Tagebuchaufzeichnung eines 24jährigen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Kurt
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Registriert: 30.09.2011

Beitragvon Kurt » 05.11.2011, 03:42

Einer der eher ungewöhnlichen Tage

Wir schreiben den 30. Oktober 2001. Auch an diesem Tag, wie allmorgendlich, das gleiche Bild; eine langbeinige, sexy proportionierte Mutter um dich herum. Du würdest am liebsten deinen inneren Vorhang zulassen. Doch unbändig durchströmen deine Körperfestung Antriebe und Zeit, nur unterbrochen vom Schlaf, dem einzigen Retter vor Mama und deiner umtriebigen Lebensangst. Trost bringt auch nicht die Vorstellung, Mutti wäre ja doch nur eine Quantenwolke im leeren Raum. Zu schmerzlich ist ihr von deinem Gehirn strukturiertes Wahrnehmungsmodell. Dein müder Leib fährt ins Büro, deine Stimmung ist mies. Die Wissenschaft hat bei Depressiven Serotoninmangel festgestellt. Also sorgst du auf synthetischem Wege dafür, dass deinem Gemüt mehr Serotonin zur Verfügung steht. Doch deine sinnentleerte Lebenssituation ändert das nicht. Der Chef bleibt der gleiche Muffel und Mutter latscht weiter mit Plüschpuschen und Strapse durch die kostbare Möbellandschaft.

Verbarrikadiert hinter drogenkaputter Körperruine blickst du streitbar wie aus Schießscharten in die morbide Umwelt. Im Dunkeln liegt jeweils die ganze trügerische Wahrheit der Wahrnehmung.

Dich plagt zunehmend die Frage nach einem übergeordneten Sinn, lässt dich nicht mehr los, wird zu einer Obsession mündend in eine Sucht. Du hast dich stets von allen Süchten befreien können. In der frühen Jugend von einer Geltungssucht, nachdem du gemerkt hattest, dass ihre Befriedigung das Wesen einer Hydra angenommen hatte, ein abgeschlagener Kopf produzierte gleich zwei neue. Durch Einsicht hast du weitere Süchte vermieden, hast drei Jahre gelebt wie ein Epikuräer, das Maximum dessen gesoffen und gegessen, was deiner Gesundheit nicht abträglich war und um die lustvollen Gelage möglichst oft genießen zu können. Im Hinblick auf deine sozialen und familiären Belange maßvoll und überlegt angewandt zielten sie auf einen steten Lustgewinn.

Da stehst du nun am Grabe deines jung verstorbenen Kumpels, den der übertriebene regelmäßige Alkoholkonsum zum Verhängnis wurde. Er war noch auf der Suche nach seinem Glück. Ist er in Bezug auf Erreichen der Glückseligkeit nicht alt genug geworden? Nein, du glaubst in jedem Alter, zu jeder Zeit, strebt man nach Glück und es erwischt einen zuweilen. Aber ist nicht das Streben nach Glück das eigentliche Glück, denn hast du den vermeintlichen Glückszustand erreicht, stellt sich oft keine Erfüllung ein, sondern eher eine Umkehrung. Dein Nachbar hat sich ein Haus aufgebaut. Er involvierte sich mit Hingabe im aktiven Schöpfungsvorgang des Bauens. Nach der Fertigstellung war er stolz und passiv. Aus diesem Mangel heraus entstanden alsbald neue Entwürfe zum Bau eines luxuriösen Gartenpavillions. Aktiv bis zum Lebensende, immer präsent sein, ist sicher die beste Alltagsphilosophie. (Aber wohin mit den vielen Gartenpavillions? ;-)))

In der Mittagspause setzt deine noch neue Kollegin Edith sich zu dir. Erotisierend, die Bebrillte in ihrem Minirock; allerdings für Mutti mit Sicherheit zu dürr und nur eingeschränkt tauglich zum Kinderkriegen. Du erklärst Edith, was Solipsismus bedeutet. Sie antwortet: „Andere sagen aber etwas anderes“. Edith hat Germanistik studiert und weiß auch, dass die kommunizierende Sprache nicht nur Mitteilung ist, sondern auch immer gleichzeitig einen Bezugsaspekt enthält. Für mich klingt aus Ediths Satz etwas unangenehmes über mich heraus, etwa, „was du schon sagst als Nichtphilosoph“. Wenn man auf sein Gegenüber eingeht, sollte man nie Man-sätze oder Allgemeinplätze sonder Ich-bezeugungen verwenden. Du bist aber wohlwollend und wertest die Formulierung Ediths als Desinteresse, siehst dich aber vor und prüfst Edith weiterhin. Du schneidest mehr zwischenmenschliche oder politische Themen an.

