Die Skulptur
Verfasst: 14.04.2011, 21:42
Die Skulptur
Der Sturm zerstörte ihre Halbinsel praktisch vollständig. Auf das Blockhaus waren zwei der Birken gestürzt, von den Kiefern ragten nur noch zersplitterte Stümpfe auf. Statt des Strandes war ein Kauderwelsch aus angespülten schlammigen Ästen, zerfetztem Gebüsch, umgestürzten Bäumen. Entlang der nordwestlichen Parzelle hatte es ganze Waldstriche umgelegt, all ihre kunstvollen Barrikaden dort oben, auf die sie so stolz gewesen waren, sie fügten sich nahtlos ein, Anne nahm das als eine Art Lob. Hoch oben lauerten noch einzelne Wolken, die Sonne erleuchtete dazwischen ihr Gelände, jeder Splitter zog seinen scharfen Schatten.
Sven sprach nicht, ließ sich nichts anmerken. Seine Kettensägen hatten im Lagerraum des Blockhauses überlebt, er lief mit der Großen etwas herum, schnitt die Kieferstümpfe frei, schnitt die Stämme auf dem Blockhaus ab, ließ es dann.
Sie waren zu viert gekommen, der letzte Tag vor Annes Abreise nach Jena, ursprünglich hatten sie feiern wollen. Lievke und ihr Freund waren trotzdem aufgekratzt, voll Vorfreude, sie gingen nach Göttingen, für sie war das Kapitel Waldsee sowieso abgeschlossen. Anne war zwiespältig, halb entsetzt, halb fasziniert – sie hätte Sven gerne getröstet.
Die Blockhütte mit der kleinen Halbinsel lag in der Kernparzelle, unmittelbar am See. Sie hatten die Bäume zuerst nur gefällt, um eine sonnigen Bereich am Ufer zu erhalten. Einige Monate Arbeit, an den Wochenenden, zu zweit. Sven an der Säge, besser gesagt, den Sägen, bald hatte er ein halbes Dutzend, ausgemusterte natürlich. Anne arbeitete an der Winde des Lada oder half beim Entasten. Es war ein schöner, kleiner Sandstrand geworden, für viele Abende, viele Gespräche.
In diesem Jahr war der Wasserspiegel des Sees kontinuierlich gestiegen, sie hatten keine Ahnung, warum. Es gab keine Anzeichen, dass der See jemals so hoch gestanden hätte, einen Abfluss hatte er nicht. Jedenfalls stand das Blockhaus schon im Hochsommer ungut nah am Wasser, Risse bildeten sich, weil eine Ecke sich absenkte. Eine Birkengruppe, die dem Haus Schatten gab, stand im Wasser. Es ließ sich nichts dagegen tun. Es war sowieso der letzte Sommer, sogar Anne hatte sich nach einem verbummelten Jahr zu einem Bewerbungsgespräch einladen lassen und war natürlich genommen worden. Sven wollte nicht mit, für ihn war Jena Wildnis, fremd wie Los Angeles oder Kairo.
Stattdessen installierte er in dem Jahr Trinkwasserbehälter an der Hütte, er brachte Vorräte, besserte die Risse jedesmal aus. Mitten im Sommer schleppte er einen Generator an. Zu Annes Geburtstag schenkte er ihr Regale und ein Schränkchen für das Blockhaus. Er fragte Anne, wo sie die Regale hinhaben wollte, sie wusste nichts zu sagen.
Die Blockhütte war Lievkes Idee gewesen. Ohne die Hütte wäre das Ganze wohl ein Kinderspiel geblieben, mit ihr wurde das Gelände ihr dauernder Aufenthalt die letzten Sommer, ihre Heimat. Lievke war Zufallsbekanntschaft, Apothekerinnen-Tochter, ein größeres Mädchen mit größeren Sorgen, ihre Mutter hatte damals Krebs. Anne hatte ihr den Waldsee zeigen wollen, ihren Trost-See, in den sich alle Sorgen versenken ließen. Lievke hatte sofort Ideen. Die, den sandige Hügel auszulichten, an dem sich später die Kreuzottern ansiedelten, sie stammte aus diesem ersten Nachmittag. Es war gleich klar, dass sie dazugehörte.
