Die Gabe

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 10.06.2011, 22:31

Die Gabe

Im Zug sagt ein alter Mann zu mir: „Ich bin ein Toter.“
„Wie kann das sein“, frage ich, „da ich Sie doch sehen kann?“
„Sie haben die Gabe“, sagt er.
Ich frage die Frau neben mir, ob sie den alten Mann sehen könne.
„Ja, ich kann ihn sehen“, antwortet sie.
„Auch sie hat die Gabe“, sagt der alte Mann.
Ich wende mich an die anderen Fahrgäste. Jeder bestätigt mir, den Mann ebenfalls sehen zu können.
„Sie alle haben die Gabe“, sagt er daraufhin.
„Aber wenn es alle können“, erwidere ich, „dann ist es doch keine Gabe.“
An der nächsten Station erhebt sich der Alte und steigt aus. Die anderen folgen ihm.
Ich fahre weiter.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 11.06.2011, 08:59

Hallo Sam,
der Text reißt viele (zu viele?) spannende Themenkomplexe (Religion allgemein, Sekten, Mitläufertum, „Berufungsehnsucht“ etc. ) an.
Politisch „weißkrägig“ eckt er nicht an, predigt nicht, will nicht missionieren (eine Falle, in die mE. die meisten Texte dieser Art stolpern, einhergehend mit der Anspruchshaltung „objektiv“ zu sein).
Hier wird hier ausschließlich szenisch gearbeitet. Ein probates Mittel (das einzige?) für mich.
Trotzdem scheitert der Text bei mir.
Anfänglich dachte ich „Huch, Sam hat sich „verpostet“ … das gehört ja wohl in die Lachecke“ (ala Bruce allmächtig). Eine offensichtliche Verrücktheit/Absurdität wird geschildert, die mich lachen lässt. Zu abrupt verlässt der Text dieses Slapstickhafte und Herr Wayne reitet allein weiter in die Prärie. Er schließt sich nicht den Jüngern an. Er will keine Gabe, steht über ihr. Damit werde ich allein gelassen. Eine Offenheit, die durch die Substanzlosigkeit der Figuren und der Szene (einfach bedingt durch die Kürze) den Text beliebig macht.
Schade.
LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 11.06.2011, 09:35

Ich finde das völlig gruselig, erhöht es doch den Gedanken, den wohl jeder regelmäßig in sich trägt: Allein zu sein unter Fremden, hier sogar noch mehr: Allein zu sein unter anderen Wesen. Untoten.
Und verstärkt wird das noch dadurch, dass es gar nicht um Effekt heischt, was sich im letzten Satz manifestiert. Dieses "Normale" macht es nur noch schlimmer ...
So könnte man im Umkehrschluss die Überschrift auf denjenigen beziehen, der weiterfährt. Die Gabe, nicht durchzudrehen ...

Also mir ist das Gefühl sowas von vetraut (wahrscheinlich, weil's stimmt), dass mir eiskalt wird beim Lesen.
Das ist der kürzeste Low-Budget-Horrorstreifen, den ich kenne ...

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 11.06.2011, 10:04

hallo sam,

dieses totesehenkönnen-motiv kenne ich in erster linie aus dem film, aus verschiedenen filmen. "the sixth sense" zum beispiel (oder "solange du da bist"/"abbitte".) der zuschauer wird, genau wie der leser hier, über lange strecken im glauben gelassen, personen oder ereignisse seien real. erst am schluss wird durch einen perspektivwechsel deutlich, dass die sicht auf das geschehen eigentlich die sicht eines (oft traumatisierten) protagonisten ist und eben NICHT der realität entspricht.

an deinem text gefällt mir das reduzierte, unaufgeregte. der aha-effekt beim leser wird nicht, wie im film, durch eine opulent erzählte vorgeschichte erzeugt. allein der satz "die anderen folgen ihm." bringt die erkenntnis, dass etwas, was zunächst völlig alltäglich und "normal" erscheint, eben NICHT "norma"l IST.

die reaktion des erzählers allerdings, die ist für mich die eigentliche überraschung des textes.

lg
a

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 11.06.2011, 10:17

Ich finde den Text wunderbar (= saugut), weil er so vieles anreißt, "unaufgeregt" wie allerleirauh sehr treffend bemerkt. Ob die Menschen tatsächlich im Sinne "Missionierter" folgen, bleibt im übrigen dahingestellt; die Zugfahrt kann als eine Metapher fürs Leben gelesen werden, aber sie kann auch ziemlich normale bleiben, denn der Typ könnte schlichtweg einer jener "Spinner" sein, die einem beinahe täglich begegnen (wenn man unterwegs ist). So kann selbst das gemeinsame Aussteigen/ Verlassen des Zugs reiner Zufall sein (größere Stadt, kurz vor Endstation), was dem Ich in dieser speziellen Situation aber mysteriös erscheint - es kommt eben immer auf die Zusammenhänge an ...

