Spatzenträume

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hei43

Beitragvon hei43 » 28.04.2006, 09:35

Spatzenträume

Jeden Abend, zum Sonnenuntergang, kam die große Spatzenschar zu ihrem Schlafplatz zurück. In dem riesigen Efeuwirrwarr an dem alten Haus gab es nach der Rückkehr viel zu erzählen, und das Gezwitscher von alten und jungen Spatzen war in der ganzen Nachbarschaft deutlich zu hören.

Ein ganz kleiner junger Spatz mit Namen Fips wünschte sich seit langem, ein großer, bunter Vogel zu sein.

Er wurde immer unzufriedener und oft hörte man ihn laut rufen:
„Ich möchte doch so gerne ein großer bunter Vogel sein!“
Bald übertönte er damit das aufgeregte Gezwitscher der anderen. Wenn er nicht rief, saß er nur still im Geäst und sah dem Treiben in seiner Umgebung zu. Die älteren Spatzen machten sich Sorgen um ihn.

Eines Tages setzten sich zwei von ihnen zu dem kleinen Spatzenkind und fragten:
„Was ist mit dir, warum möchtest du ein großer bunter Vogel sein?“
Der Kleine schaute bedrückt nach unten und murmelte:
„Weil ich einfach kein Spatz mehr sein möchte. Ich möchte groß, bunt und schön sein, und auch besonders schön singen können!“
Diesen Wunsch wirst du dir wohl aus dem Kopf schlagen müssen. Bisher ist ein Spatz immer ein Spatz geblieben!“, sagte Tobi

Kulle meinte:
„Versuche es doch mal mit einem Traum. Manche Träume gehen in Erfüllung, wenn du es dir nur lange genug wünschst!“

Nachdenklich hüpfte der kleine Spatz an die oberste Stelle des Hauses, dorthin, wo das Efeu besonders dicht war, um seine Ruhe zu haben. Jeder hatte inzwischen seinen Schlafplatz gefunden und Stille trat ein. Es wurde immer dunkler und der Schlaf gesellte sich zu den Vögeln - und den kleinen „Möchtegernanderssein“ überfiel ein Traum:

Er befand sich in einem fernen Land. Es war herrlich warm und ringsumher sah er wunderschöne, große bunte Vögel, die so schön sangen, wie er es noch nie gehört hatte. Sie bestaunten den Neuankömmling von allen Seiten.
„Wer bist du denn?“, fragte neugierig ein besonders schöner Vogel, der vor ihm hin und her stolzierte.
„Ich bin ein Spatz und komme aus einer Spatzenkolonie!“, erwiderte er.
Immer mehr von den großen bunten Vögeln kamen angeflogen und angerannt, um das fremde Wesen anzuschauen.
„Was starrt ihr mich denn alle so an? Ich bin doch nur ein hässlicher, kleiner Vogel!“, rief der Spatz trotzig.
„Gerade, weil du anders bist als wir alle, gefällst du uns so sehr. Solch ein schwarzbraunes Gefieder hat von uns hier keiner!“, lobte ein Paradiesvogel und rückte an den kleinen Fremdling heran. „Kannst du auch singen?“, rief einer aus den hinteren Reihen.
„Ich konnte noch nie singen, aber ich kann zwitschern!“, entgegnete der Spatz und wurde plötzlich ganz mutig.
Laut und deutlich fing er an zu zwitschern. Alle standen mit offenen Schnäbeln da und staunten.
„Welch wunderbare Töne!“, rief der Größte unter ihnen.
Voller Begeisterung drängte dieser sich durch die Menge zu dem kleinen Spatzen, ließ ihn auf seinen ausgebreiteten Flügel springen und hob ihn in die Höhe, während er sich im Kreis drehte.

Wie im Chor rief die große bunte Vogelschar: „Zwitscher uns noch weitere Lieder und schenk uns Federn deines Kleides!“
Im Überschwang seiner Gefühle zupfte sich der Spatz die schönsten Federn aus und gab sie denen, die er erreichen konnte. Sie hielten die Kostbarkeiten gegen die Sonne und schwenkten sie mit dem Schnabel hin und her. Plötzlich wurde dem kleinen Spatzen kalt und die fremde Welt verschwamm vor seinen Augen.

Der kleine „Möchtegernanderssein“ erwachte erschrocken aus seinem Traum, denn ein kühler Morgenwind strich über die kahlen Stellen in seinem Gefieder. Hatte sich doch der kleine Vogel tatsächlich im Traum die Federn ausgerissen. Während die rote Morgensonne am Horizont erschien, erwachten auch die anderen Spatzen am alten Haus und hörten Gejammer in der Höhe. Aufgeregt hüpften sie hinauf und sahen ein vor Kälte zitterndes Spatzenkind, umgeben von ausgezupften Federn. Mitleidsvolle Spatzenmütter drückten sich dicht an das Spatzenkind, um es zu wärmen.
Reumütig flüsterte der Kleine: „Nie wieder will ich träumen oder ein anderer Vogel sein. Davon friert man doch nur!“

© Heidrun Gemähling

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Beitragvon Lisa » 29.04.2006, 16:58

Hallo Heidrun,

hm, die Aussage der Geschichte ist ja eine richtige: "Jeder ist etwas besonderes, da es unendlich viele Blickwinkel gibt" Und: "Du bist gut wie du bist". Allerdings finde ich die Art der Präsentation dieses Themas (was ja auch schon oft in Fabel,parabeln oder Märchen) schon etwas altbekannt. Ich würde mir das "moderner", "neuer" wünschen.


Was mir aber gefällt, sind die realen Auswirkungen des Traumes (die rausgerissenen Federn).

Die Schlussfolgerung des kleinen Spatzes am Ende finde ich geht allerdings an der (von mir gesehenen) Intention des Textes vorbei´:

Reumütig flüsterte der Kleine: „Nie wieder will ich träumen oder ein anderer Vogel sein. Davon friert man doch nur!“



Träumen ist doch nichts Verkehrtes...das ist mir zu moralisch.

ich fände eher ein Ende schön, wo der Spatz sein gerupftes Gefieder sieht und sich darauf freut, wenn die neuen Federn wieder sprießen und er sich vornimmt sie dann noch einmal ganz genau anzusehen im Vergleich mit den anderen Vögeln aus den Nicht-Träumen, die, aus seiner Welt.
[/quote]

hei43

Beitragvon hei43 » 29.04.2006, 17:42

Hallo Lisa,,
danke für Deine Beurteilung und Sichtweise auf die Geschichte.
Die Geschichte ist vielfach veröffentlicht und auch gedruckt erschienen, hatte ein großes Echo so wie sie ist, besonders in einer Krebskinderklinik zum Pädagogischen Gebrauch.

Bin aber froh, auch Deine Meinung gehört zu haben.

LG Heidrun


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