Die Kernparzelle war einerseits bald zu klein, andererseits hatten sie bemerkt, wie viel sich durch das Roden geändert hatte. So hatten sie einen weiteren Bereich gefällt, der Trupp, bei dem Sven die Lehre machte, hatte das erledigt, das einzige Mal, dass Erwachsene und schweres Gerät am See gewesen waren. Die Zufahrt war seitdem sorgfältig verbarrikadiert. Die Pflanzen und Tiere verzigfachten sich nach der Rodung, es schien, als ob die Natur schon seit Jahren auf der Lauer gelegen hätte, bis sich eine Lücke im Wald auftat. Überraschungen, Neues gab es jedes Wochenende.
Der Entschluss, zu jagen, war ihnen schwer gefallen. Elstern waren der Auslöser gewesen, lange vor den Kaninchen. Nach erfolglosen Versuchen mit Pfeil und Bogen traf Lievke mit einer professionellen Armbrust das erste Mal. Eine Elster stürzte getroffen in den See, trieb länger tot an der Oberfläche, keiner hatte hinschwimmen und das Tier herausholen wollen. Anne tat es am Ende. Seitdem war der See für alle ein anderer, es schwamm sich anders darin, auch wenn die Sache selbst ihren Platz gefunden hatte.
Sie hatten keine Theorien über ihr Reich. Sie waren da, beobachteten, gestalteten. Mal im Kleinen, Pflanzen entfernen, Tiere fördern, ansiedeln, vertreiben, mal im Großen: ein neues Stückchen Wald lichten, einen Graben anlegen. Es wurde schöner Jahr für Jahr, und die Versuchung wuchs, alles so zu lassen wie es einmal war, aber gerade Anne hatte die großen Aktionen immer vor Augen. Sie beharrte darauf, gelegentlich wie ein Sturmwind die Struktur zu verändern, und verändern heißt ja immer zuerst zerstören. Sie musste die anderen mehr und mehr überreden, aber hinterher war es für alle ein gutes Gefühl.
Lievkes Freund schlug vor, aus den Stümpfen der Kiefern Skulpturen zu machen, als Erinnerung. Er zeichnete seinen Vater, einen Polizisten, als kantige Figur mit einer Art Helm statt Kopf, Anne wählte eine verdrehte, zerfaserte Struktur aus Ästen und verbogenem Stamm für ihren Vater. Sie zeichneten mit Holzkohle, Sven ließ sich überreden und schnitt es mit seiner Kettensäge nach – mit wütendem Schwung, oft besser als vorgezeichnet. Lievkes Mutter wand sich aus einem liegenden Stammstück nach oben wie eine Schlange, reckte lüstern die Finger nach oben. Sie beschrieben die Bilder, es gab ein gutes Gefühl zu wissen, dass die Figuren hier bleiben und zerfallen würden. Sven schwieg und arbeitete nach den Vorgaben der anderen. Irgendwann gab es kein Entkommen mehr, Lievke begann zu bohren, machte Vorschläge für den verbleibenden Stamm, eine Frau sollte es sein, Svens Mutter. Sie skizzierte üppige Brüste, wahrscheinlich wollte sie, dass er sich mit seiner Mutter auseinandersetzt, sie hatte manchmal den Hang zum Psychologisieren. Er schnitt die Brüste mit einer einzigen schwungvollen Kurve weg, ärgerlich. Es entstand ein Kopf, darunter der Anfang einer schlanken, eleganten Figur. Anne war beeindruckt, sie kannte das Bild, das er neben seinem Bett stehen hatte, es passte, hier hatte sie den Kopf nach hinten geneigt. Lievke bohrte weiter, sie entwickelte Ehrgeiz, Sven zum Reden zu bringen. Sie war witzig, ihr Freund schmolz dahin, doch Sven packte die Säge schließlich weg und starrte nur noch ins Wasser.
Anne und er blieben zurück, sie lief mit ihm über das Gelände, die Faszination für all das Neue gewann die Oberhand, sie zeigte ihm, was sie sah, genau, neugierig, die neuen Lichtungen, die offenen Wurzelstöcke. Sie redete, intensiv, positiv. Im Untergrund schwang das Andere mit, es war Zerstörung und Neuanfang, ein Symbol, Abschied eben. Er ließ sich nicht darauf ein, kein Nicken diesmal. Er blieb noch, als sie ging.