Gerade diese Offenheit, dieses Fast-Normale (aber eben doch mit massiver Störung des normalen Ablaufs) fasziniert mich an dem Text, den ich als besonders dicht empfinde.

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leonie
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Beitragvon leonie » 11.06.2011, 11:54

Ich finde die Pointe richtig witzig. Weil entlarvend.

Der Text lässt einen Film entstehen, in dem eine anfängliche Verwunderung sich wandelt zu einem Schauer, der über den Rücken geht und einen die eigene Wahrnehmung hinterfragen lässt.

Dass man den Text unter verschiedenen Aspekten lesen kann, gefällt mir außerdem.

Liebe Grüße

leonie

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Eule
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Beitragvon Eule » 11.06.2011, 12:28

Hallo Sam, mich erinnert der Kurztext ein wenig an Gruppenverhalten und -zwang und die verschiedenen Zusammenhänge, in denen ein solcher auftreten kann. Möglich, dass hier gerade eine Reisegruppe unterwegs war. Insgesamt sehr lakonisch erzählt, aber zum nachdenklich stimmen. Gerne geschmunzelt !
Ein Klang zum Sprachspiel.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 11.06.2011, 12:35

Vielleicht sind alle anderen, außer dem Erzähler, auch tot? So dass es letztlich doch nur der Erzähler ist, der die Gabe hat?
Merkwürdig ist immerhin, dass sich von den anderen keiner zu wundern scheint.
Berückend in ihrer Vieldeutigkeit ist diese Geschichte.

Liebe Grüße
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 12.06.2011, 04:19

Ich finde diese Szene fantastisch. Angenehm bizarr. Auch der mathematischen Sprache wegen, sie klingt wie aus einem Kreuzworträtselheft. Sie bringt Kälte in das heiße Thema und somit Knallpotenzial.

Die Rätselauflösung ist mir egal, denn es gibt beliebig viele Möglichkeiten und eine derart endlose Auflistung würde mich langweilen. Außerdem hat der Erzähler kein Gesicht, ich hege also keine Empathie, bin nicht besorgt.

Ohne weitere Fragen genieße ich einfach das bizarre Ende, aus Freude an der Groteske. Es mag auch daran liegen, dass ich Menschenleere nicht selten als schön empfinde.

Das wäre ein klasse Kurzfilm.

Zwar steht am Anfang "im Zug" geschrieben, aber gleich danach, ich weiß nicht warum, sah ich die Szene vielmehr in einem Bus. Also mehr Raum, mehr Menschen, statt einem kleinen Zugabteil, mit wenigen Leuten. Wenn ich das verfölme, würde ich in einem Bus drehen.


Ahoi

Pjotr

Sam

Beitragvon Sam » 12.06.2011, 08:54

Hallo Zusammen,

vielen Dank für eure zahlreichen Kommentare!


Nifl,

dass die Offenheit des Textes als Beliebigkeit wahrgenommen wird, damit muss man bei dieser Art Geschichten wohl immer rechnen. Kommt halt ganz auf den Leser an und was er erwartet. Slapstikhaft finde ich den Beginn allerdings nicht. Und dass der Leser am Ende alleine gelassen wird, ist in diesem Fall, glaube ich, das Beste, was ihm passieren kann.


Tom,

ich hatte zwar nicht die Absicht, jemanden gruseln zu machen, aber dass der Text dazu in der Lage, spricht nicht gegen ihn. Interessant, dass einige wenige Sätze in der Lage sind, beim Leser einen solchen Film auszulösen. Und wie unterschiedlich der sein kann. Nifl lacht und du gruselst dich.


allerleirauh,

an Sixth Sense musste ich beim Schreiben auch denken. Weil ich zunächst daran dachte, den alten Mann sagen zu lassen: "Ich bin ein Geist." Aber das gefiel mir nicht. Und da kam mir der Film in den Sinn, und welche unmittelbare Wirkung es hat, dass der Junge nicht von Geistern spricht, sondern von den Toten, die er sehen könne.

Was mich interessieren würde ist, inwieweit du den letzten Satz als überraschend empfunden hast.


amanita,

Danke für das "saugut". Es stimmt, alles was beschrieben wird, kann völlig normal sein. Nur der Satz des Alten sticht da hinein, und stellt die Normalität in Frage. Die seine, die des Erzählers oder eben die der ganzen Szene (und damit der ganzen Welt).


leonie,

neben Tom und Pjotr erwähnst du auch einen Film, der sich beim Lesen abgespielt hat. Das freut mich, ist das Drehbuch doch spärlich und kurz. Dass es trotzdem funktioniert erstaunt und begeistert mich. Nicht weil ich es geschrieben habe, sondern weil es zeigt, wie wenig es manchmal braucht, und was ein paar Sätze bewirken können.


arne,

an Gruppenverhalten hatte ich beim Schreiben auch gedacht, bzw. es war einer der Gedanken, die zu diesem Text geführt haben. Eine Erfahrung, die den Anschein von Exklusivität hat, welche sich dann aber in der Gemeinschaftserfahrung auflöst und damit seinen Reiz verliert.


