Tagauf (Variante II)

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Kurt
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Beitragvon Kurt » 18.04.2012, 20:43

Tagauf (Endversion)

Nach unruhigem Schlaf zieht’s mich hinaus auf die Gartenterrasse, an das stehengebliebene Nachmittags-Gedeck. Im Restlicht einer morgendlichen Mondsichel stochere ich im Teeblättersatz meines Porzellans. Vor der unpassierbaren Krümmung streicht die Geige mir geflutete Leidenschaft zum Entlauben, auf der Suche nach verloren geglaubten Träumen. Blätter trudeln im Würfelspiel. Im Großhirnnebel strudelt dunkle Materie; stumm ihr Schrei über kiesgrauer Flora.

Durch des Schlafes Finstermeer segle ich. Auf Trauminseln wandelnd, im verstrahlten Bikiniatoll, spüre ich gebärende Frauen auf mit Kindern wie Geschwüre, begegne ich meinem Vater, den Chirurgen, als er mich gerade operiert, nahe den Langerhansschen Inseln*, an einem Inselkarzinom; Bewusstseinsfetzen aus latenter Parallelwelt - erwische mich dabei, wie ich hinter einer Mauer verschanzt auf ein Gesäß starre, polliere, halte mich bedeckt mit einem Blatt auf dem Kopf; der Geliebte der Beäugten schlägt mit einem Ast darauf, das Blatt wendet sich, entblößt mich beim Abgang.

Ich hebe meinen Blick aus der Versenkung. Durch hohe Wipfel entblättert sich die Wahrheit. Brombeergebläut, aus heiterem Himmel, erwächst die Skyline der nahen City, während in meinem Garten die Bühnenlampe der Sonne Gespenster zu Blüten verkehrt, das hoffnungsvolle Glimmen vom Vorabend in einen fetten Glühwurm taucht, am Aug vorbei die Nachhut des Nachtkäfers, Flügel im gepressten Raum, vorm Tag auf und davon, gefangen ist die Spinne im Netz ihrer Gene, die Aura meiner Gedanken bricht sich am Licht.

*Die „Langerhansschen Inseln“ sind Zellagglomerate in der Bauchspeicheldrüse.
Zuletzt geändert von Kurt am 10.10.2012, 20:15, insgesamt 6-mal geändert.
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Eule
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Beitragvon Eule » 31.05.2012, 20:54

Hallo Kurt, am Anfang dieses Textes gefällt mir der direkte, aber bildreiche Ausdruck. Je tiefer die Gefühle präsentiert werden, umso mehr driftet dieser aber in Larmoyanz, Andeutungen und Schlüpfrigkeiten. Deshalb war bei mir weitgehend mindestens Flaute beim Lesen.
Ein Klang zum Sprachspiel.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 31.05.2012, 22:19

Lieber Eule, das kann ich nachvollziehen. Dieser Text ist mehr für mich selbst bestimmt wie ein Bild, das man malt und sich an die Wand hängt. (Die Texte mit Focus, mit Spannungsaufbau, Pointe usw., von denen hat der Autor ja selber wenig, da er nicht gleichzeitig Leser sein kann.) Vielleicht male ich mir noch eine Skyline über den Text mit Sonnenaufgang, Friedhofssymbolik oder so und mache mir ein Poster draus für die Eigenverwendung.

LG Kurt
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