Stammbücher

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 13.03.2011, 15:51

Stammbücher

Jeden ersten Freitag im Monat besuche ich Frau Denner. Ab elf Uhr wartet sie auf mich, und wenn kurz vorher noch jemand kommt und was von ihr will, heiraten oder so, schickt sie ihn weg und sagt: Montag wieder. Trauungen werden erst gar nicht anberaumt.
Meine Kollektion habe ich immer dabei, damit es aussieht wie ein offizieller Besuch, aber selten packe ich sie aus. Nur manchmal, da schauen wir uns einige der Bücher an und lachen. Ab und zu kauft sie welche.

Ich nenne Frau Denner natürlich Sibylle und sie mich Franz. Und da Sibylle etwas Derbes an sich hat, eine Stimme, die sich anhört, als führe ein Hobel über Holz, zackige Gesten macht und ihre Zigaretten beim Rauchen erwürgt, klingt es für mich, wenn sie Franz sagt, immer so, als sagte sie Schwanz. Das macht mich mächtig an.

Wir ficken im Archiv, zwischen den Personenstandsbüchern der Jahre 1892 – 1914. Das ist der letzte Gang im Keller. Da hört man früh, wenn jemand kommt, weil derjenige erst an den ungefähr fünfzehn Regalen der Jahre 2010 bis 1915 vorbei muss, was uns genügend Zeit gibt, die Hosen wieder hochzuziehen.
Hinterher sitzen wir in ihrem Büro und trinken Kaffee oder Sekt, je nach dem, ob noch Kollegen da sind. Das ist dann auch der Zeitpunkt, wo ich ihr ein paar meiner Bücher zeigen kann. Das Standardprogramm kennt sie. Es kommen jeden Monat ungefähr acht bis zehn Vertreter zu ihr. Manche Kollektionen sind haarsträubend, manche überteuert, manche wirklich gelungen. Meine ist durchweg Scheiße, wie Sibylle sagt, und zudem teure Scheiße, teure romantische Stammbuchscheiße, lila Herzenscheiße, rosa Herzenscheiße, grüne Zweigescheiße, und blaue Chagallscheiße. Was mal wirklich geil wäre, sagt sie, das wäre eine gelbgrünblaurote Hundertwasserscheiße. Das würde sie den blöden jungen Orgelpfeifen, die sich bei ihr verheiraten sogar noch mit Elan anzudrehen versuchen. Und für die älteren eine Echtlederscheiße mit Stadtwappen. Aber die älteren, die haben ja alle schon ein Stammbuch, die brauchen gar keins mehr. Sagt Sibylle und zeigt mir, wenn keiner der Kollegen mehr da ist und wir Sekt anstatt Kaffee trinken, durch das Spreizen ihrer Beine, dass sie ihren Schlüpfer im Archiv gelassen hat.
Vor vier Jahren, sagt sie, hatte ich hundertzwanzig Hochzeiten im Jahr. Und jetzt. Gerade mal achtzig. Achtzig, wiederholt sie und dehnt die Zahl in ihrem Mund, als müsste die nochmals abgeschmeckt werden.
Man heiratete nicht mehr, ist ihr Resümee.
Mir braucht sie das nicht zu sagen, ich bin seit fünfundzwanzig Jahren Stammbuchverkäufer. Ich weiß, wohin der Hase rennt. Ich kenne jedes verdammte Standesamt in diesem Bundesland, kenne jeden Standesbeamten und mindestens drei seiner Vorgänger. Ich weiß, wie viele Stammbücher vor zwanzig, vor zehn und auch noch vor fünf Jahren zu verkaufen waren. Und wie es jetzt aussieht. Beschissen, um es nett zu formulieren. Kaum jemand heiratete noch, und die es taten, waren entweder jung und knauserig, was heißt, dass sie gänzlich auf den Luxus eines Stammbuches verzichteten und sich einfach ihre Heiratsurkunde in einer billigen Mappe aushändigen ließen, oder sie waren schon älter und damit Wiederholungstäter, die schon mindestens ein gebrauchtes Stammbuch im Bücherschrank hatten und was eine erneute Verwendung desselben betraf, keinerlei Skrupel erkennen ließen. Hauptsache dreißig Öcken gespart. So eine Hochzeit ist ja teuer genug.

