Poschl im Fall

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Kurt
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Beitragvon Kurt » 30.09.2011, 01:31

Oh Weia, ich habe mal weit zurück geblättert hier unter Prosa. War ja echt mal viel los hier, viele Namen, die ich nicht kannte, und viele Texte, die kritisiert und bearbeitet wurden. Ich kam ja später rein mit diesem Text hier, und wundere mich, dass ich ihn kurz darauf unter Berücksichtigung der Kritik, entsprechend bearbeitet habe. Ich dachte, ich wäre damals ein unverbesserlicher Proll gewesen. Stimmt gar nicht. Oh, durchatmen.

Hier der Text aus letzter Bearbeitung:

Poschl im Fall

Trudelnde Blätter, auf Poschls Glatze Schattenspiele; eine Frau bückt sich, sie sammelt Kastanien; Poschl erblickt ihr Gesäß, steht hinter einer Mauer, polliert, hält sich bedeckt mit einem Blatt auf dem Kopf; der Geliebte der Beäugten schlägt mit einem Ast darauf, das Blatt wendet sich, entblößt Poschl beim Abgang. So fällt er aus diesem Traum, in eine nicht minder unsanfte Wirklichkeit.

Seit vielen Morgen schon erträgt er das gleiche Bild, eine sexy ausstaffierte Mutter um ihn herum. Er hätte am liebsten seinen inneren Vorhang zugelassen. Doch unbändig durchströmen seine Körperfestung Antriebe und Zeit, nur unterbrochen vom Schlaf, dem einzigen Retter vor Mama und seiner umtriebigen Lebensangst. Trost bringt auch nicht die Vorstellung, Mutti wäre ja nur eine Quantenwolke im leeren Raum. Zu schmerzlich ist ihr von seinem Gehirn strukturiertes Wahrnehmungsmodell. Der müde Leib fährt ins Büro, die Stimmung ist mies. Die Wissenschaft hat bei Depressiven Serotoninmangel festgestellt. Also sorgt er auf synthetischem Wege dafür, dass seinem Gemüt mehr Serotonin zur Verfügung steht. Die haltlose Lebenssituation ändert das nicht. Der Chef bleibt der gleiche Muffel und seine Mutter latscht weiter mit Plüschpuschen und Strapse durch die kostbare Möbellandschaft.

In der Mittagspause begegnet ihm seine Nachbarin Edith Pilokat. Erotisierend, die Bebrillte in ihrem neuen Minirock, denkt sich Poschl, allerdings für Mutti mit Sicherheit zu dürr und nur eingeschränkt tauglich zum Kinderkriegen. Er erklärt Edith, was Solipsismus bedeutet. Sie antwortet: „Andere sagen aber etwas anderes.“

Poschl kommt am Feierabend nach Hause. Ein Brief statt des Hundes empfängt ihn, liegt auf der Ablage der Flurgarderobe. Mama ist zu ihrem langjährigen Verehrer umgezogen, und den Hund, der ihm so ans Herz gewachsen war, hat sie mitgenommen. Nur etwas Lebendiges ist ihm geblieben, eine aggressive Stubenfliege. Er sucht Entspannung bei dem Videofilm „Lassies Wiederkehr“ mit Liz Taylor. Obwohl er ihn zum zehnten Mal sieht, bricht er erneut in Tränen der Rührung aus, diesmal noch verstärkt mit dem Gedanken an den entführten Hund. Poschl ist bewusst, dass alles nur gespielt ist. Jedoch die Gefühle scheinen dem kritischen Bewusstsein vorgeschaltet zu sein.

Poschl legt sich ins Bett, kann seinen rechten Arm in das leere Bett seiner entfleuchten Mama ausstrecken. Er kann sich unabgelenkt auf seine Tagträume besinnen. Von Fall zu Fall streckt er die Finger aus, tastende Fühler nach Urwassern manchmal, dabei fallen sie ihm in die Hand, glückselige Gedanken vom Sein wie versprengte Fische.

Dann starrt Poschl jedes Mal aus dem Fenster, und sieht ja doch nur, was er glaubt. Ist enttäuscht, wenn die Finsternis den Friedhof asphaltiert, die Zellverbände der Lebewesen auseinanderbrechen und verstreut im Sonnenwind fliegen, während die Stadt brombeergebläut erwächst aus heiterem Himmel, die Bühnenlampe der Sonne Gespenster zu Blüten verkehrt und das hoffnungsvolle Glimmen über dem Boden in fette Glühwürmchen taucht.

