Aufwachen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 06.05.2011, 08:50

Aufwachen

1.

Gleich wird sie aufwachen. Sie wird die Augen aufschlagen, einige Male noch blinzeln bis das Bild sich schärft, und mich dann ansehen. Und in diesem ersten Blick werden die Entscheidungen der nächsten Monate und Jahre liegen, die Kämpfe, die Vorwürfe, die Verzweiflung. Alles was kommt, wird in diesem ersten Blick sein, als Schleier, als feuchter Film über den Pupillen, als kleine Flammen auf der Iris.
Noch sind ihre Augen geschlossen, nur die Bewegungen ihres Körpers verraten, dass sie aus der Bewusstlosigkeit in den Schlaf hinüber geglitten ist. Die schlaffen Gesichtszüge spannen sich ein wenig an. Aber es ist nicht ihr Schlafgesicht. Ihr Schlafgesicht ist ein ruhiger See. Es ist auch nicht ihr Schlafmund, der beständig zu lächeln scheint, als träume sie nur Musicals und Märchen. Einmal sagte ich zu ihr, wenn du schläfst, dann siehst du aus, als träumtest du nur Musicals und Märchen, und sie antwortete mit einem Lächeln und dem spitzbübischen Aufleuchten ihrer grünen Augen.
Nicht ihr Schlafmund ist es, eher ihr Zweifelmund, als wäre der Weg zum Aufwachen ein Lauf durch Stimmen, denen sie keinen Glauben schenken mag. Wenn sie etwas hört, was sie nicht glauben kann oder möchte, dann hat sie diesen Zweifelmund, die Lippen leicht zusammengeschoben, ein Kussmund fast, wenn er nicht in der Mitte solch kleine Falten hätte.
Ich sehe ihr Gesicht, das nicht ihr Schlafgesicht ist, und somit kein ruhiger See. Etwas bewegt sich unter der Oberfläche, wirbelt den Boden auf. Ein Fisch mit seinen Flossenschlägen. Der Fisch des Schmerzes, der Fisch der Schuld. Wenn sie die Augen öffnet, wird er auftauchen.

Wir haben unser Kind getötet, haben zusammen diese Entscheidung getroffen und doch werden wir diese Last nicht gemeinsam tragen, nicht gleichmäßig zu verteilen wissen, wir werden versuchen umzuschichten, sie wird es versuchen mit ihren ersten Blicken; wenn sie aufwacht, wird sie den Schmerz ganz für sich beanspruchen, die Schuld aber wird sie mir übergeben und ich werde sie annehmen, so wie ich bisher alles angenommen habe.

Da waren die Jahre des Aufopferns, der Sisyphusarbeit in den Straßen von Guayaquil, wo es darum ging, jungen Menschen eine Perspektive zu geben, Alternativen zu Gewalt und Verbrechen, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, Achtung vor den Mitmenschen. Dazu die schwangeren Mädchen und immer die Frage, was zu tun sei. Sie kämpfte um jedes Kind und gleichzeitig für die Mutter. Manchmal glücklich, manchmal unglücklich endete der Kampf, aber das Gefühl nicht tatenlos zuzusehen - darum ging es ihr. Um ihren Traum, ein Stück Gerechtigkeit in die Welt zu bringen, und ich träumte ihn mit, nicht, weil es auch meiner gewesen wäre, sondern weil ich keinen eigenen hatte.