Sibylle zieht hörbar den Rotz die Nase hoch.
In Sankt Frohlein, sagte sie, da haben sie diese Scheißburg über diesem Scheißfluss, in den Scheißweinbergen. Die haben Hochzeiten ohne Ende. Und machen das auch noch sonntags.
Ich kenne Sankt Frohlein, sage ich, da sind der Herr Schrabsau und seine nymphomane Elevin…
Die Ömisbauer …
Genau, die Ömisbauer. Die kotzen immer, wegen der Sonntagshochzeiten. Haben sich ein perverses Spiel ausgedacht, um auszulosen, wer es machen muss. Derjenige, der zuerst Dreck am Stecken der Brautleute findet, ist fein raus. Deswegen bläst die Ömisbauer dem debilen Hipo ab und zu einen. Schließlich reicht einmal falsch Parken schon aus, wenn sonst nichts zu finden ist. Schabsau steht mehr auf polizeiliche Führungszeugnisse und Facebook. Ist damit meines Wissens auch erfolgreicher.

Ich lernte Sibylle auf meiner Hochzeit kennen. Sie trug einen blauen Zweiteiler mit weißer Bluse. Auf der Nase eine randlose Brille, die sie unverschämt intelligent aussehen ließ. Nur ihre Stimme klang damals schon wie eine knarzende Tür, dass ich mich fragte, wie es so jemand zur Standesbeamtin bringen konnte. Da kannte ich aber noch nicht ihren Vorgesetzten, ein schwindsüchtiges Hascherl, der sich gerne mal in der Toilette einen herunterholte, bis Sibylle das übernahm.
Meine Frau war enttäuscht von der Trauung. Mir war es egal, ich hatte sowieso nicht zugehört.
Kurz darauf wechselte ich vom Formulargeschäft ins Stammbuchgeschäft. Mein erster Gang war in unser Standesamt, aber da war Sybille schon nicht mehr da. Sie hatte ebenfalls geheiratet und war mit ihrem Mann irgendwohin gezogen. Ein Vierteljahrhundert später kam sie zurück und ergatterte einen Job im Standesamt der Nachbargemeinde. Sie erkannte mich nicht, aber ich sie, weil ich, berufsbedingt, ein fotographisches Gedächtnis habe. Ich kam mit meinen zwei Koffern voller Stammbücher in ihr Büro, sie war gerade am Telefon und machte nur eine verächtliche Geste in meine Richtung, die mich natürlich nicht abschreckte. Stattdessen breitete ich alle Bücher auf dem Tisch vor ihr aus, während sie weiter telefonierte und ihr dabei merklich die Halsschlagader anschwoll.
Dann ging alles sehr schnell. Sybille legte auf und schaute etwa anderthalb Sekunden auf die Bücher.
Keinerkauftdenscheiß, sagte sie und ich sagte, alleliebendenscheiß, meinen Mercedes hab ich allein davon bezahlt.
Den will ich sehen, sagte sie, die meisten, die kommen, haben höchsten einen Astra oder einen Skoda. Keiner von euch Stammbuchhanseln fährt einen Mercedes.
Ich zeigte ihr meinen Mercedes und sie zeigte mir ihr Archiv. Und als ich das erste Mal in ihr war, sagte ich, du hast mich getraut. Da hat sie fast einen Krampf bekommen, aber danach ging es um so besser.

