Der Engel
Verfasst: 24.11.2012, 18:49
Der Engel
Er starb also nicht; am Nachmittag des vierundzwanzigsten wurde ihm das klar, sogar, dass er nicht einmal im Sterben lag. Nach der ersten Enttäuschung klingelte er der Schwester und entschuldigte sich, er hatte sich seit einiger Zeit eine Art Stöhnen beim Ausatmen durchgehen lassen. Es reute ihn sofort, es klang schief, pathetisch und immerhin hatte das Geächze ein Einzelzimmer eingebracht. Die Schwester, sehr erfreut, bot sich an, ihm die Haare zu waschen.
Die Idee mit dem Sterben war überzeugend gewesen, er war 78 und hatte mittlerweile eine hübsche Sammlung an Krebsen, sogar im Hirn wuchsen sie, die Ausgangssorte blieb im Verborgenen. Er bekam Infusionen, gelegentlich, nach bedächtigem Studium der Laborwerte spendierte ein leicht verfetteter Pimpf von Arzt eine Blutkonserve. Der Kerl war kaum 30, blond, aber seine Gestik dabei war die eines alten Mannes, so wie in Kindertagen Kleinerts Vater nach gutem Zeugnis ins Restaurant zu Sauerkraut und Würstchen geladen hatte, leere Überheblichkeit.
Während des Waschens seiner weißen Mähne beschwatzte die Schwester ihn, sich zur Weihnachtsfeier in den Saal fahren zu lassen. Er verpasste den Augenblick für den Widerspruch, da stülpte sie ihm schon das Hemd über, die Kuh, das falsche nämlich, das für den anderen Zweck, er hatte es extra im Schrank nach hinten gelegt. Es fühlte sich an wie eine Verkleidung, Rüschen statt Manschetten, die Knochen drückten sich im glattgebügelten Stoff ab. Ein Rad des für seine Größe zu kurzen Bettes eierte, die Infusion schaukelte und wackelte über ihm wie ein Mast im Sturm durch den Flur. Nun denn, er kannte das, sein Körper war immer schon zu groß, zu eckig gewesen; ein sprödes Stück Treibholz, er hatte ihn nie gemocht.
Bei der Feier sang ein kleiner Chor aus Mitarbeitern - die Klinik war anthroposophisch -, ein Arzt hielt eine Ansprache, die dem Verstehen mühelos entglitt. Danach wurde die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Jeder bekam ein Geschenk, Herr Kleinert eine Bienenwachskerze und ein struppiges, vertrocknetes Knäuel, das sie Rose von Jericho nannten, mit irgendeinem mystischen Zauber behaftet, er hörte nicht zu. Zum Abschluss spielte jemand dünne, selbstkomponierte Musik auf einer Leier.
Zurück im Zimmer war noch ein Warten abzuhalten, das letzte des Tages, auf die Nachtschwester. Er war ungehalten, enttäuscht, obwohl alles wie erwartet gelaufen war. Nichts ging nach der Ordnung, auch seine Krankheit nicht, es passte nicht. Er war auf zuerst wenige, dann immer stärkere Schmerzen eingestellt gewesen, schließlich viel Bewusstlosigkeit, Morphium satt, der Tod sollte nur noch einen zugedröhnten Jammerlappen vorfinden. In Wirklichkeit wurden die Schmerzphasen nicht stärker, er gewöhnte sich, wenn sie weg waren, blieb keinerlei Erinnerung an sie. Sein Bewusstsein war klarer als je zuvor, das tat gut, nur gab es nichts, worüber sich nachzudenken lohnte.
Vom Abendessen hatte er Bauchschmerzen bekommen.Die Nachtschwester brachte Kümmeltee, holte kommentarlos das Rose-Knäuel aus dem Mülleimer, legte es in eine Wasserschale und plauderte über das Fest - sie hatte mitgesungen - während sie die Infusion wechselte und seinen Rücken versorgte. Als sie weg war, blies er die Kerze aus und entsorgte sie, verfehlte diesmal aber den Mülleimer.
Nach einem Augenblick zeichneten sich die Umrisse des leeren Nachbarbettes im Zimmer ab. Er rätselte etwas, was diese Nacht anders war: die Schwester hatte vergessen, die Vorhänge zu schließen. Er konnte über Bäumen ein kleines Stück Himmel mit Sternen sehen. Knapp außerhalb musste der Mond stehen, es war bis auf die dunkle Ecke mit dem Waschbecken alles in Umrissen sichtbar, auf dem Bild an der Wand gegenüber, einem Kunstdruck mit geschnitztem Holzrahmen, konnte man als Schatten den Erzengel Gabriel ahnen, der knienden Maria eine Lilie überreichend.