In der Nacht konnte Anne nicht lange schlafen. Es war wenig nach Zwei, als sie aufwachte. Ein paarmal Umdrehen später war ihr klar, dass sie nicht wieder einschlafen würde. Sie zog das neue beige Kostüm an und schminkte sich, das gehörte bei der neuen Stelle dazu. Im Lada fuhr sie erst die Landstraße entlang Richtung Bahnhof, sieben Stunden zu früh, drehte nach vier Kilometern wieder und fuhr den alten Holzweg.
Sie schob sich zu Fuß durch die Barrikaden, es war beschämend einfach, nachts den Weg zu finden, all ihre Geheimnistuerei war zumindest im Mondlicht nichts wert. Hinter den Barrikaden begannen ihre Füße zu rennen, als ob es nun plötzlich eilig wäre, sie staunte, lief aber. Eine Art Bellen kam jetzt vom See. Fuchs, sagte ihr Kopf sofort, doch die Beine wussten es besser. Ein schwarzer Schatten lag neben den Skulpturen. Aus Svens Mund lief Schleim, Fäden, er war nicht bei Bewusstsein. Sie kannte den Geruch, Tollkirschen gab es in Massen hier, er zuckte nur hin und wieder. Sie setzte sich, sein Kopf in ihrem Schoß, mit der Linken spannte sie den Mund auf, quetschte seine Zähne auseinander, fasste hinein mit der Rechten; der Schwall kam unmittelbar, sie ließ nicht nach, noch einer, dann schob er sich weg, ächzte, das Zucken hörte nicht auf, es reichte noch nicht.
Irgendwie musste sie ihn zum Spucken bringen, Isländisch Moos fiel ihr ein, Hauptsache bitter, der Gaskocher war noch in der Hütte. Tags schienen alle Bäume bemoost, nachts dauerte es jämmerlich lang, bis sie einen fand, von dem sich Moos kratzen lies, dazwischen kam es ihr selbst hoch, erwischte einen ihrer Pumps. Das Wasser kochte schnell und wurde tatsächlich bitter, völlig ungenießbar. Sven schien nichts zu schmecken, er trank gierig, legte sich zur Seite, wand sich. „Besser kann ich es nicht, ich hab getan, was ich konnte“ – es zitterte in ihr, bis er sich doch plötzlich krümmte, erbrach, wieder und wieder, kaum noch Luft bekam. Danach wurde er ruhiger, das Zucken ebbte ab.
Anne ging in den See, wusch das Kostüm aus, dann wusch sie sich selbst, es war überall, sogar die Schamhaare waren von Svens schwarzem Erbrochenen verklebt. Schließlich schwamm sie hinaus. In der Mitte des Sees begann das Vorspiel des Hellwerdens, Konturen tauchten auf, das frische Holz der Skulpturen leuchtete. Sie schwamm näher, er hatte die Letzte abends noch bearbeitet, ihre Gestalt leicht zurückgeneigt, ein Gesicht war da, ein schreiender Mund, nicht die Frau vom Foto, sondern eine verzweifelnde, eine sterbende Frau.
Sven glühte, als sie zurückkam, sie wischte sein Gesicht sauber, das Hemd, die Hose waren schweißnass. Er war wach, seine Augen waren auf ihre Scham gerichtet, als sie vor ihm kniete und versuchte, ihn auf trockeneres Land zu schieben, und wie zu ihrer Scham sagte er „Ich liebe dich. Anne. Ich liebe dich so.“
Sie schob ihn auf eine Decke, er half etwas mit. Ihr war eisigkalt vom See, seine Hitze tat gut. „Wir nehmen die mit. Wir behalten die, ja?“ Es tat ihr weh, am Anfang, noch mehr danach, das war nun mal so. Es hörte nicht auf zu brennen, sie schwitzte, nahm ihm seine Hitze ab. Erst gegen Ende spürte sie im Hintergrund ein leichtes Auf und Ab, ein Schaukeln, auslaufende Wellen am Seeufer, Vogelschwingen, die beim Aufsteigen aus dem See über ihre Brüste strichen.
Es war immer noch früher Morgen, Zeit genug, als sie zurückfuhr, sie hatte sich in eine Decke gewickelt. Sven schlief jetzt, er war zäh, sie hatte keine Sorge.