Nach meiner Frau fragt Sibylle nie, obwohl sie genau weiß, dass ich noch verheiratet bin und zwei Kinder habe. Ich glaube, sie genießt es, auf eine ganz besondere Art mit den Früchten ihrer Arbeit verbunden zu sein. Sie selbst ist dreimal geschieden und lebt im Moment mit einem fünfundsiebzigjährigen Maler zusammen, der regelmäßig in der Sparkasse und im Rathaus seine Bilder ausstellt. Eine Tochter hat sie aus zweiter Ehe, die wohnt aber bei deren Vater in der Schweiz. Bei Trauungen, an jener Stelle, wo Sybille über Familie und Kinder spricht, da zwickt es ihr manchmal unterm rechten Lid und es möchte eine Träne herauskullern, was aber nicht erlaubt wird.

Nächste Woche bekomme ich neue Bücher. Lodenscheiße, samtene DU&ICH-Scheiße für schwule und lesbische Paare, die auf das Wort Stammbuch oder Familie nicht mehr so stehen. Und auch eine dicke Lederscheiße, richtig fett, wie für Jäger oder Verteidigungsminister, mit einem Schloss daran, als wäre es ein Keuschheitsgürtel. Ich weiß schon, was Sibylle dazu sagen wird. Gar nichts. Sie wird nur einen flüchtigen Blick darauf werfen, wenn wir aus dem Archiv zurückkommen. Und danach einen Kaffee trinken. Oder einen Sekt.

Kleine Korrekturen nach Hinweisen von Pjotr und Gerda
Zuletzt geändert von Sam am 14.03.2011, 17:50, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 13.03.2011, 16:59

Hi Sam,

in diesem Text hast du 17 Mal das Wort "Scheiß(e)" verwendet. Diese Anhäufung an Scheiße kann ich nicht mehr als Stilmittel lesen. Der Text, in dem du von einem frustrierten Stammbücherverkäufer schreibst, der mit einer Standesbeamtin rumfickt in einer Welt, in der alles scheiße ist, wird so überflutet von Scheiße, dass für mich der Inhalt bzw. dessen Gehalt oder Aussage oder dem, was du erzählen willst, buchstäblich in Scheiße erstickt wird, so dass ich hier keinen Zugang finde und stattdessen lieber weiterziehe.
Sch... Schade. Hab wirklich schon bessere Texte von dir gelesen.

Saludos
Gabriella

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leonie
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Beitragvon leonie » 13.03.2011, 17:19

Liebe Gabriella,

heute sind wir dauernd unterschiedlicher Meinung. Ich finde den Text nämlich gut.

Lieber Sam,

das gefällt mir in seiner Hintergründigkeit. Die beiden, die die Lebensgemeinschaften anderer "besiegeln", als Standesbeamtin und als einer, der vom Stammbuchverkauf wunderbar leben kann, "scheißen" selber darauf. Darin verbirgt sich eine Wut auf alle, die an dieses Konzept, das sie "verkaufen" glauben und denen es womöglich sogar gelingt.
Deshalb ist auch das Wort "Scheiße" in der Häufung nötig. Denn jedes Stammbuch ist scheiße, weil es für etwas steht, was den beiden Protagonisten misslungen ist. Und worauf sie deshalb, wann immer sie es können, selber "scheißen", indem sie vögeln und das hinterher feiern. Andere feiern ihre Liebe und ihre Lebensgemeinschaft, diese beiden feiern den Bruch derselben und die Desillusionierung. "Schwanz" statt Franz reicht als Pawlowscher Impuls, Liebe ist nicht notwendig.
Aber sie widersprechen sich zugleich auch selber. Indem sie inkonsequent sind und ihre Berufe beibehalten. Und indem zumindest bei Sybille, doch gelegentlich ein Auge feucht wird, obwohl es nicht soll.
Es ist eine Lügengeschichte in mehrfacher Hinsicht, die sich hinter der vordergründigen Unterhaltsamkeit verbirgt. Ich finde sie gelungen.