Nach fünf Jahren - Zeit, die mir heute vorkommt wie das endlose Anschwellen eines Muskels bis hin zu Krampf und Erschlaffung - sagt sie, ich möchte ein eigenes Kind. Ich war überrascht, weil es so plötzlich kam, es auf einmal gar kein anderes Thema mehr gab, eigene Kinder zuvor nie ein Thema gewesen waren, am Anfang unserer Ehe sogar ein Streitpunkt. Wie kann man nur, hatte sie immer wieder gesagt, in diese Welt Kinder setzen, wenn schon so viele da sind, um die sich keiner kümmert? Und nun, inmitten dieser Kinder, um die sich keiner kümmerte, inmitten der Beweise für die Richtigkeit ihrer Vorbehalte gegen eigene Kinder, diese, wie sie sagte, unwiderrufliche Entscheidung genau dafür.
Zunächst erschien es mir wie eine Kapitulation. Verständlich, wenn man bedenkt, dass wir eine völlig aussichtlose Mission verfolgten. Auf jedes Kind, dem wir helfen konnten, kamen Hunderte, für die wir nichts tun konnten. Und immer wieder versagte man bei dem Versuch, Abstand zu halten. Gerade da, wo es am nötigsten gewesen wäre, bei den hoffnungslosen Fällen, den Klebstoffschnüfflern, den unverbesserlichen Dieben und Schlägern, bei den vierzehnjährigen Strichmädchen und dreizehnjährigen Müttern. Alle diese Fälle bedeuteten Niederlage und Verlust. Und einen ständig wachsenden Zweifel am Wert der eigenen Arbeit, eine Erosion der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen. Und wenn der Altruismus sich erschöpft, wird ein Mensch ganz auf sich zurückgeworfen.
Wir verließen Südamerika, zogen zurück nach Deutschland, arrangierten uns, warteten jeden Monat darauf, dass die Weltgerechtigkeit ihre Schulden bei uns begliche. Zwischendrin hielt ich inne und überlegte, was da mit uns passiert war, was da mit ihr passiert war, wie radikal und ausschließlich ihr Umschwung war, wie radikal sie einen Traum gegen einen anderen eingetauscht hatte und welche Schwierigkeiten es mir bereitete, ihr dabei zu folgen, wie unmöglich es mir war, darüber zu reden. Sie hat es verdient, dachte ich mir dann. Diesen neuen Traum hat sie sich verdient und auch seine Erfüllung, so hart, wie sie für den alten Traum gekämpft hatte und dabei schuldlos unterlegen war.

Zwei Jahre geplanter Sex, berechneter Sex, aber sie wurde nicht schwanger. Untersuchungen folgten, bei ihr ergebnislos, mir jedoch beschied ein Spermiogramm, dass ich zu 95 Prozent zeugungsunfähig war.
Wenn das bei Ihnen von selbst klappen sollte, sagte der Arzt angesichts des Befundes, dann wäre das ein Sechser im Lotto. Eher werden sie noch vom Blitz erschlagen.

Die nächsten Monate gehörten nun den verbleibenden fünf Prozent meiner Manneskraft, aus unzähligen Ejakulaten extrahiert, um In-vitro Eizellen zu befruchten, die ihr entnommen und dann wieder eingepflanzt wurden. Und jedes Mal die Enttäuschung, wenn es nicht funktionierte, wenn dieses Zellknäuel nicht andocken wollte an der Plazenta. Eine Abwärtsspirale, die mit jedem Versuch ihr Gefälle verstärkte. Man nahm stetig an Fahrt zu, obgleich alles unwirklicher wurde, mehr Sex mit einem Plastikbecher, als mit der eigenen Frau, der Wichsraum beim Reproduktionsarzt, rot tapeziert, ein Sessel mit Plastiküberzug, eine Dusche, Aktfotos an den Wänden, Männermagazine, unterdrückter Orgasmus, denn nebenan, nur durch eine Wand getrennt, war das Labor, eine kleine Klappe, gleich neben einem der Bilder, die man öffnete, um den vollgewichsten Becher abzustellen, mauerbreit das Fach und auf der anderen Seite ebenfalls eine Klappe, dahinter professionelle Leidenschaftslosigkeit, die viel wichtiger schien, als jedwede zärtliche Berührung.
Nach sieben Versuchen hatten wir kein Geld und keine Kraft mehr. Langsam erwachten wir, als wäre alles ein Rausch oder ein Vollmondtraum gewesen. Wir schmiedeten kleine Pläne und versorgten unsere Wunden, ab und zu sogar gemeinsam.

Und dann, etliche Monate nach dem letzten Versuch, wurde sie schwanger, vom Zufall befruchtet. Zum allerersten Mal hatte ich das Gefühl, daran beteiligt gewesen zu sein. Nicht, weil mir der Umweg über den Wichsraum erspart geblieben war, sondern weil aus dem Unerwarteten eine ganz besonderes Gefühl herausströmte, als wäre es nur allein deswegen gut und richtig, weil es nicht geplant und scheinbar aus dem Nichts kam.