Der Sturm zerstörte ihre Halbinsel praktisch vollständig. Auf das Blockhaus waren zwei der Birken gestürzt, von den Kiefern ragten nur noch zersplitterte Stümpfe auf. Statt des Strandes war ein Kauderwelsch aus angespülten schlammigen Ästen, zerfetztem Gebüsch, umgestürzten Bäumen. Entlang der nordwestlichen Parzelle hatte es ganze Waldstriche umgelegt, all ihre kunstvollen Barrikaden dort oben, auf die sie so stolz gewesen waren, sie fügten sich nahtlos ein, Anne nahm das als eine Art Lob. Hoch oben lauerten noch einzelne Wolken, die Sonne erleuchtete dazwischen ihr Gelände, jeder Splitter zog seinen scharfen Schatten.
Sven sprach nicht, ließ sich nichts anmerken. Seine Kettensägen hatten im Lagerraum des Blockhauses überlebt, er lief mit der Großen etwas herum, schnitt die Kieferstümpfe frei, schnitt die Stämme auf dem Blockhaus ab, ließ es dann.
Sie waren zu viert gekommen, der letzte Tag vor Annes Abreise nach Jena, ursprünglich hatten sie feiern wollen. Lievke und ihr Freund waren trotzdem aufgekratzt, voll Vorfreude, sie gingen nach Göttingen, für sie war das Kapitel Waldsee sowieso abgeschlossen. Anne war zwiespältig, halb entsetzt, halb fasziniert – sie hätte Sven gerne getröstet.
Die Blockhütte mit der kleinen Halbinsel lag in der Kernparzelle, unmittelbar am See. Sie hatten die Bäume zuerst nur gefällt, um eine sonnigen Bereich am Ufer zu erhalten. Einige Monate Arbeit, an den Wochenenden, zu zweit. Sven an der Säge, besser gesagt, den Sägen, bald hatte er ein halbes Dutzend, ausgemusterte natürlich. Anne arbeitete an der Winde des Lada oder half beim Entasten. Es war ein schöner, kleiner Sandstrand geworden, für viele Abende, viele Gespräche.
In diesem Jahr war der Wasserspiegel des Sees kontinuierlich gestiegen, sie hatten keine Ahnung, warum. Es gab keine Anzeichen, dass der See jemals so hoch gestanden hätte, einen Abfluss hatte er nicht. Jedenfalls stand das Blockhaus schon im Hochsommer ungut nah am Wasser, Risse bildeten sich, weil eine Ecke sich absenkte. Eine Birkengruppe, die dem Haus Schatten gab, stand im Wasser. Es ließ sich nichts dagegen tun. Es war sowieso der letzte Sommer, sogar Anne hatte sich nach einem verbummelten Jahr zu einem Bewerbungsgespräch einladen lassen und war natürlich genommen worden. Sven wollte nicht mit, für ihn war Jena Wildnis, fremd wie Los Angeles oder Kairo.
Stattdessen installierte er in dem Jahr Trinkwasserbehälter an der Hütte, er brachte Vorräte, besserte die Risse jedesmal aus. Mitten im Sommer schleppte er einen Generator an. Zu Annes Geburtstag schenkte er ihr Regale und ein Schränkchen für das Blockhaus. Er fragte Anne, wo sie die Regale hinhaben wollte, sie wusste nichts zu sagen.
Die Blockhütte war Lievkes Idee gewesen. Ohne die Hütte wäre das Ganze wohl ein Kinderspiel geblieben, mit ihr wurde das Gelände ihr dauernder Aufenthalt die letzten Sommer, ihre Heimat. Lievke war Zufallsbekanntschaft, Apothekerinnen-Tochter, ein größeres Mädchen mit größeren Sorgen, ihre Mutter hatte damals Krebs. Anne hatte ihr den Waldsee zeigen wollen, ihren Trost-See, in den sich alle Sorgen versenken ließen. Lievke hatte sofort Ideen. Die, den sandige Hügel auszulichten, an dem sich später die Kreuzottern ansiedelten, sie stammte aus diesem ersten Nachmittag. Es war gleich klar, dass sie dazugehörte.