Liebe Grüße

leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 13.03.2011, 18:33

Hi leonie,

ich war sehr gespannt, was hier noch an Kommentaren kommt und ob diese es schaffen, mir, die sich erdrückt fühlte und keinen Zugang fand, Erleuchtung zu bringen.
leonie hat geschrieben:Denn jedes Stammbuch ist scheiße, weil es für etwas steht, was den beiden Protagonisten misslungen ist.

Durch diesen Satz ist es dir tatsächlich ein wenig gelungen. ,-)

Saludos
Gabriella

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.03.2011, 20:02

Lieber Sam,

ich finde, hiermit trifft leonie es sehr gut:
Es ist eine Lügengeschichte in mehrfacher Hinsicht, die sich hinter der vordergründigen Unterhaltsamkeit verbirgt. Ich finde sie gelungen.


Ja, ich auch.

Stilistisch ist es natürlich ein bisschen die Frage, ob man es so stark spüren sollte, dass hier eine Geschichte erzählt wird und nicht nur, dass sie stattfindet. Ich bin da wirklich unentschlossen. Vielleicht eine Geschmacksfrage?

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 14.03.2011, 04:13

Hallo,

meine Meinung deckt sich weitgehend mit der von Leonie. Cheers, Leonie, heute ist der Tag :-) Lediglich würde ich das Lebensziel der Protagonisten nicht notwendig als "misslungen" bezeichnen, denn das würde voraussetzen, die Protagonisten sehnten sich selbst nach einem eigenen Stammbuch. Tun sie das? Nur vielleicht.

Mir gefällt dieser Text sehr, ich mag diese unverblümte, klare Sprache im Kontrast zu dem verblümten, unklaren Bühnenbild, vor dem sie stattfindet. Will sagen, das Bühnenbild ist schon klar, aber es ist mehrdeutig. Abstraktion benötigt immer einen konkreten Anhaltspunkt, damit sie nicht umfällt, egal ob Gemälde, Foto oder Text. Dieser Text vereint das alles. Die Kulisse finde ich überhaupt sehr originell. Der Konstrast ist wirklich inspirierend, daraus könnten ganz verschiedene pointenreiche Gesamtbilder resultieren.

Beispielsweise muss ein Stammbuch an sich nicht unbedingt eine Liebesurkunde symbolisieren, es kann auch eine stolze Fortpflanzungstrophäe darstellen. So, wie dem Jäger seine Jagdtrophäe, dem Hirschkopf an der Wand, so dem Sammler seine Sammlertrophäe, also die Nennung der Anzahl der Familienangehörigen als Statussymbol. In dieser Hinsicht, nur ein Beispiel von vielen, ergibt sich eine interessante vielgestaltige Lust- und Werte-Geometrie, meine ich.


Grüßend

Pjotr


Tippfehlerchen:
- Ich nenne Frau Denner natürlich Sibylle und sich mich Franz.
- Leerzeichen vor jedem "…" nach vollständigem Wort

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Eule
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Beitragvon Eule » 14.03.2011, 08:46

Hallo Sam, man könnte die Geschichte auch als "intelligenten" Porno lesen und bei diesem Thema denke ich wieder ans Ende des "literarischen Quartetts" im Fernsehen ... vielleicht sollte auch in diesem Forum ein entsprechendes "Erwachsenenzimmer" eingerichtet werden, mit Ausweiskontrolle. Was nicht heißen soll, dass fundamentalistischere Forumsregeln eingeführt werden sollten ... ;-)
Ein Klang zum Sprachspiel.

Nicole

Beitragvon Nicole » 14.03.2011, 12:12

Hi Arne,

über den "intelligenten" Porno habe ich herzlich gelacht. Im Sinne von "anlachen" zu verstehen, bitte, nicht auslachen. Zu einem Porno gehört, so finde ich, ein bißchen mehr als das ficken, blasen und "drin sein" in diesem Text. Auch den Gedanken an ein "Erwachsenenzimmer" im Salon finde ich witzig. Vielleicht wäre es tatsächlich eine Bereicherung... Aber das ist Off topic und sei damit nur am Rande bemerkt.

