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2. Kapitel (Anfang)

Verfasst: 07.05.2006, 17:10
von maria
2. KAPITEL

„Als ich noch zur Oberknacker Unterschule ging,
da war ich schon mit dreizehn ein ganz verliebtes Ding.
Ein Schüler vom Gymnasium, der brachte mich nach Haus,
der brachte mich nach Haus,
und schenkte meiner Mutter den schönsten Blumenstrauß.
Oh sehet, oh sehet der Mond geht auf.
Er scheint über Vosskötters Haus ...“

Weiter kam Hilde „die Wilde“ Zahn nicht mit ihrem Lied. Marianne Vosskötter stürzte sich mit einem spitzen Schrei auf sie und tat, als wolle sie die Klassenkameradin würgen.
„Sei still, ich rat´s dir im Guten!“ gackerte sie und sah sich unauffällig auf dem Hof der Volksschule um. Rechts und links neben dem hohen Gittertor standen zwei riesige Kastanienbäume, jetzt kahl, aber im Frühjahr ein Meer aus rosa und weißen Kerzen. Hier, in größtmöglichem Abstand zu den älteren Schülerinnen, spielten die bezopften Kleinen Hüpfkästchen und Fangen und aßen dabei ihre Pausenbrote. Durch den kleinen Tumult aufmerksam geworden, standen sie plötzlich still und sahen kauend zu den älteren Schülerinnen, die auf den viel zu kalten Stufen der Eingangstreppe saßen oder lässig am Geländer lehnten. Hanne entging nicht das zufriedene Aufblitzen in Mariannes hellgrünen Augen, als diese bemerkte, dass zahlreiche Schülerinnen die Szene mit Neugier verfolgten.
Das Verkuppelungslied war ein beliebtes Mittel unter den Mädchen, um bei ihren Mitschülerinnen hysterische Schreianfälle auszulösen. Natürlich zeigte das Lied nur dann die erwünschte Wirkung, wenn das besungene Mädchen tatsächlich in irgendeiner Form verbandelt war.
Marianne Vosskötter war ein dankbares Opfer. Sie war offenbar ständig liiert, verliebt oder begehrt. Durch ihre übertriebene Empörung schürte sie diesen Eindruck - wer sich so aufführte, musste ja etwas zu verbergen haben! Mariannes Lächeln war wissend. Ihr Hüftschwung nachahmenswert. Sie war zum Verrücktwerden schön. Zur Zeit „ging“ sie angeblich mit Günther Pack, einem Gymnasiasten.
Während Marianne sich mit „Hach!“ und „Also!“ den Fragen der Sensationshungrigen erwehrte, zog Hilde ihre Freundin Hanne mit sich.

„Die hätten wir beschäftigt“, grinste Hilde. „Neugierige Pute. Hoffentlich kommt sie nicht gleich wieder angewackelt.“
Die beiden hockten vor dem tief gelegenen Kellereingang an der Rückseite der Schule. Das war zwar verboten, aber es war der einzige Ort auf dem Schulhof, wo man einigermaßen ungestört war.
„Willste eine?“ fragte Hilde und hielt Hanne ein Zigarillo unter die Nase.
„Wieder geklaut?“
„Was heißt geklaut? Stibitzt! Merkt mein Alter echt nicht.“
„Und wenn doch?“
„ Ja oder nein jetzt?“
„Nee. Ich find´s ekelig. Schmeckt wie´n Autofurz.“ Hanne kicherte.
Hilde schob das abgelehnte Zigarillo zurück in ihre Manteltasche, das andere zündete sie mit einem Streichholz an und vertiefte sich eine Weile in das Rauchen. Hanne paffte ihre Luftzigarette, die sie gekonnt zwischen Zeigefinger und Ringfinger balancierte. Sie sah den Nebelschwaden nach, die ihr Atem in die kalte Luft hauchte. Er vermischte sich mit dem Rauch von Hildes Zigarillo.

Hildes Vater besaß das Tabakgeschäft im Ort. Die Möglichkeit, daß er den Diebstahl bemerkte war tatsächlich gering.
Hanne erfüllte jeder Regelbruch mit Skrupel.
Hilde hatte sich im Laufe der Zeit durch sämtliche Tabakwaren gequalmt und war schließlich bei den Zigarillos geblieben. Die sagten ihr in Geschmack und Eleganz am meisten zu. Hilde war das einzige Mädchen, das Hanne kannte, welches bereits mit elf Jahren zu rauchen begonnen hatte.

