auf die Tränendrüse zu drücken oder Sensationsgelüste anzustacheln. Ich kann mir vorstellen, dass das sehr schwierig war.

Einziges Meckerchen:
Der Patient, der ja nach zwei Jahren, praktisch im letzten Moment, aufwacht, hält die schwarze Gestalt für den Tod. Warum eigentlich? Er ist doch wieder auf dem Weg zurück ins Leben.
Ich nehme an, dass es sich bei der Gestalt um einen Geistlichen handelt, den man gerufen hat, dem Sterbenden die letzte Ölung zu geben. Warum geht der Geistliche wieder, ohne seine Pflicht zu tun? Eigentlich sollte er doch gerade in diesen Minuten beim Kranken bleiben - bis zuletzt! Und warum hat der Patient den Geistlichen nicht als solchen erkannt?

Liebe Grüße
Marlene

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Beitragvon Lisa » 27.04.2006, 17:36

Hallo Marlene,

ich habe es so verstanden, dass der Tod sich nähert, weil die Geräte ausgestellt werden sollen.

Hallo Ludwig,
ich hätte mir die Geschichte auch mit einem Ende vorstellen könne, dass schockierender ist. Die Geräte hätten ausgestellt werden können. Mir ist das Ende fast zu "gut". Das würde natürlich auch das Thema verschärfen...

Liebe Grüße,
Lisa

LudwigP.

Beitragvon LudwigP. » 27.04.2006, 20:54

@Lisa @Marlene

Ich danke euch beiden für die Kritik. Mit dem Tod war es gemeint, wie es Lisa verstanden hat. Das Ende war ursprünglich anders geplant, der Patient sollte sterben, aber dann wollte ich ein positives Ende haben - dadurch dem Leser Mut machen! Für die Spannung wäre ein anderes Ende vom Vorteil!


Ludwig


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