Die Kernparzelle war einerseits bald zu klein, andererseits hatten sie bemerkt, wie viel sich durch das Roden geändert hatte. So hatten sie einen weiteren Bereich gefällt, der Trupp, bei dem Sven die Lehre machte, hatte das erledigt, das einzige Mal, dass Erwachsene und schweres Gerät am See gewesen waren. Die Zufahrt war seitdem sorgfältig verbarrikadiert. Die Pflanzen und Tiere verzigfachten sich nach der Rodung, es schien, als ob die Natur schon seit Jahren auf der Lauer gelegen hätte, bis sich eine Lücke im Wald auftat. Überraschungen, Neues gab es jedes Wochenende.
Der Entschluss, zu jagen, war ihnen schwer gefallen. Elstern waren der Auslöser gewesen, lange vor den Kaninchen. Nach erfolglosen Versuchen mit Pfeil und Bogen traf Lievke mit einer professionellen Armbrust das erste Mal. Eine Elster stürzte getroffen in den See, trieb länger tot an der Oberfläche, keiner hatte hinschwimmen und das Tier herausholen wollen. Anne tat es am Ende. Seitdem war der See für alle ein anderer, es schwamm sich anders darin, auch wenn die Sache selbst ihren Platz gefunden hatte.
Sie hatten keine Theorien über ihr Reich. Sie waren da, beobachteten, gestalteten. Mal im Kleinen, Pflanzen entfernen, Tiere fördern, ansiedeln, vertreiben, mal im Großen: ein neues Stückchen Wald lichten, einen Graben anlegen. Es wurde schöner Jahr für Jahr, und die Versuchung wuchs, alles so zu lassen wie es einmal war, aber gerade Anne hatte die großen Aktionen immer vor Augen. Sie beharrte darauf, gelegentlich wie ein Sturmwind die Struktur zu verändern, und verändern heißt ja immer zuerst zerstören. Sie musste die anderen mehr und mehr überreden, aber hinterher war es für alle ein gutes Gefühl.
Lievkes Freund schlug vor, aus den Stümpfen der Kiefern Skulpturen zu machen, als Erinnerung. Er zeichnete seinen Vater, einen Polizisten, als kantige Figur mit einer Art Helm statt Kopf, Anne wählte eine verdrehte, zerfaserte Struktur aus Ästen und verbogenem Stamm für ihren Vater. Sie zeichneten mit Holzkohle, Sven ließ sich überreden und schnitt es mit seiner Kettensäge nach – mit wütendem Schwung, oft besser als vorgezeichnet. Lievkes Mutter wand sich aus einem liegenden Stammstück nach oben wie eine Schlange, reckte lüstern die Finger nach oben. Sie beschrieben die Bilder, es gab ein gutes Gefühl zu wissen, dass die Figuren hier bleiben und zerfallen würden. Sven schwieg und arbeitete nach den Vorgaben der anderen. Irgendwann gab es kein Entkommen mehr, Lievke begann zu bohren, machte Vorschläge für den verbleibenden Stamm, eine Frau sollte es sein, Svens Mutter. Sie skizzierte üppige Brüste, wahrscheinlich wollte sie, dass er sich mit seiner Mutter auseinandersetzt, sie hatte manchmal den Hang zum Psychologisieren. Er schnitt die Brüste mit einer einzigen schwungvollen Kurve weg, ärgerlich. Es entstand ein Kopf, darunter der Anfang einer schlanken, eleganten Figur. Anne war beeindruckt, sie kannte das Bild, das er neben seinem Bett stehen hatte, es passte, hier hatte sie den Kopf nach hinten geneigt. Lievke bohrte weiter, sie entwickelte Ehrgeiz, Sven zum Reden zu bringen. Sie war witzig, ihr Freund schmolz dahin, doch Sven packte die Säge schließlich weg und starrte nur noch ins Wasser.
Anne und er blieben zurück, sie lief mit ihm über das Gelände, die Faszination für all das Neue gewann die Oberhand, sie zeigte ihm, was sie sah, genau, neugierig, die neuen Lichtungen, die offenen Wurzelstöcke. Sie redete, intensiv, positiv. Im Untergrund schwang das Andere mit, es war Zerstörung und Neuanfang, ein Symbol, Abschied eben. Er ließ sich nicht darauf ein, kein Nicken diesmal. Er blieb noch, als sie ging.