Zuviel war schon schief gegangen, als dass wir uns uneingeschränkt hätten freuen können, aber mit jedem Tag wuchs die Hoffnung. Und meine Frau erschien mir erstmals glücklich aus sich selbst heraus.

Das Fruchtwasser jedoch spiegelte ein Monster, eine Vision aus verkrampften Gliedmaßen und vegetativer Hirntätigkeit. Sie stürzte ab und ich wurde zum Spiegel. Alles was sie sagte, warf ich auf sie zurück. Bestätigte ihre Ängste und ihre Bedenken, aber kein einziges Mal sagte ich, lass es uns machen, oder, lass es uns nicht machen. Kein einziges Mal sagte ich, das schaffen wir zusammen, egal was kommt. Immer nur sagte ich, wenn sie sagte, aber es kann doch keiner hundertprozentig wissen, ja, es kann keiner hundertprozentig wissen. Und wenn sie sagte, eine solche Behinderung macht ein Leben nicht lebenswert, sagte ich, ja, es macht es nicht wirklich lebenswert. Aber wenn sie danach, fast im selben Moment meinte, aber es ist dennoch nicht wirklich sicher, bestätige ich auch dies und nickte, wenn sie von der Nachbarin ihrer Mutter erzählte, die zwanzig Jahre zuvor eine ähnliche Diagnose erhalten, aber nicht abgetrieben hatte und deren Tochter völlig gesund war und ihrer Mutter beinahe jeden Tag dafür dankte, dass sie leben durfte. Ich stimmte ihr zu, wenn sie sagte, dass dies ja nur eine Minderheit sei, die Davongekommenen. Die Mehrheit hätte keine Stimme, weil sie im Orkus landeten und keiner wirklich wüsste, was aus ihnen geworden wäre. Ein riesiger Leichenberg von Hypothesen, und ich sagte, ja, ein riesiger Leichenberg von Hypothesen. Und sie sagte, aber eben auch immer Leben dahinter, Leben das ging, Leben das blieb und niemand weiß, was wirklich besser gewesen wäre, aber die, die weiter leben, müssten das Beste daraus machen, und ich sagte, ja, man muss das Beste daraus machen und streichelte ihre Hand, als würde ich sie unterstützen. Dabei warf ich sie jedes Mal auf den Boden, warf sie abwechselnd ins Feuer und ins Wasser. Am Ende trafen wir eine Entscheidung, aber es war die ihre, eine Entscheidung aus dem Mangel an Kraft heraus, aus der Unvorstellbarkeit mit vierzig Jahren noch einmal die Energieleistung aufzubringen, sich einem Wesen voll und Ganz zu verschreiben, das niemals in diesem Leben ankommen würde, das man goss wie eine Pflanze und fütterte wie ein Tier, das man lieben würde, auch wenn es einen aufzehrte, und am Ende würde es sterben, so wie es geboren worden war, unter Schmerzen und man würde zurückbleiben, ohne die Kraft noch einen oder zwei Atemzüge zu tun. Dann lieber die Gnade für alle, sagte sie und ich stimmte ihr zu.

So hat sie die Entscheidung getroffen, weil ich feige und bequem ihrer Spur gefolgt bin, wie ich damals ihrem Traum, die Welt ein Stück besser zu machen gefolgt bin, ohne dass es auch meiner gewesen wäre, sowie ihrem Traum von einem eigenen Kind, ohne dass auch dieser mein eigener gewesenen wäre, und wenn sie gleich aufwacht und die Augen öffnet, dann wird in diesem Blick alles umgekehrt und meine Entscheidungslosigkeit wird zur Entscheidung werden, mein Abwälzen wird zurückschoben, mein Nichthandeln wird zum Handeln werden.
Ein schlechtes Gewissen kann man nicht teilen. Jeder muss mit seinem eigenen Gewissen zurechtkommen. Wenn ein Paar wegen einer gemeinsamen Entscheidung ein schlechtes Gewissen hat, so wird im Laufe der Zeit wenigstens einer diese Belastung dem anderen zum Vorwurf machen.
All das wird in ihrem Blick liegen, wenn sie gleich aufwacht.



