Zelle C3-13 mit Meerblick

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Last

Beitragvon Last » 26.04.2006, 17:42

Zelle C3-13 mit Meerblick

Ich muss wohl geschlafen haben, denn ich habe gar nicht bemerkt, wie ich hierher gebracht wurde. So war ich dem Aufseher gegenüber auch sehr schüchtern, als er mir mit seinen Gönneraugen verschiedene Zellen zur Auswahl stellte. Da ich mit der Situation völlig überfordert war und die Zellen von innen alle ziemlich gleich ausschauten, entschied ich mich spontan für Nummer C3-13 mit Meerblick.
Seitdem sitze ich hier und betrachte das Meer hinter den Gitterstäben meines kleinen Fensters. Häufig ist es ganz ruhig und plätschert fast schon lieblich vor sich dahin. So harmonisch, dass es schon beinahe wie Musik in meinen Ohren klingt. Diese Momente hasse ich, weil sie auf Dauer langweilig sind. Manchmal toben die Stürme und treiben ihr grobes Spiel mit den zarten Wellen, die sich nicht anders wehren können, als mit Gischt um sich zu spucken, schäumend vor Tollwut. Und dieser Lärm, dieses ewige Getöse, so laut, dass es nichts, aber rein gar nichts, nützt die Ohren zu verschließen. Diese Momente hasse ich, weil sie mit ihrer permanenten Gier nach Aufmerksamkeit alle Träume von Freiheit verschlingen und mir einen kalten Schauer über den Rücken jagen, wenn ich an die Überfahrt denke, die mir bevorsteht, sollte ich entlassen werden.

maria

Beitragvon maria » 27.04.2006, 11:40

Hallo Last,

Mir gefällt dieses kurze Prosastück, die Sprache mit der du die unterschiedlichen "Stimmungen" des Meeres beschreibst. Meine Gedanken zum Inhalt: Was könnte gegensätzlicher sein, als eine enge Gefängniszelle und das weite, lebendige Meer? Das Meer trennt den Gefangenen vom Festland. Er weiß, daß er am Tag der Entlassung das Meer überqueren muß und fürchtet sich davor, obwohl er ja von der Freiheit träumt. Die Art und Weise wie du die Ankunft beschreibst, hat etwas passives (schlafend, schüchtern, überfordert), mmh ich vermute, der Text soll eine Metapher sein für Menschen, die sich (selbstverschuldet?) in ihrem eigenen inneren Knast befinden, sich nach dem "echten" Leben, nach Freiheit sehnen, aber zugleich vor dem Weg aus der Zelle, durch die unvermeidlichen Höhen und Tiefen hindurch, zurückschrecken. Aber wofür steht dann das Festland, kann man denn jemals irgenswo ankommen? - oder hab´ich mich total verrannt? Wäre auf deine Antwort gespannt!

LG maria

Last

Beitragvon Last » 27.04.2006, 12:40

Hallo maria,

ich danke dir vielmals für deine Antwort. Diese Parabel(?) hat nämlich schon einige foren durchwandert, blieb überall kommentarlos, bis auf ein Forum, wo sich sehr viele meldeten um zu sagen, wie schlecht die Geschichte ist ("Nichts Ganzes und nichts Halbes"; "Es kommt nicht raus, dass es ein inneres Gefängnis ist", etc.).
Ich bin schon irgendwie ein Kafkafan, das steckt wohl auch in diesem Text mit drin :???:
Du hast ziemlich genau entschlüsselt, was ich gemeint habe :grin:

Aber wofür steht dann das Festland, kann man denn jemals irgenswo ankommen?

Genau für diese Frage steht das festland, deshalb habe ich im Schlusssatz den Konjunktiv verwendet, deshalb erwähne ich das festland gar nicht erst.

Die Schuldfrage, die du aufwirfst (ach, wie toll, sogar das hat geklappt) bleibt ungeklärt. Wen du im Gedankengefängnis bist wirst du nicht entscheiden können, ob dich die Gesellschaft drt hinein manövriert hat, oder du dich selbst verannt hast. Diese Unmöglichkeit entscheidende Fragen zu klären machen genau den latenten Wahnsinn aus, der alles überschattet, weshalb das Meer auf diese Art und Weise wahrgenommen wird.

P.S.: Was niemand wissen kann:
Ich mache gerade Abitur, diese Woche sind die Prüfungen am Laufen, werde also aus der Schule entlassen. Mein erster Klassenraum war C313 :mrgreen:

maria

Beitragvon maria » 27.04.2006, 14:24

Onein! Hab´ich ehrlich "irgenswo" geschrieben? Das ist ein TIPPFEHLER! Musste mich doch gerade sehr kaputtlachen!