Als Hilde anfing, die Ware des väterlichen Geschäfts durchzuprobieren, hatte Hanne sich zuweilen zum Mitrauchen überreden lassen. Einmal zauberte Hilde zwei Pfeifen aus ihrer Tasche hervor.
„Schmecken tut´s nicht besonders ...“ warnte sie Hanne.
Die beiden saßen in ihrem Kellereingang und zogen an ihren Pfeifen und führten ein albernes Urgroßvätergespräch.
„Ach ja, damals im Kartoffelkrieg ...“ krächzte Hanne und lachte sich in einen Hustenanfall.
Doch langsam hatte sich die Übelkeit breitgemacht.
Unglücklicherweise hatte Herr Pack, der Hausmeister der Schule, sie entdeckt, zuerst seinen Augen nicht getraut, dann mit Verweisen gedroht. Hanne hatte sich im hohen Bogen übergeben, aber schließlich konnte Hilde Schlimmeres verhindern, indem sie Herrn Pack eine regelmäßige Lieferung seiner Zigarettenmarke anbot. Seitdem ließ er die Mädchen in Frieden, gesellte sich manchmal sogar zu ihnen. So waren sie zu ihrem Versteck gekommen.
Hilde konnte jede Front erweichen.

„Marianne ist doof wie Bohnenstroh.“ bemerkte Hilde. „Die kapiert gar nicht, wenn man sie verarscht!“
„Merke ich aber auch nie ...“ wandte Hanne ein. Hildes flinken Gedankensprüngen hinkte sie immer kilometerweit hinterher.
„Ja, aber du bist ein unschuldiges Seelchen, naiv irgendwie - Marianne hingegen ist bekloppt!“
„Ich bin nicht naiv!“ fauchte Hanne beleidigt. Sie hasste Hildes Analysen.
„Wer mit dreizehn noch mit Puppen spielt, ist wohl naiv!“ gab Hilde zurück. Ein gern ausgespielter Trumpf.
„Einmal!“ rief Hanne aufgebracht. „Einmal. Ein einziges Mal war das ...“
„Jetzt echauffier dich doch nicht so!“ näselte Hilde (dazu presste sie die Zeigefinger gegen ihre Nasenflügel) und Hanne schwieg verlegen.
Hilde erinnerte sie regelmäßig daran, daß sie sie einmal beim Stricken eines Puppenschals erwischt hatte. Hanne spielte nicht mehr wirklich mit ihren Puppen. Sie frisierte sie manchmal und kleidete sie den Jahreszeiten entsprechend an. Die Vorstellung, daß die Puppen im Winter in ihren dünnen Baumwollkleidchen dasaßen, gefiel ihr nicht. Sie konnte in den Spielgefährten ihrer Kindheit keine toten Gegenstände sehen und liebte sie nach wie vor - heimlich jetzt. Hanne ging das alles zu schnell. Gerade noch hatten die Mädchen gemeinsam ihre Puppen herumgetragen, hatten, wie die Kleinen nun, Hüpfkästchen gespielt und Seilchen gesprungen. Und fast über Nacht ging es jetzt nur noch um die Jungs, denen sie am Tag zuvor noch die Zunge herausgestreckt hatten - und um den elenden Tanzkurs. Auf dem Schulhof schaute Hanne oft sehnsüchtig zu den hüpfenden Erstklässlerinnen - aber ihr Platz war jetzt auf der Treppe am Eingang.