Das fromme Bild hatte dem Pfarrer zehn von den fünfzehn Sekunden versüßt, die er im Zimmer verblieben war, bevor Kleinert ihn hinauswarf, jetzt freute sich die katholische Verwandtschaft seiner Frau daran. Morgen war Ilse dran, die älteste Schwester, sie versorgten ihn reihum mit Besuchen und Rotkäppchen-Saft; ein Dienst in strenger Reihe, wahrscheinlich abgewechselt mit dem Blumengießen am Grab seiner Frau. Nun, das würde zweifelsfrei bald in einem Aufwasch gehen. Ilse hatte ihm beim letzten Besuch ein Foto mitgebracht, es stand jetzt auf dem Nachtisch, seine Frau, in silbernem Rahmen, jung, sie trug den dunkelgrünen Rock, in dem er ihr zuerst begegnet war, einen Lodenrock.
Sie trug fast immer solche Röcke, an dem Hochsommertag im Urlaub auch, als alles auf der Kippe stand und sie gewandert waren, querfeldein über Wiesen, hoch in den Bergen, unter sich die Hütte am Waldrand. Dort oben hatte er aufgesteckt, sein Trennungsversuch war gescheitert, er hatte es verbockt. Sie saßen da, von der Sonne ausgelacht und vom güllehaltigen Wind aus dem Tal umblasen. Seine Frau trug die weiße Bluse, ihr Haar war hochgesteckt, wie immer den grünen Rock, sie lachte, klar, sie war zufrieden. Er saß, angeklebt, vor sich die weit aufragenden Berggipfel, die steil ansteigende Wiese, seine Frau lächelte versunken vor sich hin, sie trug den grünen Rock, nur war das Grün eine Oktave tiefer, dunkler als sonst, wie durch eine Sonnenbrille. Herr Kleinert drehte sich und sah gerade über ihnen ein seltsam kleines, runzliges Männchen in der Hocke sitzen, höhnisch grinsend, schadenfroh. Das Gesicht des Engels erkannte er sofort, wunderte sich aber über die zerschlissene Lodenjacke. „Also haben die auch mal Urlaub, wo sie nicht nett sein müssen“, dachte er. Er war nicht einer, der zuschlug, er wollte ihn mit Worten rügen, es fiel ihm nur ein "Die Joppe gehört zum Lumpensammler."
Unten in der Holzhütte vor dem leise, gebändigt flackernden Feuer wollte er seiner Frau von dem Kerlchen erzählen, doch er hatte etwas verwechselt, jemand anders saß bei ihr, er beobachtete die Szene von draußen, durchs Fenster und es war gar nicht Sommer, die Hütte lag in einiger Ferne, schäbig, verfallen, mit dem rötlichen Licht des Feuers im winzigen Fenster, es lag Schnee, durchquert von einer schräg die Fläche durchquerenden Schneise, die Herr Kleinert dann als die Fußstange des Nachbarbettes identifizierte, in deren Anblick versunken er sich, wieder erwacht, vorfand.
Es musste jetzt spät in der Nacht sein, in der Klinik war nichts zu hören, und seine Bauchschmerzen waren verschwunden. Er fühlte sich ungewöhnlich, fremd, übriggelassen, das Leben war abgelaufen, aber er war noch da, ein Scheit in der Asche, das vom Feuer nicht angenommen worden war. Er lag auf dem Rücken, blickte nach draußen. Ein ihm unbekanntes Sternbild mit klaren Linien war aufgezogen. Herr Kleinert empfand Ruhe, etwas Freude über die eigene Empfänglichkeit für diese Stimmung. Er wartete. Irgendetwas gehörte noch zu diesem Geschehen, eine Sternschnuppe vielleicht nur, ein Zeichen, ein Trost.