Sie ist begeistert von dem Filmspot aus dem Fernsehen, der die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland aufs Korn nimmt. Es wird ein Gemüsestand mit vielen Kisten voll diverser Obst- und Gemüsesorten gezeigt, die im Ausland gezogenen werden; Kiste um Kiste wird mit Trick weggebiemt und am Ende bleibt nur noch eine Kiste halbvertrockneter Kartoffeln aus deutschen Landen übrig. Dem Zuschauer soll suggeriert werden, gäbe es keine Ausländer, hätten wir keine Auswahl an Früchten. Für mich ist nichts an dem Film schlüssig. Aus den ausländerfeindlichen Lagern tönt es doch lauthals, dass sie im Grunde nichts gegen Ausländer haben, nur sie wünschen keine im Inland. Genau das muss der Spot auch wünschen, denn man müsste schon die von ihm gemeinten Ausländer, die hier unserem Sozialstaat auf der Tasche liegen, wollte man seiner Logik folgen, aus unserem Land in ihre Heimat verweisen, aus denen die Südfrüchte stammen, von denen sie dann Massen anbauen könnten, um uns zu verwöhnen. Zum anderen, wenn wir nur noch Kartoffeln als Gemüse hätten, ließe ein enormer Andrang bei der Nachfrage sicher nicht zu, dass auch nur eine Kartoffel welk wird. Der gewollt ausländerfreundliche Spot ist in sein Gegenteil gekehrt, unbrauchbar, verwirrt die, welche er bekehren könnte, denn die Unverbesserlichen sehen und hören sowieso nicht hin. Warum denkt Edith noch darüber nach, ob deine Kritik berechtigt ist?

Du kommst schließlich am Feierabend nach hause. Ein Brief statt des Hundes empfängt dich, liegt auf der Ablage der Flurgarderobe. Mama ist zu ihrem langjährigen Verehrer umgezogen, und den Hund, der dir so ans Herz gewachsen ist, hat sie einfach mitgenommen. Nur etwas Lebendiges ist dir geblieben - eine aggressive Stubenfliege und nicht zu vergessen, dein frisch abgerungenes Plus, die aktualisierten Lebensansichten. Dann an der Haustür klingelt es - ein Hausierer. Du beschließt, ein selbstentworfenes Schild zur Abschreckung anzubringen: Lieber Klinkenputzer!... so könnte deine Todesanzeige aussehen; Text: Er wollte Geld, doch er bekam gehörig auf die Fresse. Beileid etc.

Anschließend suchst du Entspannung bei dem Videofilm „Lassies Wiederkehr“ mit Liz Taylor. Obwohl du ihn zum zehnten mal siehst, brichst du erneut in Tränen der Rührung aus, diesmal noch verstärkt mit dem Gedanken an deinen entführten Hund. Dir ist doch bewusst, das alles nur gespielt ist. Doch die Gefühle scheinen dem kritischen Bewusstsein vorgeschaltet zu sein ebenso wie zum Beispiel gewisse kognitive Fähigkeiten, so dein zahlengebundenes Augenmaß, denn ½ mal ½ erscheint dir auf den ersten Blick auch mehr zu sein als sein tatsächliches Ergebnis von 1/4. Von dir befragte Menschen ging es durchwegs genauso.

Du legst dich endlich ins Bett, kannst deinen rechten Arm in das leere Bett deiner entfleuchten Mama ausstrecken, lässt den Tag vorm Einschlafen noch mal Revue passieren und stellst am Ende die nüchterne Bilanz: keine Verluste zu verbuchen, außer dem devoten Dackel-Pudel-Mischling. Dann mitten in der Nacht aber wirst du durch ein Kratzgeräusch an der Schlafzimmertür geweckt. Der Hund begehrt Einlass. Deine Mutti liegt nackt auf der Couch im Wohnraum und schläft fest. Auf dem Tisch stehen zwei leere Flaschen Grappa. Rundherum liegen die Dessous verstreut, die ihr Verehrer so gerne gemocht hatte. Den nächsten Morgen weckt dich Mama in biederer Unterwäsche im Landhausstyle gekleidet.

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so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 05.11.2011, 11:41

Komplett überladen ist mein erster Eindruck.
Gruß
H

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Eule
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Beitragvon Eule » 06.11.2011, 01:59

Hallo Kurt, ein ironischer Text, der schon einige Klischees bedient: Egomanische Mutter und drogensüchtiges Muttersöhnchen auf Selbstverwirklichungssuche. Irgendwie klassisch, aber doch mit aktuellen Zeitschnipseln (Wirtschaftskritik, Alltags-Absurdität und Slapstick) versehen, wird hier (wieder einmal ?) mit viel Selbstironie, Fatalismus, aber nicht ohne Humor ein Ausschnitt aus einer alltäglichen Wahnsinnwelt hinter den schönen Fassaden erzählt.
Ein Klang zum Sprachspiel.

Kojote

Beitragvon Kojote » 17.11.2011, 00:02

gut gewählter erzählton. büro und toter freund (durch alkohol, komm hör auf) sind allerdings eher unnötig. ansonsten ja, der erzählton hat was. ich würde weiterlesen wollen


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