2.

Jetzt wacht sie auf...
Zuletzt geändert von Sam am 19.05.2011, 17:36, insgesamt 2-mal geändert.

carl
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Beitragvon carl » 07.05.2011, 08:16

Hallo Sam,

Ein grossartiger Text!
Überlege, ob du vom 1. Teil den letzten Absatz weglassen kannst ab " jeder muss mit seinem eigenen Gewissen..." Er geht von der Unmittelbarkeit weg ins Reflektieren. Es ist klar, dass Sie zwischen Schmerz und Verantwortung teilen wird und wer letzteres bekommt.

"Ein schlechtes Gewissen kann man nicht teilen.
2. Sie wacht auf..."


LG, C

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leonie
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Beitragvon leonie » 07.05.2011, 12:08

Lieber Sam,

ich habe den Text auch gelesen, ohne abzusetzen, in einem Rutsch. Auf den ersten Blick. Ja:grandios.

Auf den zweiten Blick sind einige Dinge, die mich irritieren. Zum einen ist es die große Anzahl an Zufällen, die zusammentreffen.

Zum zweiten denke ich, dass der Blick nach einer OP das so nciht enthalten kann, weil man ja nicht glasklar aufwacht, sondern eher noch etwas weggetreten ist, sich manchmal an die ersten wachen Minuten gar nciht erinnert. Andererseits handelt es sich um die Phantasie des Protagonisten, was dieser Blick enthalten wird, so ist damit nicht gesagt, ob er das dann auch wirklich tut...

Dann sind es Kleinigkeiten: "Die nächsten Monate" , dazu mehrere gescheiterte Versuche einer künstlichen Befruchtung: sind das dann nicht eher Jahre?

"Das Fruchtwasser spiegelte im dritten Monat ein Monster, eine Vision aus verkrampften Gliedmaßen und vegetativer Hirntätigkeit." Ist das möglich? Kann man im dritten Monat schon eine Fruchtwasseruntersuchung machen, meines Wissens geschieht das später...(aber ich bin da nciht mehr auf dem neuesten Stand), welche "Anomalie" hast Du vor Augen, meist geht es um Trisomie 21, das passt aber nicht zu den verkrampften Gliedmaßen und vegetativer Hirntätigkeit. Gibt es eine Diagnose per Fruchtwasseruntersuchung, die dazu passt? Vielleicht müsste sie dann ausdrücklicher benannt werden, um nicht die Irritation hervorzurufen.

Das mit der Fruchtwasseruntersuchung ist sowieso ein Knackpunkt. Denn es wird ja deutlich, dass Du beim Schreiben eine Abtreibung vor Augen hast. Wie gesagt, ich bin nicht mehr auf dem neuesten Stand, aber ich meine dass auch heute bei Schwangerschaftsabbrüchen nach Fruchtwasseruntersuchnungen im Normalfall keine Abtreibung mehr möglich ist, sondern eine Geburt eingeleitet wird. Dann wäre das OP-Szenario auch problematisch.

Vielleicht hast Du das gründlich recherchiert und mittlerweile ist es anders.. Sonst würde ich das noch einmal überdenken...

Der erste Satz des Absatzes schwächelt auch in den Bildern ein wenig, finde ich. Monster-Vision: Wie passt das zusammen? Vision ist doch eher positiv besetzt...


Dieser Absatz könnte für mein Empfinden etwas mehr Konkretion vertragen:

Sam hat geschrieben:Da waren die Jahre des Aufopferns, der Sisyphusarbeit in den Straßen von Guayaquil, wo es darum ging, jungen Menschen eine Perspektive zu geben, Alternativen zu Gewalt und Verbrechen, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, Achtung vor den Mitmenschen. Dazu die schwangeren Mädchen und immer die Frage, was zu tun sei. Sie kämpfte um jedes Kind und gleichzeitig für die Mutter. Manchmal glücklich, manchmal unglücklich endete der Kampf, aber das Gefühl nicht tatenlos zuzusehen - darum ging es ihr. Um ihren Traum, ein Stück Gerechtigkeit in die Welt zu bringen, und ich träumte ihn mit, nicht, weil es auch meiner gewesen wäre, sondern weil ich keinen eigenen hatte.