So lässt er die Gedanken an ein glückseliges Dasein wieder fallen; zu mickrig scheinen sie ihm voller Größenwahn. Sie verebben mit dem Sturzbach auf ihrem unsicheren Grund und er tagträumt sich zurück in die Nische jenseits seines eisigen Falls.

Gebannt betrachtet er seine sonst überaus zugeknöpfte Nachbarin Edith Pilokat, wie sie in ihrem Garten wie ein junger Derwisch tanzt. Sein Fenster erlaubt ihm zudem eine Sicht schräg in die Konrad-Adenauer-Allee. Einige Bäume haben bereits einen Großteil ihrer Substanz verloren. Die Kraft, oder ist es keine Kraft?, welche den Dingen ihre Formen erhalten hatte, scheint aus irgendeinem Grund zu versagen. Seine Brille hat er überprüft, an ihr liegt es nicht.

Wenn der „Verfall“ weiter so um sich greift, denkt sich Poschl, dürfte bis zu dem Künstlertreffen an der Ostsee in dem beschaulichen Ahrenshoop, in dem er einst aufwuchs, alles demontiert sein. Die Halbwertzeit hat er überschlagen.

Poschl kommt das Meer in den Sinn, das Strandhaus in Ahrenshoop, seine unbeschwerte Kinderzeit, bevor er mit seinen Eltern hierher nach Berlin gezogen war. Wie mochte es um das Meer stehen, dessen Nähe er so oft vermisste? Versickern dessen Geheimnisse mit der Auflösung, wird es seine Wahrheit preisgeben, über die er bereits als Zwölfjähriger spekulierte?

Poschl erinnert sich an seinen Vater, den Chirurgen, als dieser operierte nahe den Langerhansschen Inseln*, während Poschl narkotisiert auf Trauminseln wandelte, im verstrahlten Bikiniatoll, gebärende Frauen aufspürte mit Kindern wie Geschwüre, als sein Vater nach einem Inselkarzinom Ausschau hielt, nach seinem Krebs, und als sie sich nach der OP aussprachen, der Vater ihn beruhigte und sagte, dass alles okay sei, nur eine harmlose Geschwulst, die er entfernt habe. In der Zeit vor dem Eingriff hatte Poschl sich einer Aufklärung entzogen, beherrscht von dieser latenten Angst, das Aufdecken der Wahrheit könne ihn in den Abgrund stürzen oder schmerzlich, schlummernde Illusionen freilegen.

Sein Vater ging im letzten Herbst fort, streifte nun auf den Bikinis herum, ein Forschungsauftrag. Poschl war sich jetzt selbst überlassen. Und da erwischt es ihn auch schon, und einen Fußgänger in der Konrad-Adenauer-Allee, während Edith Pilokat immer noch ihren Blick magisch in einen Handspiegel richtet und es scheint, sie wolle unendlich so weiter tanzen. Ihr hässlicher Buckel, an dem sie wie an einem Zentnersack Kartoffeln all die Jahre schwer getragen hatte, hatte sich aufgelöst und war einfach so verschwunden. Poschls linker Fuß indessen ist nur noch ein flimmerndes Scheingewebe. Dann verlieren seine Beine gänzlich ihre Form, liegen vor ihm am Boden wie Zuckersand, den kein Backförmchen halten wird. Gerade jetzt wäre er gern davongelaufen.

Und ihm fällt ein, dass er sich einmal als Jugendlicher danach gesehnt hatte, frei zu sein wie ein Vogel und wegfliegen zu können von den sich häufenden Pflichten und Sorgen. Dann stellte er sich vor, wie in einem Zugvogel unausweichlich Fernweh aus innerem Schattenreich emporsteigt, spürte das unruhig Blut und Gedärm, am Aug vorbei die Vorhut, seine Flügel im gepressten Raum, und wie er bei Nacht auf und davon fliegt gefangen im Pulk, im Gepäck seine Last, an den alten Ort zurückzukehren; ein Geschoss durch fedrigfiebrige Brust würde ihn sterbend herausreißen und alle Fesseln wären gelöst; welch Ironie eines Vogelfreiseins. Damals zerbrachen so viele Utopien, die nur in einem beschützten Raum existieren konnten.

Nun reißt es die Kleidung von der Pilokat und Poschl fast in ein Endzeitglück. Aber ihre Körperoberfläche, die gesamte Peripherie erscheint verschwommen.
„Meine Augen sind raus“, ..............., glaubt er. Am Ahrenshoop-Termin, oder nach seiner aktuellen Berechnung genau am 29. Februar 2013 gäbe es diese Welt nicht mehr… und sein Meer, dessen Tiefe, sie werde er sich erhalten, überlegt er.