„Mariannes Hintern ist breit.“
„Hanne! Das aus deinem Munde!“ Hilde gluckste und setzte hinzu:„Außerdem pfeift es aus ihrer Zahnlücke!“
Die Freundinnen quietschten los und steigerten sich in einen endlosen Lachanfall.
Als sie sich beruhigt hatten, stellte Hanne fest: „Ist dir schon mal aufgefallen, daß wir Marianne zwar dämlich finden, aber andauernd von ihr sprechen?“
„Jaaa.“ gestand Hilde. „Ich glaube wir sind ...“ sie zog eine würgende Grimasse und platze dann heraus: „ ... neidisch!“
„Mmh.“ Diese Tatsache gefiel Hanne nicht besonders. „Aber worauf?“
Hilde sah Hanne mit zusammengekniffenen Augen an: „Stellst du mir diese Frage ernsthaft? Guck uns doch an! Und sie! Breiter Hintern hin oder her. Scheiß was auf die Zahnlücke. Marianne Fotzkötter ist das begehrteste Weib weit und breit!“
„Also, du bist echt widerlich.“ Hanne schoß die Röte ins Gesicht. Sie sah betreten zur Seite. Sie fühlte sich durch solche Kraftausdrücke seltsam beschmutzt, brachte sie selbst niemals über die Lippen. Trotzdem wuchsen sie in ihrem Kopf zu riesenhafter Größe an und sprengten ihn fast. Unwillkürlich preßte sie die Beine zusammen. Als sie ihre Reaktion bemerkte, umschloß sie die angewinkelten Beine mit den Armen und legte ihren Kopf auf die Knie. Sie starrte auf das Mauerwerk des Kellereingangs. Roter Backstein. Winzige Moospolster in den Fugen leuchteten hellgrün und überraschten die Augen im grauen November.
Nach einer schweigenden Weile stieß Hilde sie an. „Bittu setzt nit mehr meine Freundin?“
Hanne´s finstere Miene wich ungewollt einem Grinsen. „Du bist so doof!“
„Walum?“
Hanne hob den Kopf und blickte in Hildes fragenden Augen. Hinter der schalkhaften Albernheit erkannte sie die Unsicherheit darin. „Dalum!“

„Weißt du schon, ob der Krause dich nimmt?“ fragte Hilde.
„Ja. Ich war gestern noch mal da. Hat mir fest zugesagt. Der hat zwar noch einen Lehrling, aber der wird wohl fliegen. Hat was aus der Kasse mitgehen lassen.“ antwortete Hanne gleichgültig und kaute an ihrer Lippe.
„Haste deinen Vater mal gefragt ...?“ wagte Hilde.
„Ach, das bringt doch nichts.“ seufzte Hanne.
„Mehr als nein sagen kann er nicht, oder?“ bohrte Hilde weiter.
„Er sagt ohnehin nein. Das ist so sicher wie ...“
„Aber du könntest das ganz sicher schaffen - bei deinen Noten!“ unterbracht Hilde sie.
„Schule bringt aber kein Geld. Da liege ich ihm noch einige Jahre auf der Tasche. Es gibt ja auch nichts auszusetzen am Brotverkaufen. Der Krause ist doch ganz nett.“
„Ach, verflixt!“ Hilde schnippte den Zigarillostummel weg. „Du bist feige.“
„Warum regst du dich so auf? Ist doch meine Sache. Außerdem: Keine aus der Klasse geht zum Gymnasium und ausgerechnet ich ...“
„Ja, weil die alle nur die Zeit überbrücken wollen zwischen Schule und dem Hafen der Ehe. Was glaubst du, warum die Pissnelke Marianne so mit dem Arsch wackelt ...“
„Mensch Hilde!“
„Ja, ja - aber ist doch so! Die will nur ´nen Kerl zum heiraten. Alle!“
„Du auch?“
„Ich? Bin ich alle?“ fragte Hilde und zog arrogant eine Augenbraue hoch - ein Kunststück, um das Hanne die Freundin stark beneidete, und das sie vor dem Spiegel am Schlafzimmerschrank der Eltern stets vergeblich nachzuahmen versuchte.
„Nee!“ Hanne seufzte. „Zum Glück nicht.“

Hildes Mutter war gestorben als Hilde fünf Jahre alt war. Ihre Kindheit hatte sie im Geschäft des Vaters verbracht, das sich direkt unter der Wohnung im ersten Stock befand. Der Vater hatte nicht wieder geheiratet. Neben Tabakwaren, verkaufte er auch Zeitschriften, Süßigkeiten und alkoholische Getränke. „Bei Zahn´s Hermann“ war eine feste Institution im Dorf. Hier traf sich nach Feierabend die Männlichkeit der Gemeinde und nahm ihre hochprozentige Tagesration zu sich oder man kaufte die Flasche „Klaren“ und trank daheim. Es gab keinen Ort, der von den Ehefrauen häufiger verflucht wurde als „Tabakhaus Zahn“. Auch Hannes Vater Karl gehörte zu den Stammgästen. Sein Heimweg führte ihn zwangsläufig dort vorbei - nur drei Häuser trennten das Eckhaus, dessen Eingang zur Hauptstrasse zeigte, von dem der Heinrichs in der Bruchgasse.