Auch der letzte Absatz schwächelt für mein Empfinden sprachlich wegen der Wortwiederholungen, aber auch dem Grad der Abstraktion.

Ich überlege noch, ob ich 2. "brauche"... Warum brauchst Du es?

Den Einstieg finde ich besonders grandios in der Genauigkeit der Beobachtung...

Trotz Mäkeleien sehr gern gelesen!

Liebe Grüße

leonie

Sam

Beitragvon Sam » 08.05.2011, 07:54

Hallo carl, hallo leonie,

vielen Dank für euer Lob und eure Kritik!

Einen Punkt, den ihr beide angesprochen habt, ist das Ende. Seit ich eure Kommentare gelesen habe, denke ich darüber nach, ob ich nach "...mein Nichthandeln wird zum Handeln werden", aufhöre. Wirklich notwendig ist diese letzte Reflektion nicht. Andererseits, habe ich versucht, in die Überlegungen des Erzählers eine gewisse Bewegung zu bringen, die sich über die Perspektive ausdrücken soll - bzw. dem Abstand des Erzählers zum Erzählgegenstand. Die letzten Sätze waren gedacht, als Wegrücken des Erzählers, vom Spezifischen ins Allgemeine. Für mich sind diese Bewegungen Spiegel für Emotionen, die im Text explizit nicht vorkommen.


leonie hat geschrieben:Zum einen ist es die große Anzahl an Zufällen, die zusammentreffen.


Zufälle gibt es in dem Text eigentlich nur einen, und der wird auch als solcher bezeichnet. So ein Zufall ist es aber auch nicht. Es kaumt doch häufig vor, dass bei Paaren, die auf die vetrschiedenste Weise jahrelang versuchen ein Kind zu bekommen, der Kinderwunsch sich dann plötzlich erfüllt, wenn sie die Sache irgendwann aufgegeben haben. Zumal ist es in meiner Geschichte der Mann, der das Problem darstellt. Die Qualität des Spermas kann aber extrem schwanken. Stress, falsche Ernährung etc können bewirken, dass ein Mann nahezu zeugungsunfähig ist. Ändern sich Verhältnisse, Lebensgewohnheiten etc, kann es sein, dass mit der Zeit aus einer 95prozentigen Unfähigkeit eine 80prozentige Zeugungsfähigkleit wird.

Der ander Zufall, auf den du dich beziehen könntest, wäre die Behinderung des Kindes. Nun, es wird erwähnt das die beiden vierzig Jahre alt sind. Da ist die Wahrscheinlichkeit nicht gerade gering, dass soetwas passiert, oder?


leonie hat geschrieben:"Die nächsten Monate" , dazu mehrere gescheiterte Versuche einer künstlichen Befruchtung: sind das dann nicht eher Jahre?


Meines Wissens kann man durchaus alle zwei bzw. drei Monate einen Versuch durchführen, wenn es nicht zu einer Schwangerschaft kommt.

leonie hat geschrieben:Kann man im dritten Monat schon eine Fruchtwasseruntersuchung machen, meines Wissens geschieht das später...


Es gibt wohl eine Untersuchung, die schon ab der zehnten Woche gemacht werden kann. Zu den medizinischen Aspekten kann ich nur sagen, dass ich es zwar realistisch, aber nicht explizit haben wollte. Ich wollte keinen Text über das Thema Abtreibung schreiben. Durchaus bewusst wählte ich den Ausdruck "Vision". Das, was man hier liest ist ja eine ganz subjektive Vorstellung. Das Wort Vision finde ich übrigens nicht nur positiv besetzt (Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, sagte Helmut Schmidt einmal in einer Bundestagsdiskussion.) Mir ging es darum, einen Text über das Thema Schuld zu schreiben, keine Stellungnahme über Abtreibung bzw. der Frage, ab welchem Grad einer Behinderung man sagen könne, dieses Leben sei nicht lebenswert.

Nach dem was ich weiß, ist das hier beschriebene Szenario realistisch. Aber ich kann mich auch irren, und dann nehme ich gerne die notwendigen Korrekturen vor.