Hi Sam,

nun, Du weißt, wie sehr mir eigentlich mit Fäkalwörtern und Ordinärem gespickte Texte zu wider sind. Aber, und da gebe ich Leonie recht, hier rundet es das Gesamtbild ab und paßt in den Kontext.

Die beiden Protags sind so schrecklich desillusioniert, so fernab jeder Romantik, die man ja bei deren Metier eigentlich erwarten wollte. Eine Standesbeamtin, die "den Bund der Ehe" selber ad absurdum führt, indem sie das Archiv als sexuellen Spielplatz verwendet, Ihrem Vorgänger/Kollegen eine runter holt, obgleich sie ja selber verheiratet ist und/oder der jeweilige Partner es ist. Eine Frau Ömisbauer, die dem Hipo einen bläst um sich vor dem Sonntagstermin zu drücken...
Das ist, ehrlich gesagt, gruselig. Aber vermutlich ziemlich nahe an der Realität.
Es ist sehr viel wahrscheinlicher, das ein Standesbeamte sich insgeheim über das eine oder andere Paar lustig macht, das er gerade traut, als das er vor Rührung ein paar Tränchen zerdrückt und vielleicht einen dankbaren Rosenkranz betet. Wahrscheinlicher, das sich der Standesbeamte Gedanken über seine Hämmoriden oder den morgigen Zahnarztbesuch oder vielleicht über die letzten Quicki mit der Vorzimmerdame macht, als sich ernsthaft gehauchte Liebesschwüre der Brautleute an zu hören.

Es ist wahrscheinlich realitätsnah, es ist gruselig und widerstrebt meinem Hang zur Romantik. Viel lieber würde ich vom Prinzen auf dem weißen Roß lesen, der die Prinzessin aus dem Turm befreit. Aber, in Wirklichkeit wird der Prinz wird vermutlich zunächst auf halber Strecke zur Prinzessin im Stundenhotel einkehren, um sich ein bißchen zu entspannen und während der Besteigung des Turm noch eben schnell via facebook sein Profil "Adelige 18 cm suchen freudige Sie zum gemeinsamen Rumtummeln" anlegen.

Gruselig....

Nicole

Mucki
Beiträge: 26644
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Beitragvon Mucki » 14.03.2011, 14:48

Hallo Arne,
Arne hat geschrieben:man könnte die Geschichte auch als "intelligenten" Porno lesen

was bitte ist ein "intelligenter Porno"? :blink2:

Saludos
Gabriella

Gerda

Beitragvon Gerda » 14.03.2011, 15:01

Hallo Sam,

in einem Rutsch gelesen: Klasse!
An "Porno" habe ich nicht einen Moment lang gedacht.
Ich finde, dass dir ein Stück kritische Betrachtung der noch immer "Heilgen" Familie gelungen ist.
M. A. n. ein sozialkritisches Zeitdokument. Drastisch, derb, der Sachlage nicht nur in der Geschichte völlig angemessen.

Kleinigkeiten die mir auffielen:
Sam hat geschrieben:Frau Denner natürlich Sibylle und sich mich Franz.

müsste "sie" heißen
Sam hat geschrieben:Hose und Rock wieder hochzuziehen.

Das ist sicher nicht gemeint ;-)
Also: ... die Hose hoch und den Rock runter.
Sam hat geschrieben:Niemand heiratete mehr

Niemand heißt = "Niemand", ist auf auf Grund dessen, dass dann die Aufzählung, "wer alles doch", folgt nicht so gut.

Liebe Grüße
Gerda

Sam

Beitragvon Sam » 14.03.2011, 17:43

Hallo Zusammen,

zunächst herzlichen Dank euch allen für eure Meinungen zu dem Text.