Hilde war aufgewachsen in einer Atmosphäre aus Tabakqualm, Alkoholausdünstungen, dem Arbeitsschweiß der Männer aus der Zementfabrik und Gesprächen, die nach Meinung der Besorgten, entschieden nicht für Kinderohren geeignet waren. Wahrscheinlich waren sie das tatsächlich nicht. Verschiedene Versuche seitens des Pfarrers und der Lehrerinnen, Hilde aus diesem schädlichen Milieu herauszuholen, blieben allerdings fruchtlos, ja, sie schweißten Hilde nur noch enger an ihren Vater und den Tabakladen, deren Luft Hilde zum Leben brauchte. Jedem fletschte sie die Zähne, der sie mit süßen Versprechungen oder grau-schwarzen Zukunftsbildern aus ihrem Zuhause reißen wollte, denn das war der Laden für sie.

Nachdem ihre Mutter sie verlassen hatte, ohne Vorwarnung und Abschied - durch den tragischen Zufall, der sie im selben Augenblick die Bruchgasse überqueren ließ, als der rasende VW-Käfer des Doktor Edelkötter um die Kurve vor dem Tabakladen bog, sie überrollte und augenblicklich tötete - war Hilde vor die Wahl gestellt: entweder in der rauhbeinigen, verrauchten Umgebung des Tabakladens, in den sie der Vater nun täglich mitnahm, einzugehen - oder den Umständen zu trotzen.
Sie benötigte noch einen Hocker, um über den Verkaufstresen blicken zu können, da hatte sie sich bereits soviel Respekt unter der Kundschaft verschafft, daß niemand mehr den Versuch machte, sie mit dem Wechselgeld zu betrügen, wenn der Vater einmal abwesend war. Zu zählen hatte Hilde früh gelernt.

Die Schulglocke läutete.
Die beiden warteten, bis die übrigen Schülerinnen in Richtung Eingangstür verschwunden waren - die Erstklässler aus Angst vor Verspätung im Laufschritt, die Schülerinnen der Abschlußklasse im gelangweilten Schlendergang - dann tauchten Hanne und Hilde aus ihrem Versteck empor und ließen ihre Blicke routinemäßig über den leergefegten Schulhof kreisen.
Sie liefen und erreichten den Eingang, als Marianne mit ihrem „Hofstaat“ als die letzten aus ihrer Klasse gerade das Schulgebäude betraten.

„Mein Gott, Hilde. Du stinkst!“ Marianne rümpfte die Nase. „Habt ihr wieder geraucht?“
„Genau. Wußtest du eigentlich, dass Rauchen der reinste Jungbrunnen ist - es konserviert.“
„Oje! Hanne, bring sie davon ab!“ erwiderte Marianne und schlug erschrocken die Hände vor ihr Gesicht. „Wenn sie in dem Zustand konserviert wird? Mein Gott!“ Der Hofstaat kicherte.
„Witz!“ schnaubte Hanne.
„Heute schon ein Gläschen gekippt, Hilde?“
Marianne war die Tochter des Kurzwarenhändlers und der frommen Anna, die mit ihren katholischen Knien im Laufe der Jahre eine gut sichtbare Mulde in ihre angestammte Kniebank in der Pfarrkirche gearbeitet hatte. Sie selbst besaß wenig von der frommen Neigung der Mutter, zeigte aber die Prägung der elterlichen Bürgersmeinung, wie ein Sessel den Abdruck des Hinterns, der sich täglich auf ihm niederläßt.
Hanne kochte, aber Hilde half sich lieber allein.

„Halt die Klappe, Marianne, sonst verklickere ich deinem Herzensgünthi, mit wem ich dich gestern hinter Kothens Scheune gesehen hab´.“ Hildes Augenbraue zuckte nach oben.
„Waaas? Das ist doch gar nicht wahr!“
Hilde grinste: „Und? Vielleicht glaubt er´s trotzdem. Soll ich´s versuchen?“
„Du bist echt das Letzte!“ fauchte Marianne, gab sich aber geschlagen und betrat vor ihrem Hofstaat den Klassenraum.
Hanne und Hilde folgten.
„Sie ist und bleibt eine Harunze!“ flüsterte Hanne in Hildes Ohr, ganz nah, damit ihre Nasenspitze Hildes flaumiges blondes Schläfenhaar berührte. Sie liebte Hildes Siegeszüge, kam sich dann selbst so verwegen vor.

Verfasst: 13.09.2017, 21:58
von Eule
Hallo maria, auch diesen Text halte ich für gut zum nochmal lesen. Viele Grüsse.