Mit den Kapiteln hadere ich auch noch. Eine zweite Ebene des Textes ist ja, wie Vorstellung arbeitet. Ob es dann in Wirklichkeit so geschieht, steht auf einem anderen Blatt, bzw. in einem anderen Kapitel. Aber vielleicht wird dies durch die Einteliung mit 1. und 2. dem Leser irgendwie allzudeutlich um die Ohren gehauen. In der Urfassung gabs keine Kapitel.


Noch ein Wort zu dem Absatz, den du zitierst hast und den du dir konkreter wünschst. Etwas später im Text wird das Thema ja nochmal aufgenommen. Ich bin der Meinung, dass da schon ein klares Bild entsteht. Wenn es aber konkreter würde, dann verschöbe sich der Fokus des Textes. Ich wollte nicht, dass der Leser anfängt, die Handlungsweise der Frau in Verbindung mit den schwangeren Mädchen mit ihrem Verhalten bezüglich der eigenen Abtreibung zu vergleichen, eben weil dies nicht das Thema ist. Das Paar in Südamerika Straßenkinder betreuen zu lassen erschien mir passend, weil es verschiedene Aspekte der Thematik Schuld bzw. Gerechtigkeit ausleuchtet. Mir ging es nicht um den Konflikt zwischen anderen ein Rat geben und dann plötzlich selbst in der gleichen Situation zu sein, und anders zu handeln.



Euch beiden nochmals herzlichen Dank!


Gruß

Sam

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 08.05.2011, 18:50

Lieber Sam

ich habe meine Vorkommentatoren nicht gelesen.
Dass du sehr gut schreibst, wusste ich vorher schon, aber dieser Text ist mir aus persünlichen Gründen tief unter die Haut gegangen.

Besonders gefiel mir die Dilatation - die Ausdehnung, die Aufblähung der Zeit. Zwar solltest du anfangs möglicherweise eventuell dieses sich Aufblähen der ehelichen Wahrheitssekunde behutsamer beginnen (dort also die anschwellende Redundanz verringern) aber das ist Kleinkram.

Hut ab.

herzlich
Renée

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 09.05.2011, 08:38

Hallo Sam,

mir geht es sehr ähnlich wie Leonie, zunächst hat mich der Text sehr gefangen genommen. Gerade die sehr genaue, melancholische Beobachtung der schlafenden Frau am Anfang finde ich sehr stark. Das Thema, das man "Schuld", "schlechtes Gewissen", oder wie immer man es nennen mag, nicht teilen kann ist ein großes Thema und in dieser Beobachtung schon ansatzweise sehr gut umgesetzt.
Meine Kritikpunkte sind folgende: Zum einen ist mir der Mann, der Erzähler zu schwach, zu neutral, er scheint nur da zu sein, um von der Frau zu erzählen, ja, ich weiß, du schreibst er hatte keine Träume, hat sich daher ihren Träumen angeschlossen, und auch diese Entscheidung mit dem Kind überlässt er schließlich ihr. Ich denke, wenn das wirklich plastisch (für mich) geschildert wäre, könnte ich wütend auf ihn werden, oder ihn bemitleiden, was weiß ich, so aber finde ich ihn schlicht unglaubwürdig.
Dann die Sache mit der Fruchtwasseruntersuchung. Ich habe selbst relativ spät Kinder bekommen, jedenfalls war ich schon in der Gruppe der "Risikoschwangeren" und in solchen Fällen ist der Gynäkologe tatsächlich verpflichtet, seine Patientin auf Gefahren und auf die Möglichkeit der Fruchtwasseruntersuchung hinzuweisen, allerdings nicht, ohne genau darüber aufzuklären, z.B. darüber, dass es sehr häufig zu Fehlgeburten kommt, durch die Entnahme des Fruchtwassers. Worauf ich hinaus will, ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob Deine Protagonistin, die sich so aufgeopfert hat und diesen starken Kinderwunsch hat, wirklich so eine Untersuchung machen lässt.
Allerdings habe ich ihr Aufwachen nicht als das nach einer OP verstanden, sondern als Aufwachen zu Hause, nach einer Nacht im eigenen Bett, die der Erzähler durchwacht hat. Andererseits ist das alles vielleicht gar nicht so wichtig, es geht ja darum, dass man auf einmal allein ist, dass man diese "gemeinsame" Entscheidung, samt allen Folgen allein zu tragen hat. Das man es gemeinsam aushalten kann, im besten Fall, aber eben nicht teilen.
Ich habe das Gefühl noch nicht wirklich auf den Punkt gebracht zu haben, was ich sagen wollte, aber vielleicht kannst du mit diesen Gedankenfetzen auch schon etwas anfangen.
Xanthi