Aber kein Himmelsbote erschien, es blieb alles still, wurde allmählich dumpf, hohl, die Stimmung verflog. Ärger über seine romantische Anwandlung zog ein, ein Flämmchen zunächst, etwas blies an, es loderte auf. Er war ein alter, kranker Mann, sein Ärger suchte sich ein Objekt und hatte es bald gefunden, er war keine fromme, blühende Frau wie die Maria auf dem Gemälde, er hatte nichts vom Himmel zu erwarten. Das Bild war ihm von Anfang an ein Gräuel gewesen, er hätte sich wehren sollen, als die breitarschige Schwester es aufgehangen hatte, statt nur stumm darüber zu grübeln, warum wohl dieses Bild speziell für ihn. Einfach eigentlich, jetzt wurde ihm mit einem Schlag der Grund seines Widerwillens bewusst: er würde die Lilie des Engels nicht kniend mit gesenktem Haupt entgegennehmen, nein, aufrecht mit klarem, geradem Blick würde er sie empfangen, mit Stolz und heißem Herzen versprechen, sich dieser Ehre würdig erweisen zu wollen und lieber sterben, als sie verraten und entweihen. Das war doch die Art, die dem Menschen zukam, nicht diese brave, kraftlose Demut, nicht dieser scheu zu Boden gerichtete Blick. Mit pochendem Herzen und vor Aufregung aufrecht im Bett sitzend durchschoss ihn die Wucht der Erinnerung: es war nichts, nicht ein Hauch Böses in seinem Willen gewesen, dessen war er sich sicher, damals wie heute.
Er legte sich im Bett zurück. „Das ist vorbei.“ So war ihr altes Ritual gewesen. Seine Frau hatte es gesagt, und er geantwortet: „Ja, das ist vorbei.“ Sie hatten das für Ironie gehalten. Nie mehr in seinem Leben gab es einen Anlaß, ein guter Mensch werden zu wollen und es hatte auch damals keinen gegeben. Er war, wie er war, gut oder schlecht, wer wollte das wissen, das Leben ging auch so seinen Gang, es war genug, sie waren zu zweit.
Doch dieser Gedanke wollte nicht bleiben. In den Krieg hätte er auch so müssen, ob HJ-Führer oder nicht, aber wenn er seine Skepsis bewahrt hätte, wenn er sich nicht hätte hinreißen lassen, – dann wäre es nicht seine Niederlage geworden. Einmal eine Hand an eine Fahne gelegt, einmal geschworen, wie war das Wort, ein tüchtiger Mensch zu werden – einmal zuviel. Von diesem Schwur ging aus, dass sein Leben nun so vor ihm lag, wie es lag. Es ging vorbei, aber der Rest war wie ein Film in einem kaputten Fernseher, man möchte gegen das Gehäuse klopfen, irgendwie den Ton andrehen, doch die Bilder bleiben stumm.
Er wollte sich drehen im Bett, das ging nicht. Was hatte dieses ewige Warten noch für Sinn? Hatte es je Sinn gehabt? Immer blieb noch ein weiteres Warten übrig, das ganze Leben lang. Leben ist Warten auf den Tod. Er dachte an den Zinnober um die Weihefahne und musste lachen. Was hatten diese Pappnasen je mit seinem Schwur zu tun gehabt? Nichts. Sie waren ein kindlicher Irrtum, nicht mehr. Und trotzdem, ein Schwur war ein Schwur. Er war nicht vorbei, war nie vorbei gewesen. Ein Schwur war ein Schwur war ein Schwur, diese Konsequenz hatte die Hitler-Bagage ihm voraus, schon vor 60 Jahre, damit hatten sie ihn hineingelockt.
Hatte er je herausgefunden? Er war allein, immer schon allein. Es war wie mit den Sternen, jeder sieht aus, als hätte ers seinen Platz in einer Figur und ist in Wirklichkeit doch unendlich entfernt, es ist nur die falsche Perspektive des Menschen, Linien sehen zu wollen, wo keine sind. Er selbst hatte ihn gemacht, den Schwur, den Fehler. Nur, im Kern hatte sein Schwur nie mit diesen Leuten zu tun gehabt. Nie. Vielleicht war er der einzige ehrliche Augenblick in seinem Leben gewesen. Etwas kaltes fasste ihn an, es zog ihm den Boden weg. Vielleicht hatte er etwas öffentlich gemacht, was nur ihn selbst etwas anging? Er dachte zuerst, das sei zum Lachen und so lachte er in seinem Bett, doch das Lachen zerbröckelte bald, wie alles zerbröckelte, es blieb nichts, nur das Bild des Erzengels Gabriel, eine Lilie überreichend der knienden Maria.