Zefira,

Tom erwähnten den Gedanken ja auch, dass der Erzähler sich unter lauter "Toten" befindet. Aber es kann auch ganz anders sein. Vielfältig, wie du sagst.


Pjotr,

angenehm bizarr bezeichnest du den Text, und so wollte ich ihn auch haben. Angenehm im Sinne von anregend. Die Lesart ist tatsächlich unwichtig, bzw. das, was ich mir nun gedacht habe beim Schreiben. Wichtig ist, dass der Text in der Lage ist etwas auszulösen - jenen Film von dem du und auch die anderen sprachen. Ob der nun amüsant oder gruselig oder beides ist, spielt keine Rolle.

Dass mit dem Bus ist interessant. Ich würde in einer U-Bahn drehen, denn da gibt es keine Außenwelt, die Rückschlüsse auf den Grad der Realität zuließe. Außerdem brächte der Bus noch einen Fahrer mit ins Spiel. Es wäre also eine Erweiterung der Szene, die aber vielleicht sogar eher eine Einengung bedeuten würde, im Sinne der Deutungsvielfalt.


Nochmals vielen Dank euch allen für eure Gedanken zu dem Text.


Gruß


Sam

Gerda

Beitragvon Gerda » 12.06.2011, 09:38

Hi Sam,

spannend die Kommentare zu Lesen, denn ich gebe zu, mein erstes Lesen des Textes, hat mich ganz schön im Regen stehen lassen. Aber ich tu mich meist schwer mit "übersinnlichen Erscheinungen".
Erst im Nachhinein, konkret durch Amanitas Kommentar habe ich den Zugang erhalten, zu einer Art Groteske, denn oft genug habe ich ganz "reale" absurde Phantasien , wenn ich unterwegs bin mit dem Zug.
So kann ich es dann sehen (lesen), alles Schwarz/weiß und finde es seltsam "logisch".
Kurios:
Pjotr hat geschrieben:Zwar steht am Anfang "im Zug" geschrieben, aber gleich danach, ich weiß nicht warum, sah ich die Szene vielmehr in einem Bus. Also mehr Raum, mehr Menschen, statt einem kleinen Zugabteil, mit wenigen Leuten. Wenn ich das verfölme, würde ich in einem Bus drehen.


Woran liegt es, dass ich beim Lesen ebenso empfunden habe?
Ich wurde durch Pjotrs Kommentar darauf aufmerksam, dass es kein Bus ist.

Liebe Grüße
Gerda

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 12.06.2011, 09:54

Hallo Sam,

U-Bahn ginge auch. Wesentlich in meiner spontanen Vision war der größere Raum, im Gegensatz zu einem üblicherweise kleinen Zugabteil. Stimmt, einen Fahrer zu sehen, wäre zu ablenkend. Bei meiner Busvision stand ich allerdings mit dem Rücken zum Fahrer und sah in die Gesichter der Fahrgäste :-)


Cheers

Pjotr

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 12.06.2011, 09:58

Bus und Zug ... vermutlich stellt man sich unter anderem einen Bus vor, weil die Menschen hier im Text viel mehr (untereinander) kommunizieren als gewöhnlich.
Daher habe ich mir ein Zugabteil vorgestellt (obwohl es das ja kaum noch gibt), also eine Situation, die den Fokus auf eine Menschen(klein)gruppe richtet, was in den meisten Zügen ja nicht mehr funktioniert, außer vielleicht kurz vorm Aussteigen, wenn schon einige Menschen an den Türen stehen und warten, bis sie zu öffnen sind.
Der Bus ist vermutlich überschaubarer, weil er nicht so viele Menschen transportiert wie der Zug.

(Sehe gerade, Pjotr schreibt so ziemlich das Gegenteil; ich schicke meine Erklärungsversuche aber dennoch los)

Sam

Beitragvon Sam » 12.06.2011, 12:11

Hallo Gerda, Pjotr, Amanita,

vielen Dank!

Bus, Zug, U-Bahn - die Unterschiede zeigen, dass das Szenario losgelöst vom eigentlich Geschriebenen im Leser zu entstehen vermag. Das finde ich klasse. Dabei bin ich mir eigentlich selbst auf den Leim gegangen, denn ich dachte die ganze Zeit an eine U-Bahn, habe aber dennoch Zug geschrieben. Zugegeben unbewusst, aber womöglich hat sich in mir etwas intuitiv gegen eine zu starke Konkretisierung gewehrt.

Und pjotr, aus der von dir erwähnten Perspektive, mit dem Rücken zum Fahrer, kann ich mir die Szene auch in einem Bus vorstellen.

Gruß

Sam


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