Später, mitten in der Nacht, schreckt ihn ein Kratzgeräusch an der Schlafzimmertür auf. Der Hund begehrt Einlass. Seine Mutti liegt nackt auf der Couch im Wohnraum und schläft fest. Auf dem Tisch stehen zwei leere Flaschen Grappa. Poschl erblickt einen ungehemmten Verfall. Rundherum liegen die Dessous verstreut, die der Verehrer so gerne gemocht hat.

Den nächsten Morgen wird Poschl von Mama geweckt, in biederer Unterwäsche im Landhausstyle gekleidet, und in Poschls Welt kehrt ein ursprünglicher Zusammenhalt und ihre friedfertige Geborgenheit zurück.



*Die „Langerhansschen Inseln“ sind Zellagglomerate in der Bauchspeicheldrüse.
Zuletzt geändert von Kurt am 30.07.2019, 15:04, insgesamt 4-mal geändert.
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Eule
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Beitragvon Eule » 30.09.2011, 09:51

Hallo Kurt, mir gefällt die lebendige Bildhaftigkeit Deiner Sprache. Dein Protagonist befindet sich in einer reflektiven Grundstimmung, vielleicht, "Die Halbwertszeit habe ich überschlagen", die Midlife-Crisis.

Sonst passiert ja eigentlich nicht viel, der Text erscheint als Ausschnitt eines "normalen" Arbeitsalltags. Langweilig wirds trotzdem nicht, und als Leser frage ich mich, wer dieses lI wirklich ist. Keine schlechte Lesemotivation.

Viele Grüße !
Ein Klang zum Sprachspiel.

ullam77

Beitragvon ullam77 » 18.10.2012, 16:51

Hallo,Kurt. Toll geschrieben. Deine Figur scheint nicht zu wissen, wo lang es gehen soll, scheint verzweifelt zu sein.
Scheint hin und her gerissen. Kann man sich gut vorstellen . ullam77

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.11.2012, 09:09

Hallo Kurt,

der Stil ist sicher und versteht zu sprechen, aber der Text selbst erscheint mir wie die Figur letztlich haltlos. Das natürlich auf eine sehr straffe, auch starke Art, die sich in eine Art intellektuelle Sinnlichkeit (krankheit, Körperdemontierung, Parallelschaltung geschriebene Protagonisten und Erzählinstanz) spricht. Er hat einen Duktus, einen Willen auch, der eher einer Ausbreitung eines Romans zukommt (Zeitschiene, Weltgefüge), dazu diese Endzeitstimmung und die verwobene Ebene des Schreibens, die in allem mitgenommen wird oder aus der heraus geschrieben wird. Das ist alles gut gemacht, aber ich weiß nicht genau, was es soll. Die Erzählinstanz wirkt am Ende eben trotz einiger Reflexionsfähigkeit und Intelligenz internetforen- und Künstlertreffen oder was auch immer der 29. Februar in A. für ein Datum ist, ein bestimmter Typ, der sich dann letztlich nicht unterscheidet und dann eben steht auch der Weltuntergang (in welcher innerer, konkreter Form in auch immer durch die Rückkehr mit all dem nach Ahrenshoop) bevor. Ich habe das Gefühl, es geht um ein Ich und einen Text und dass die Existenz und Existentzängste miteinander zusammenhängen. Dass wenn das eine (Text oder Mensch) zerissen wird, dies auch die Zerissenheit des anderen bedeutet. Und dieser Text dann davon nochmal erzählen will. Aber da schon die Luft raus ist (trotz hoher Sprachfähigkeit, keine Frage). Es entsteht für mich eine Art zu gewollter Tagebucheintrag.

liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 04.01.2013, 19:31

Poschl im Fall

gelöscht vorerst
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Kurt
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Beitragvon Kurt » 16.06.2013, 15:31

Liebe Lisa, Dank für deine Antwort.

Nun hatte ich Tage zuvor den Text bereits geändert, weil mir die Sache mit dem Internet gar nicht gefallen hatte, und weil ich inzwischen festgestellt hatte, das andere Autoren eine gegenläufige Position einnahmen. Aber einige Textausschnitte kamen ja gut an; die habe ich beibehalten und mit anderen Tagebuchtextstellen kombiniert, sodass eine anderer Text herauskam, den ich nun gegen den vorigen ausgetauscht habe. Er dürfte nun auch "etwas wollen".

LG Kurt
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Kurt
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Beitragvon Kurt » 30.07.2019, 15:09

Zuletzt bearbeitete Version jetzt oben stehend, mit Eingangskommentar.
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
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