Er starb also nicht; am Nachmittag des vierundzwanzigsten wurde ihm das klar, sogar, dass er nicht einmal im Sterben lag. Nach der ersten Enttäuschung klingelte er der Schwester und entschuldigte sich, er hatte sich seit einiger Zeit eine Art Stöhnen beim Ausatmen durchgehen lassen. Es reute ihn sofort, es klang schief, pathetisch und immerhin hatte das Geächze ein Einzelzimmer eingebracht. Die Schwester, sehr erfreut, bot sich an, ihm die Haare zu waschen.
Die Idee mit dem Sterben war überzeugend gewesen, er war 78 und hatte mittlerweile eine hübsche Sammlung an Krebsen, sogar im Hirn wuchsen sie, die Ausgangssorte blieb im Verborgenen. Er bekam Infusionen, gelegentlich, nach bedächtigem Studium der Laborwerte spendierte ein leicht verfetteter Pimpf von Arzt eine Blutkonserve. Der Kerl war kaum 30, blond, aber seine Gestik dabei war die eines alten Mannes, so wie in Kindertagen Kleinerts Vater nach gutem Zeugnis ins Restaurant zu Sauerkraut und Würstchen geladen hatte, leere Überheblichkeit.
Während des Waschens seiner weißen Mähne beschwatzte die Schwester ihn, sich zur Weihnachtsfeier in den Saal fahren zu lassen. Er verpasste den Augenblick für den Widerspruch, da stülpte sie ihm schon das Hemd über, die Kuh, das falsche nämlich, das für den anderen Zweck, er hatte es extra im Schrank nach hinten gelegt. Es fühlte sich an wie eine Verkleidung, Rüschen statt Manschetten, die Knochen drückten sich im glattgebügelten Stoff ab. Ein Rad des für seine Größe zu kurzen Bettes eierte, die Infusion schaukelte und wackelte über ihm wie ein Mast im Sturm durch den Flur. Nun denn, er kannte das, sein Körper war immer schon zu groß, zu eckig gewesen; ein sprödes Stück Treibholz, er hatte ihn nie gemocht.
Bei der Feier sang ein kleiner Chor aus Mitarbeitern - die Klinik war anthroposophisch -, ein Arzt hielt eine Ansprache, die dem Verstehen mühelos entglitt. Danach wurde die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Jeder bekam ein Geschenk, Herr Kleinert eine Bienenwachskerze und ein struppiges, vertrocknetes Knäuel, das sie Rose von Jericho nannten, mit irgendeinem mystischen Zauber behaftet, er hörte nicht zu. Zum Abschluss spielte jemand dünne, selbstkomponierte Musik auf einer Leier.
Zurück im Zimmer war noch ein Warten abzuhalten, das letzte des Tages, auf die Nachtschwester. Er war ungehalten, enttäuscht, obwohl alles wie erwartet gelaufen war. Nichts ging nach der Ordnung, auch seine Krankheit nicht, es passte nicht. Er war auf zuerst wenige, dann immer stärkere Schmerzen eingestellt gewesen, schließlich viel Bewusstlosigkeit, Morphium satt, der Tod sollte nur noch einen zugedröhnten Jammerlappen vorfinden. In Wirklichkeit wurden die Schmerzphasen nicht stärker, er gewöhnte sich, wenn sie weg waren, blieb keinerlei Erinnerung an sie. Sein Bewusstsein war klarer als je zuvor, das tat gut, nur gab es nichts, worüber sich nachzudenken lohnte.
Vom Abendessen hatte er Bauchschmerzen bekommen.Die Nachtschwester brachte Kümmeltee, holte kommentarlos das Rose-Knäuel aus dem Mülleimer, legte es in eine Wasserschale und plauderte über das Fest - sie hatte mitgesungen - während sie die Infusion wechselte und seinen Rücken versorgte. Als sie weg war, blies er die Kerze aus und entsorgte sie, verfehlte diesmal aber den Mülleimer.
Nach einem Augenblick zeichneten sich die Umrisse des leeren Nachbarbettes im Zimmer ab. Er rätselte etwas, was diese Nacht anders war: die Schwester hatte vergessen, die Vorhänge zu schließen. Er konnte über Bäumen ein kleines Stück Himmel mit Sternen sehen. Knapp außerhalb musste der Mond stehen, es war bis auf die dunkle Ecke mit dem Waschbecken alles in Umrissen sichtbar, auf dem Bild an der Wand gegenüber, einem Kunstdruck mit geschnitztem Holzrahmen, konnte man als Schatten den Erzengel Gabriel ahnen, der knienden Maria eine Lilie überreichend.