In der Nacht konnte Anne nicht lange schlafen. Es war wenig nach Zwei, als sie aufwachte. Ein paarmal Umdrehen später war ihr klar, dass sie nicht wieder einschlafen würde. Sie zog das neue beige Kostüm an und schminkte sich, das gehörte bei der neuen Stelle dazu. Im Lada fuhr sie erst die Landstraße entlang Richtung Bahnhof, sieben Stunden zu früh, drehte nach vier Kilometern wieder und fuhr den alten Holzweg.
Sie schob sich zu Fuß durch die Barrikaden, es war beschämend einfach, nachts den Weg zu finden, all ihre Geheimnistuerei war zumindest im Mondlicht nichts wert. Hinter den Barrikaden begannen ihre Füße zu rennen, als ob es nun plötzlich eilig wäre, sie staunte, lief aber. Eine Art Bellen kam jetzt vom See. Fuchs, sagte ihr Kopf sofort, doch die Beine wussten es besser. Ein schwarzer Schatten lag neben den Skulpturen. Aus Svens Mund lief Schleim, Fäden, er war nicht bei Bewusstsein. Sie kannte den Geruch, Tollkirschen gab es in Massen hier, er zuckte nur hin und wieder. Sie setzte sich, sein Kopf in ihrem Schoß, mit der Linken spannte sie den Mund auf, quetschte seine Zähne auseinander, fasste hinein mit der Rechten; der Schwall kam unmittelbar, sie ließ nicht nach, noch einer, dann schob er sich weg, ächzte, das Zucken hörte nicht auf, es reichte noch nicht.
Irgendwie musste sie ihn zum Spucken bringen, Isländisch Moos fiel ihr ein, Hauptsache bitter, der Gaskocher war noch in der Hütte. Tags schienen alle Bäume bemoost, nachts dauerte es jämmerlich lang, bis sie einen fand, von dem sich Moos kratzen lies, dazwischen kam es ihr selbst hoch, erwischte einen ihrer Pumps. Das Wasser kochte schnell und wurde tatsächlich bitter, völlig ungenießbar. Sven schien nichts zu schmecken, er trank gierig, legte sich zur Seite, wand sich. „Besser kann ich es nicht, ich hab getan, was ich konnte“ – es zitterte in ihr, bis er sich doch plötzlich krümmte, erbrach, wieder und wieder, kaum noch Luft bekam. Danach wurde er ruhiger, das Zucken ebbte ab.
Anne ging in den See, wusch das Kostüm aus, dann wusch sie sich selbst, es war überall, sogar die Schamhaare waren von Svens schwarzem Erbrochenen verklebt. Schließlich schwamm sie hinaus. In der Mitte des Sees begann das Vorspiel des Hellwerdens, Konturen tauchten auf, das frische Holz der Skulpturen leuchtete. Sie schwamm näher, er hatte die Letzte abends noch bearbeitet, ihre Gestalt leicht zurückgeneigt, ein Gesicht war da, ein schreiender Mund, nicht die Frau vom Foto, sondern eine verzweifelnde, eine sterbende Frau.
Sven glühte, als sie zurückkam, sie wischte sein Gesicht sauber, das Hemd, die Hose waren schweißnass. Er war wach, seine Augen waren auf ihre Scham gerichtet, als sie vor ihm kniete und versuchte, ihn auf trockeneres Land zu schieben, und wie zu ihrer Scham sagte er „Ich liebe dich. Anne. Ich liebe dich so.“
Sie schob ihn auf eine Decke, er half etwas mit. Ihr war eisigkalt vom See, seine Hitze tat gut. „Wir nehmen die mit. Wir behalten die, ja?“ Es tat ihr weh, am Anfang, noch mehr danach, das war nun mal so. Es hörte nicht auf zu brennen, sie schwitzte, nahm ihm seine Hitze ab. Erst gegen Ende spürte sie im Hintergrund ein leichtes Auf und Ab, ein Schaukeln, auslaufende Wellen am Seeufer, Vogelschwingen, die beim Aufsteigen aus dem See über ihre Brüste strichen.
Es war immer noch früher Morgen, Zeit genug, als sie zurückfuhr, sie hatte sich in eine Decke gewickelt. Sven schlief jetzt, er war zäh, sie hatte keine Sorge.