@Gabriella

in diesem Text hast du 17 Mal das Wort "Scheiß(e)" verwendet


Danke fürs Zählen ;-)

Im Ernst: Es ist kein Stilmittel, es ist ein Ausdrucksmittel. Leonie hat es ja schon sehr schön beschrieben, wie man die Häufung erklären kann. Natürlich ist es abschreckend, und wenn ich als Leser nicht erkennen würde, welchen Sinn diese Anhäufung hat, würde es mich ebenfalls abstoßen. Mir ging es um Profanisierung von Symbolen, die einen bestimmten Wert haben. In diesem Fall einen romantischen Wert. Man kann das natürlich sehr subtil machen, aber die Romantisierung geschieht ja auch nicht subtil, sondern ebenfalls auf eine "derbe" Art und Weise. Also wollte ich die Profanisierung genauso derb bis auf die Spitze treiben.

Im Übrigen wird nicht unbedingt alles von Scheiße überflutet, sondern eigentlich nur das Thema der Geschichte.

Aber ich kann deine Abwehrhaltung sehr gut nachvollziehen.


@leonie

Natürlich hat es mich deine Sichtweise auf den Text sehr gefreut. Und in Vielem deckt sich deine Lesart mit dem, was ich im Sinn hatte. Desillusionierung z.B. und dass jedes Stammbuch Scheiße ist. Deswegen auch der Titel. Interessant finde ich den Aspekt des Misslingens - bei der Standesbeamtin sehe ich es auch - und deiner Einschätzung, es handele sich um eine Lügengeschichte. Da denke ich gerne noch ein bisschen drüber nach.


@Lisa

Stilistisch ist es natürlich ein bisschen die Frage, ob man es so stark spüren sollte, dass hier eine Geschichte erzählt wird und nicht nur, dass sie stattfindet.


Ich habe, ehrlich gesagt, keine Probleme damit, wenn man einer Geschichte anmerkt, dass sie erzählt wird. In vielen Fällen gefällt mir das sogar. Aber es muss natürlich zur Art der Geschichte, bzw. des Inhalts passen. Bei diesem Text gehe ich davon aus, dass der Leser merkt, hier handelt es sich um ein Konstrukt und seine Lesefreude darin findet, die Hintergründe auszuleuchten. Denn auch wenn das ganze Setting durchaus den Tatsachen entspricht, so sind Franz und Sybille Figuren, die in diese Szenerie drapiert wurden.


@pjotr

Die Kulisse finde ich überhaupt sehr originell. Der Konstrast ist wirklich inspirierend, daraus könnten ganz verschiedene pointenreiche Gesamtbilder resultieren.


Dem muss ich zustimmen. Den Stammverkäufer nur auf eine Geschichte zu beschränken, empfinde ich fast als Verschwendung. Zumal die Bedeutungszuweisungen für Stammbücher, wie du es ja schilderst, sehr vielfältig sein können.

Danke auch für die Korrekturhinweise!


@arne

Wenn ein Porno intelligent ist, dann ist es kein Porno mehr.
Mit Ende des literarischen Quartetts meinst du wohl die Diskussion um Murakami und seine "Gefährliche Geliebte" zwischen M.R.R und Sigrid Löffler. Ist eine sehr unentspannte Diskussion gewesen.
Haben wir eigentlich Minderjährige hier im Salon?


@Nicole

Es ist sehr viel wahrscheinlicher, das ein Standesbeamte sich insgeheim über das eine oder andere Paar lustig macht, das er gerade traut, als das er vor Rührung ein paar Tränchen zerdrückt und vielleicht einen dankbaren Rosenkranz betet

Ja, das denke ich auch. Und es ist unter anderem dieser Gedanke, ins Extreme gesteigert, der hinter dem Text steht. Für das Paar ist es der schäönste Tag ihres Lebens (sollte es sein), für den Standesbeamten ein Termin von vielen. Und das Stammbuch ist für den Standesbeamten kein Symbol, sondern eine Möglichkeit nochmal ein paar Euro in die klamme Gemeindekasse zu bekommen.

