Der Mickerling

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 25.12.2010, 11:06

Der Mickerling

„Aus dir wird nie was!“ rief ein stattlicher Baum am anderen Ende des Standes. „Mit deiner krummen Spitze! Und dem Loch mittendrin!“

Der Angesprochene krümmte sich noch mehr zusammen. Zum Glück schneite es, und er war guter Hoffnung, dass der Schnee ihn bald unsichtbar machte.

„Und habt ihr schon gesehen? Er ist oben so breit wie unten!“ rief ein anderer Baum, der sich einer prächtig pyramidenförmigen Gestalt erfreute. „Ne, schmink dir das ab! Du wirst nie eine Kerze zu sehen kriegen!“

„Mir doch egal!“ Der verhöhnte Baum flüchtete sich in Trotz und dachte: „Was nützen den anderen die Kerzen? Weggeschmissen werden sie auch – nur ein bisschen später als ich! Ich ahnte es ja, als ich noch in der Schonung stand: Wir wurden nur gezogen, um in der Blüte unserer Jahre abgeschlagen und als Weihnachtsbäume verheizt zu werden!“ Neben ihm stand der größte Baum von allen, fast fünf Meter hoch. Der würde bestimmt in der Halle des Barons landen. „Findest du mich auch so hässlich?“ fragte ihn der Kleine mit dem Loch. Aber der Riese schwieg erhaben. Es wäre unter seiner Würde gewesen, mit dem Mickerling zu reden.

Die Tage vergingen, und der Stand leerte sich. Alle Bäume fanden einen Käufer, nur der eine war übrig und wurde von dem Arbeiter der Gärtnerei, der den Stand betrieb, auf den Unimog geschmissen zu den Maschendrähten, die den Standt eingefasst hatten. Der Arbeiter fuhr zur Gärtnerei.

Dort sah ihn eine Frau, die so viel hatte arbeiten müssen, dass sie zum Tannenbaumkauf noch nicht gekommen war. Sie hatte ihn immer wieder verschoben. Und nun gab es keine mehr, nur noch dies elende Gestrüpp dort auf der Pritsche des Kleinlasters. Sie lief in den Laden.

„Kann ich den haben?“ fragte die Frau die Chefin der Gärtnerei. Die nickte. „Was soll er kosten?“ „Den können Sie umsonst haben!“

Als die Frau wieder hinauskam, war der Unimog fort. Aber sie ahnte, wohin er gefahren war, und lief ihm nach. Tatsächlich erwischte sie ihn an der Schonung und teilte dem Arbeiter mit, dass sie den Baum für umsonst haben dürfe. Der Arbeiter warf ihn vom Wagen und murmelte: „Das Krepierdl!“ Irgendwie tat ihm die Frau leid, dass sie einen so hässlichen Weihnachtsbaum bekam. „Haben Sie noch ein paar Äste über?“ rief die Frau. Die bekam sie auch. Glücklich schleppte sie den Baum nach Hause.

Dort stellte sie ihn erst einmal in die Badewanne und ließ ihn abtauen. Als sie wieder nach ihm sah, erfüllte würziger Harzduft den Raum. Der Baum hörte die Stimme eines Jungen: „Ich will ihn sehen, ich will ihn sehen!“ „Nein, noch nicht,“ sagte die Mutter. „Ich tue ihn jetzt in den Fuß und dann schmücke ich ihn. Dann kommst du!“

Sie tat ihn aber nicht nur in den Fuß, sie machte noch was anderes. Sie holte grünen Gärnterdraht aus dem Keller, suchte einen geeigneten Ast aus und befestigte ihn mit dem Draht genau an der Stelle, wo der Baum das Loch hatte. Dann senkte sie die Äste, indem sie kleine rote Äpfel daran hängte, befestigte die Kerzenhalter und steckte die Lichter auf. Ein paar Strohsterne kamen auch noch dran und an die krumme Spitze der gläserne Wellensittich, den Lasse in seinem Sportverein geschenkt bekommen hatte.

Dann steckte sie die Kerzen an und ging zu Lasse. Er zappelte in seinem Rollstuhl herum und konnte es kaum noch abwarten.

Aber als er ins Weihnachtszimmer gerollt wurde, wurde er ruhig.

Und der Baum dachte: „Wenn die andern mich jetzt sehen könnten!“
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5657
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 26.12.2010, 06:20

Eine schöne "Weihnachtsgeschichte", die ich mir übrigens genau so in einer 2. Klasse einer Waldorfschule, vorgelesen vom Lehrer, vorstellen kann.