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leonie
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Beitragvon leonie » 09.05.2011, 08:57

Ich kam auf OP, weil sie am Anfang doch aus der Bewusstlosigkeit in den Schlaf hinübergleitet.

leo

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 09.05.2011, 09:26

Hallo Leo,

du hast natürlich Recht, das habe ich nicht genau genug gelesen, ich habe als Phasen des Schlafes gelesen, aber natürlich ist man nicht bewußtlos im Schlaf, außer nach einer Narkose.

Xanthi

carl
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Beitragvon carl » 09.05.2011, 13:46

Hallo Sam,

ich habe mir Leonies Einwand über die Abstraktheit des Abschnitts über das Leben in Guayaquil Gedanken gemacht, weil ich es zuerst auch so empfand.
Aber ich denke, dass es um Folgendes geht:

Die Zuspitzung eines ganzen Lebens auf einen einzigen Punkt, den Blick im Moment des Aufwachens!
Das vernichtende Urteil, das in diesem Moment liegt.
Und dieses Urteil nicht einmal selbst sprechen zu können (obwohl das LyrIch darum weiß), sondern sogar dieses Urteil empfangen zu müssen.

Die Frau hat trotz aller Katastrophen und Enttäuschungen ein Leben gehabt.
Der Mann nicht.
Kein soziales, kein partnerschaftliches, kein eignes seelisches.

Das ist dir, bei allen Einwänden im detail, gelungen.
Selbst in der Rollenverteilung liegt eine tiefere Wahrheit.

Ich werde das schon mal zum Text des Monats anmelden, weil ich es sonst vergesse ;-)

LG, Carl

Sam

Beitragvon Sam » 11.05.2011, 14:45

Hallo Renée, Xanthi und Carl,

habt vielen Dank für eure Kommentare! (und dir leonie, dass du noch am Ball geblieben bist.)

Und jetzt der Reihe nach:

Renée,

dein Lob freut mich sehr. Wie man konkret das, von dir sogenannte Aufblähen der ehelichen Wahrheitssekunde, behutsamer angehen könnte, bin ich mir nicht sicher. Für mich stemmen sich die Redundanzen gegen die Zeit und sind für mich außerdem Mittel, einen Erzähler zu zeigen, der mehr bei sich, als bei dem Gegenstand seiner Reflexionen ist.

Xanthi,

du sagst, der Erzähler sei schwach und neutral. Nun, ich denke, er ist eher egoistisch und konfliktscheu. Zwei widerstreitende Eigenschaften, die sich gerne durch Passivität und Anpassung neutralisieren. Als schwach würde ich ihn nicht bezeichnen. Es gehört schon eine gewisse Stärke dazu, sich ganz in die Lebensvorstellung eines anderen Menschen einzufügen.

Ein weiterer Grund, warum ich den Erzähler in diese "extreme" Postion des Mitläufers gesetzt habe, war mein Wunsch, Emotionalität zu vermeiden. Ich musste Abstand herstellen, um diese Schuldreflektion überhaupt zulassen zu können. Jenes "ich habe nichts getan, und bin trotzdem und deswegen schuldig", denn das ist für mich der Kern der Geschichte, und der Anlass gewesen, sie überhaupt zu schreiben. Bei Texten, bei denen ein gewisser Gedanken den Hintergrund bildet, die ihre Aussage also nicht in dem Geschilderten selbst tragen, sind gewisse Verzerrungen der Wirklichkeit und auch Auslassungen manchmal notwendig. So wie z.B. die Diskussion, ob man überhaupt eine Fruchtwasseruntersuchung machen lässt, wegen der Gefahren. Hier wäre aber ein zusätzlicher Konflikt zu zeichnen gewesen, der aber nicht in das Konzept passte, und den ich (im Gegensatz zu vielen Lesern vielleicht) für verzichtbar halte.

