Von fernen, nahen Feldern

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Kurt
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Beitragvon Kurt » 14.10.2011, 23:29

Vor langer Zeit, da lebten einmal zwei Brüder, Billi und Lui. Sie schienen unzertrennlich. Bis eines Tages in ihrem Heimatstaat exotische Lampions importiert wurden, weil sie mit so wundervollen Ikonen verziert waren. Bald leuchteten sie in allen Häusern, Straßen und Gassen.

Und man machte eine erstaunliche Entdeckung. Auf jeder Stirnglatze der mausgrauen Genossen und Genossinnen des hiesigen Landes, mehr zu ihren Schädeldächern hin, zeigte sich, unter dem Licht der Laternen betrachtet, jeweils ein wunderbar gezeichneter Kreis. Fortan nannte man ihr Land das derer mit den Kreisen. Nur auf Luis Plattkopf schimmerte ein deutlicher Winkel. Die Leute der Umgebung zeigten mit den Fingern auf ihn, sagten, er hätte einen Dachschaden und bezeichneten es als Winkel-Krankheit. Bruder Billi schämte sich für Lui: „Eine Schande ist das!“ schalt er. Dies betrübte Lui so sehr, dass er tagelang weinte; schließlich verließ er die mit den Kreisen.

Billi machte sich indessen große Vorwürfe und begab sich auf die Suche nach ihm. Er wendete sich an ein hellseherisches Medium, einem alten Mütterchen, das ihm den Weg zu Lui wies, in ein weit entferntes Land.

Billi fand seinen Bruder, entschuldigte sich bei ihm und bedauerte, ihn wie einen Aussätzigen behandelt zu haben. Er gelobte, es nie wieder zu tun. Billi hing an Lui, wollte ihn gleich mit zurück ins Heimatland nehmen. Aber Lui fühlte sich in dem jetzigen Territorium sehr wohl. So musste Billi eben dort bleiben.

Auch hier hatte man jene Lampions eingeführt und staunte, dass bei allen ein Winkel auf ihren Glatzköpfen erkennbar wurde, wie bei Lui; auf Billis Schädel schimmerte aber ein Kreis. Rundherum im Land derer mit den Winkeln sagten sie, dass Billi einen Dachschaden hätte und es die Kreis-Krankheit wäre. Lui schalt Billi. Dies betrübte Billi so sehr, dass er tagelang weinte; dann ging er fort.

Bald bezweifelten aber einige Fantasiereisende, die zwischen dem Staat derer mit den Winkeln und dem derer mit den Kreisen hin und her zogen, dass es sich um Dachschäden handelte. Denn befanden sie sich im jeweils fremden Gefilde, galten sie als krank, im Heimatfeld aber als gesund.

Billi und Lui besuchten sich nun wieder gegenseitig. Am liebsten wären sie zusammengezogen. Aber sie fürchteten den noch immer währenden Gruppenzwang und die Ausgrenzung.

Die mit den Winkeln und auch die mit den Kreisen hatten sich aber unabhängig voneinander beträchtliche Kulturen geschaffen mit vielen Buchstaben, mit LSÜGIFUNHBZEKRAJÖTCDPWM.

Nach ihren gegenseitigen Besuchen begleiteten Billi und Lui sich immer eine halbe Strecke, machten Halt an der Trinkhalle des alten Mediums, jenes Mütterchens, welches damals Billi den Weg zu Lui gewiesen hatte.

Das Medium beobachtete die Beiden schon längere Zeit. Es konnte nicht mehr mit ansehen, dass sie sich innerlich so sehr quälten. Nun war ja das alte Mütterchen hellsichtig, setzte sich auf seinen Ruhesessel in die Gästelounge, in der sich Billi und Lui befanden, und sprach: „Das Misstrauen gegen Andersartige und gegen Fremde sitzt zu tief, als dass man es einfach aufheben könnte. Aber wenn man sich miteinander austauschte, könnte im Nu ein zukunftsweisender Satz entstehen.“

Etwas rätselhaft, fanden Billi und Lui. Gleichzeitig erklang, mehr intuitiv, ein hoffnungsfroher Satz in ihnen, ein Satz mit einem Motto, nach dem sich immer mehr Leute beider Länder gesehnt, aber auch davor gefürchtet hatten. Er blieb Billi und Lui jedes Mal im Halse stecken. Es gelang ihnen nicht, ihn zu formulieren, so dass er klar und mitteilbar wurde, wollte nicht heraus aus ihren Mündern.

Billi schaute traurig auf Lui, dieser ebenso auf Billi. In dem Augenblick entzündete das alte Mütterchen ein Lampion und es erstrahlten das kreisrunde O auf Billis und das winkelige V auf Luis Stirn. Und plötzlich verstanden sie. „Juuih“, jauchzten sie, „mit unseren alten neuentdeckten Zeichen könnten wir es bewerkstelligen“. Und in ihren Kehlen formten sich die passenden Laute dazu. Aus dem unaussprechlichen Satz, EINE H_FFNUNGS__LLE _ERKNÜPFUNG, ihres früheren Alphabetes, gelang ihnen endlich, wie ersehnt,

„EINE HOFFNUNGSVOLLE VERKNÜPFUNG“.

Sie ließen das Los entscheiden, in welchem Land sie ihre Tage bis ans Ende verbringen wollten.
Zuletzt geändert von Kurt am 16.06.2013, 15:35, insgesamt 14-mal geändert.
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RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 15.10.2011, 09:52

Hallo Kurt,
in deiner Geschichte hat die Spielfreude den strengen Vater Verstand neben sich sitzen, der ihr die meiste Zeit ins Lenkrad greift. Äußerlich zeigt sich das an diversen kleinen erklärenden Einschüben 'jauchzten sie nach kurzer Besprechung', oder der zweimaligen Erklärung, dass die Waldohreule hellseherisch ist, es steckt aber auch im recht abstrahierten Zugriff auf das Thema - Kreis und Winkel - das für vermutlich nicht nur mich sofort die Belehrungsfabel-Drohung vermittelt - der Punkt, wo du 95% der Leser verlieren dürftest.
Vielleicht würde es deinem Ansatz entsprechen, die Sache zu radikalisieren: statt Taube: Tiergattung, statt Gerda und Mathile: A und B etc. und so die Märchenform ganz in ein logisches Spiel aufzulösen? Nur so als Idee ...
Schöne Grüße
Franz

Kurt
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Beitragvon Kurt » 17.10.2011, 18:22

Joor, Franz, "die Winkeligen" gefiel mir auch nicht, hatte ich erstmal als Platzhalter, quasi. Hört sich ja an wie eine Gesinnung, und das stört, stimme ich dir zu. Deswegen habe ich es jetzt in die "derer mit den Winkeln" umgeändert, und spreche auch nicht mehr von Brandmalen, sondern von einem "wunderbar gezeichneten Winkel". Aber vielleicht fällt einen ja noch etwas anderes ein, es darf nur nicht zu verwirrend wirken, also in der Benennung sollte schon Winkeliges vorkommen, wegen klarer Zuordnung.

Gruß Kurt
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Kurt
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Beitragvon Kurt » 16.06.2013, 15:38

Habe den Text jetzt umgearbeitet, von einer Version mit Tauben in die mit einer mit Menschen. Prots. Billi Und Lui.
Und einige Formulierungen reizvoller, hoffe ich.

LG Kurt
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