Ich selbst empfinde sie ein wenig zu "gefühlig", aber das soll nichts heißen.

Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 26.12.2010, 13:40

Hallo Amanita,

in Waldorfschulen werden viele gute Geschichten vorgelesen.

Der Zürcher Tagesanzeiger hat Peter Bichsel interviewt. Daraus ein Auszug:

TA: Feiern Sie allein überhaupt noch Weihnachten?
Bichsel: Ich schmücke zu Hause jedes Jahr einen Weihnachtsbaum. Einen billigen aus Plastik, aber einen ganz raffinierten hässlich und struppig. Er ist nicht einmal ganz gerade, aber wunderbar. Ich gebe mir eigenartigerweise viel mehr Mühe, seit ich allein lebe. Der Baum hat seit fünf Jahren immer dieselben Kerzen, weil ich sie nicht anzünde. Das wäre mir zu emotional. Aber ob ich Weihnachten feiere? Wohl eher nicht.
TA: Was machen Sie dann?
Bichsel: An Heiligabend mache ich immer einen geräucherten Schweinshals im selbst gemachten Brotteig mit Kartoffelsalat.
TA: Für sich allein?
Bichsel: Inzwischen für mich und meine Freundin. An Weihnachten besuche ich meine Kinder in Zürich.
TA: Sie bezeichnen sich als abgeklärten religiösen Menschen, der sagt: «Ich weiss, dass es keinen Gott gibt, aber ich glaube an ihn.» Wie geht das?
Bichsel: Nun, auch wenn es einen naturwissenschaftlichen Gottesbeweis gäbe, könnte ich ja immer noch sagen: Aber ich glaube nicht an ihn. Also kann ich auch sagen, es gibt keinen, aber ich mag ihn. Ich halte Religion für etwas Diesseitiges, eine wunderbare, uralte Erfindung von Menschen, und die Bibel für ein grossartiges Buch, weil sie sich dauernd widerspricht. Wenn Gott ein Teil der Natur wäre, wäre mir das zu wenig, als Erfindung ist er viel grossartiger.

Gefällt mir gut.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 26.12.2010, 14:39

Lieber Quoth,

Mir gefällt diese Geschichte gar nicht. Ich empfinde sie als Klischee, das ich schon viel zu oft gelesen habe. Zum einen das Bild vom mickerigen Tannenbaum, der doch zum Prächtigsten wird, das ist nicht neu.
Die "arme" Frau, die ihn rettet, wo er doch schon beinahe wieder abtransportiert ist und zum Schluss noch das behinderte Kind, das ja dann auch eine Rolle übernehmen muss, die meiner Meinung nach heutzutage Menschen mit Handicap nicht mehr zugedacht werden sollte. Ich empfinde das als zu dick aufgetragen und ziemlich rührselig.
Kann ich nichts mit anfangen...

Ich empfinde den Text auch als krassen Kontrast zur "Weihnachtsangst, erstaunlich, dass beide aus Deiner Feder stammen!

Trotzdem liebe Grüße

leonie

Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 26.12.2010, 18:45

Hallo, Leonie,

ich hatte nicht die Absicht, etwas Neues zu schreiben, sondern vielmehr einzutauchen in die Wiederholungswelten, aus denen Weihnachten besteht. Darin wiederholen sich auch die Motive, und eines ihrer markantesten ist: "Die letzten werden die ersten sein" (für mich am schönsten verarbeitet von Andersen in seinem "Hässlichen jungen Entlein"). Übrigens: Dass die Frau arm ist, steht da nirgends. Viel arbeiten müssen auch Gutverdienende. Und ob der Junge ein Handicap hat oder nur eine (vorübergehende) Sportverletzung, ist auch der Leserphantasie überlassen. Zum Teil hast Du die Rührseligkeit also durch Deine eigenen Projektionen verstärkt! :smile:

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 26.12.2010, 19:15

"arm" meinte ich eher bezüglich ihrer Lebenssituation, und Sportverletzte gehen doch eher mit Gehstützen und sind relativ selten im Rollstuhl (zumindest habe ich das noch nie erlebt...). Das "Zappeln" hat in mir das Bild eines spastisch gelähmten Jungen hervorgerufen.
In jedem Fall ruft der Text in mir rührseliges hervor, ich glaube nicht, dass das in erster Linie an mir líegt, sondern eher am "Wiederholungsfaktor", der bewirkt, dass man das Altbekannte vielleicht dann auch noch mit untermischt. So vermute ich mal. Aber da mögen wir geteilter Meinung sein...

Liebe Grüße

leonie


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 8 Gäste