Carl,

schön, dass deine Begeisterung für den Text nicht nachgelassen hat. Deine Lesart finde ich sehr interessant. Sie folgt ja so ziemlich dem, was der Mann erzählt hat. Und bringt einen Aspekt ins Spiel, der mir so noch nicht bewusst war. Aber das ist das schöne am Schreiben in Foren und dem direkten Feedback. Man lernt sehr viel über die eigenen Texte.

Nochmals herzlichen Dank!

Gruß

Sam

Gerda

Beitragvon Gerda » 14.05.2011, 10:55

Lieber Sam,

ich bin noch völlig im Banne dieses Textes, der mich von der ersten bin zur letzten Zeile gefesselt hat.
"Druckreif" bis auf marginale Kleinigkeiten, die ein Lektor korrigieren könnte.
Besonders herausstellen möchte ich die Detailgenauigkeit der Beschreibung ihres Gesichtes vor dem Aufwachen.
Ich empfinde, dass dir ein wirkliches Kunsststück gelungen ist, Mir ist kein Wort mir zu viel, redundant oder unpassend.
Diese erzählenden Beschreibung eröffnet den Blick auf ein Leben, was sich dann mit den Geschehnissen langsam vor mir ala Leserin ausbreitet.

Danke für diese Geschichte!

Sonnige Grüße an die Mosel
Gerda

PS Hast du eigentlich das "Amerikanische Hospital" von Michael Kleeberg gelesen?

Mit den Kommentaren werde ich mich erst jetzt beschäftigen.

Gerda

Beitragvon Gerda » 14.05.2011, 10:59

Nochmal ich,

carl hat geschrieben:Hallo Sam,

ich habe mir Leonies Einwand über die Abstraktheit des Abschnitts über das Leben in Guayaquil Gedanken gemacht, weil ich es zuerst auch so empfand.
Aber ich denke, dass es um Folgendes geht:

Die Zuspitzung eines ganzen Lebens auf einen einzigen Punkt, den Blick im Moment des Aufwachens!
Das vernichtende Urteil, das in diesem Moment liegt.
Und dieses Urteil nicht einmal selbst sprechen zu können (obwohl das LyrIch darum weiß), sondern sogar dieses Urteil empfangen zu müssen.

Die Frau hat trotz aller Katastrophen und Enttäuschungen ein Leben gehabt.
Der Mann nicht.
Kein soziales, kein partnerschaftliches, kein eignes seelisches.

Das ist dir, bei allen Einwänden im detail, gelungen.
Selbst in der Rollenverteilung liegt eine tiefere Wahrheit.

Ich werde das schon mal zum Text des Monats anmelden, weil ich es sonst vergesse ;-)

LG, Carl


Das möchte ich gern mitunterzeichnen!
Zum einen, das Textverständnis betreffend und auch die Wahl für den Text des Monats.
Deine Texte, lieber Sam atmen! Das gefällt mir und zeichnet sie aus

Nochmals liebe Grüße
Gerda

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Beitragvon Zakkinen » 14.05.2011, 18:01

Hallo Sam,

kann nicht viel zu dem Text sagen, außer dass zumindest vor zehn Jahren eine Fruchtwasseruntersuchung nicht so früh gemacht werden konnte, dass eine Abtreibung noch möglich gewesen wäre. Das gab eine eingeleitete Geburt. Ohne Narkose, wozu auch?

Grüße
Henkki

Gerda

Beitragvon Gerda » 14.05.2011, 20:01

Hallo Henkki,

bezüglich der Amniozentese habe ich noch einmal nachgelesen. Sie wurde ab etwa 1987 durchgeführt und ersetzte eine andere Methoden (Chorionzottenbiopsie) mit der zuvor Embryos älterer Schwangerer beispielsweise auf Trisomie 21 untersucht wurden. Die Amniozentese konnte auch vor 10 Jahren schon ab der 12. Schw.Woche durchgeführt werden.
Wo meinst du, sei der Unterschied, zwischen einer Abtreibung und einer eingeleiteten Geburt?
Bezieht sich das auf die Dauer der Schwangerschaft?

Liebe Grüße
Gerda


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