Viel lieber würde ich vom Prinzen auf dem weißen Roß lesen, der die Prinzessin aus dem Turm befreit. Aber, in Wirklichkeit wird der Prinz wird vermutlich zunächst auf halber Strecke zur Prinzessin im Stundenhotel einkehren, um sich ein bißchen zu entspannen und während der Besteigung des Turm noch eben schnell via facebook sein Profil "Adelige 18 cm suchen freudige Sie zum gemeinsamen Rumtummeln" anlegen.

Würde ich die geschichte schreiben, dann täte der Prinz wahrscheinlich genau dies. ;-)


@gerda

Danke für das Klasse! Das freut mich sehr!

Sozialkritisch ist ein zeimlich "schweres" Wort. Aber ja, es steckt hinter der derben Fassade, da bin ich mir sicher, eine ganze Menge Wahrheit.

Danke auch für deine Hinweise. Das sie/sich hatte Pjotr ja schon angemerkt. Wie ich die Hose hoch, den Rock aber runter bekomme, muss ich mal sehen. Und aus dem Niemand, mache ich wahrscheinlich ein kaum jemand, oder so.


Euch allen nochmals herzlichen Dank!


Gruß

Sam

Yorick

Beitragvon Yorick » 10.04.2011, 13:43

Hallo Sam,

mir hat der Text gut gefallen. Die (kindlich anmutende) Lust, den "heiligen Stand der Ehe" mit Scheiße zu beschmieren und sich vögelnd im Archiv beerdigter Träume von Glück und Liebe (und sexueller Erfüllung) zu wälzen, finde ich gelungen umgesetzt. Oh, ich sehe die weißen Brautkleider, die steifen Anzüge, das bigotte Getue, die Zwänge und "kanalisierte Lust" (als ob das ginge!). Und mit tiefster Genugtuung (mit soviel kindlichen Trotz) wird das mit Scheiße beschmiert, das höchste Ziel von Generationen Eltern, Großeltern, Tanten,.... Und noch drauf rumgefickt, um Leben ins Leben zu bringen.

Und gleichzeitig stecken die beiden genau da drin, sind eingesperrt in diese sonderbaren Zustände. Das ganze also nur ein anales Sandkistenspiel - bis man wieder nach Hause muss, Hände waschen und ins Bett.

Gut gefallen haben mir auch die "Dialog"-Mercedes-Passage.

Viele Grüße,
Yorick.

Sam

Beitragvon Sam » 10.04.2011, 17:16

Hallo Yorick,

schön von dir zu lesen!

Es freut mich, dass dir der Text gefällt. Besonders aber freut es mich, dass dir das Archiv aufgefallen ist. Tatsächlich ist in diesen Archiven Glück und Unglück in Zahlen und Daten begraben. Einen besseren Ort hätte ich für die beiden gar nicht finden können. Zumal, wie du ja festgestellt hast, das Bett schon mit der Konvention besetzt ist, auf die sie einerseits scheißen, von und in der sie aber andereseits selber leben.

Herzlichen Dank!

Gruß

Sam

Ada
Beiträge: 85
Registriert: 31.03.2011

Beitragvon Ada » 14.04.2011, 21:18

Hallo Sam,

eine schöne, bittere Geschichte. Zwei, die auf den Idealen, die sie einfordern und die sie ernähren, herumtrampeln. Und doch, sie hinterlassen bei allen "Scheiß-Stammbüchern" und fehlenden Eheschließungen beim Lesen ein Lachen. Du verwendest eine sehr direkte Sprache, die hier aber hundertprozentig passt. Schließlich sind die Beiden weit jenseits aller Romantik und Scham mit ihrem Verhalten.

je nach dem, ob noch Kollegen da sind.
nachdem

Gruß
Sabine


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