Danke für deine Erläuterungen!
Ich habe den Text gestern zweimal gelesen, da hatte ich aber noch irgendwie (irgenswie) eine Blockade, weil ich immer an Guantanamo denken mußte (ich lese gerade das Buch von Roger Willemsen), was natürlich in diesem Zusammenhang Quatsch war.
Mmh, das deine Geschichte in anderen Foren kommentarlos blieb, kann ich ja nicht verstehen. Aber es ist natürlich ein Text mit doppeltem Boden, das ist nicht sofort zugänglich und ich könnte so auch nicht schreiben - aber es reizt mich doch immer sehr! Aufgrund dessen, was ich bisher von dir hier gelesen habe, hätte ich dich älter geschätzt: großes Kompliment, wenn man schon so früh auf dem Weg ist! Ich bin da eher ein Spätzünder.
An die Nummer meines ersten Klassenraumes kann ich mich nicht mehr erinnern - aber unsere Klausuren haben wir entweder in A1 (scheußlich) oder A2 (scheußlicher) geschrieben. Das waren auch die reinsten Knastgefühle, die man da hatte (vor allem in Mathematik, ja, ja), diese Mini-Einzeltische ... das war Anno 1994.
Ich drücke die Daumen für die Prüfungen!

LG maria

Last

Beitragvon Last » 27.04.2006, 14:47

Das mit dem Tippfehler ist mir jetzt erst aufgefallen, wo du es erwähnst :razz:

Wie alt hättest du mich denn geschätzt? (ich bin 20 Jahre alt, also schulisch gesehen ein Spätzünder :sad: )

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Beitragvon Lisa » 27.04.2006, 17:43

Hallo Last,
ich glaube maria war einfach die richtige für deinen Text :grin:

Mir stellt sich eine Frage:
Ist es bildlich "richtig", von entlassen werden zu sprechen? Ich könnte mir zumindest vorstellen das auch die Alternative "auszubrechen" durchaus erwähnt werden könnte. Dann hätte man sowohl aktive als auch passive Momente.

Oder ist für dich ausbrechen unmöglich, weil wir immer in einer Welt - einer von vielen - leben?

Last

Beitragvon Last » 27.04.2006, 17:49

Hallo Lisa,

danke für deinen Kommentar. Ausbrechen würde hier nicht passen, obwohl ich diese Variante auch verarbeitet habe (in einem anderen Text, den ich mich aber noch nicht traue hier rein zu stellen, weil ich da mit vielen Vorgaben, wie man eine Geschichte zu schreiben hat ganz bewusst breche). Man kann eine Interpretation hier auch anders ansetzen, als Maria, deshalb ist entlassen werden besonders wichtig.

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Beitragvon Lisa » 27.04.2006, 18:05

Hallo Last,

man könnte das ganze auch auf die Eltern beziehen, aber das meinst du wohl nicht?

Ich habe übrigens gar nicht erwähnt, dass auch mir der Text gefällt, wenn mir auch scheint, ich habe ihn weniger als maria verstanden. Aber unfertgi ist er in keinem Fall. Ich glaube so kurze Prosatexte sehen viele deshalb als Skelett an, weil es einfach keine öffentliche Form von ihnen gibt. Mir gefallen solche kurzen Lichtwürfe.

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Beitragvon Lisa » 29.04.2006, 17:21

Hallo Last,

übrigens gibt es dazu vielleicht sogar einen ganz interessanten text für dich von Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus:

maria

Beitragvon maria » 30.04.2006, 12:04

Hallo Last und einen schönen Sonntagmorgen!

... ja, das mit dem Alter (hätte dich so Mitte/Ende 20 geschätzt) hat mit der anspruchsvollen Sprache und den Inhalten deiner Texte zu tun. Wenn man sich wie hier in einem Forum austauscht passiert das ja soz. "blind" - man hat ja nur das Geschriebene. Natürlich macht man sich unweigerlich (oder nicht?) ein Bild von den anderen. Das man "reif" leicht mit älter gleichsetzt ist, ist ja eigentlich dumm - denn wie viele "unreife", unverbesserliche Greise gibt es? Da kann man huunnnderrrrt Jaaahhhrrre alt werden...

LG maria

Last

Beitragvon Last » 30.04.2006, 12:06

Das gefällt mir :grin:


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