Das fromme Bild hatte dem Pfarrer zehn von den fünfzehn Sekunden versüßt, die er im Zimmer verblieben war, bevor Kleinert ihn hinauswarf, jetzt freute sich die katholische Verwandtschaft seiner Frau daran. Morgen war Ilse dran, die älteste Schwester, sie versorgten ihn reihum mit Besuchen und Rotkäppchen-Saft; ein Dienst in strenger Reihe, wahrscheinlich abgewechselt mit dem Blumengießen am Grab seiner Frau. Nun, das würde zweifelsfrei bald in einem Aufwasch gehen. Ilse hatte ihm beim letzten Besuch ein Foto mitgebracht, es stand jetzt auf dem Nachtisch, seine Frau, in silbernem Rahmen, jung, sie trug den dunkelgrünen Rock, in dem er ihr zuerst begegnet war, einen Lodenrock.
Sie trug fast immer solche Röcke, an dem Hochsommertag im Urlaub auch, als alles auf der Kippe stand und sie gewandert waren, querfeldein über Wiesen, hoch in den Bergen, unter sich die Hütte am Waldrand. Dort oben hatte er aufgesteckt, sein Trennungsversuch war gescheitert, er hatte es verbockt. Sie saßen da, von der Sonne ausgelacht und vom güllehaltigen Wind aus dem Tal umblasen. Seine Frau trug die weiße Bluse, ihr Haar war hochgesteckt, wie immer den grünen Rock, sie lachte, klar, sie war zufrieden. Er saß, angeklebt, vor sich die weit aufragenden Berggipfel, die steil ansteigende Wiese, seine Frau lächelte versunken vor sich hin, sie trug den grünen Rock, nur war das Grün eine Oktave tiefer, dunkler als sonst, wie durch eine Sonnenbrille. Herr Kleinert drehte sich und sah gerade über ihnen ein seltsam kleines, runzliges Männchen in der Hocke sitzen, höhnisch grinsend, schadenfroh. Das Gesicht des Engels erkannte er sofort, wunderte sich aber über die zerschlissene Lodenjacke. „Also haben die auch mal Urlaub, wo sie nicht nett sein müssen“, dachte er. Er war nicht einer, der zuschlug, er wollte ihn mit Worten rügen, es fiel ihm nur ein "Die Joppe gehört zum Lumpensammler."
Unten in der Holzhütte vor dem leise, gebändigt flackernden Feuer wollte er seiner Frau von dem Kerlchen erzählen, doch er hatte etwas verwechselt, jemand anders saß bei ihr, er beobachtete die Szene von draußen, durchs Fenster und es war gar nicht Sommer, die Hütte lag in einiger Ferne, schäbig, verfallen, mit dem rötlichen Licht des Feuers im winzigen Fenster, es lag Schnee, durchquert von einer schräg die Fläche durchquerenden Schneise, die Herr Kleinert dann als die Fußstange des Nachbarbettes identifizierte, in deren Anblick versunken er sich, wieder erwacht, vorfand.
Es musste jetzt spät in der Nacht sein, in der Klinik war nichts zu hören, und seine Bauchschmerzen waren verschwunden. Er fühlte sich ungewöhnlich, fremd, übriggelassen, das Leben war abgelaufen, aber er war noch da, ein Scheit in der Asche, das vom Feuer nicht angenommen worden war. Er lag auf dem Rücken, blickte nach draußen. Ein ihm unbekanntes Sternbild mit klaren Linien war aufgezogen. Herr Kleinert empfand Ruhe, etwas Freude über die eigene Empfänglichkeit für diese Stimmung. Er wartete. Irgendetwas gehörte noch zu diesem Geschehen, eine Sternschnuppe vielleicht nur, ein Zeichen, ein Trost.
Aber kein Himmelsbote erschien, es blieb alles still, wurde allmählich dumpf, hohl, die Stimmung verflog. Ärger über seine romantische Anwandlung zog ein, ein Flämmchen zunächst, etwas blies an, es loderte auf. Er war ein alter, kranker Mann, sein Ärger suchte sich ein Objekt und hatte es bald gefunden, er war keine fromme, blühende Frau wie die Maria auf dem Gemälde, er hatte nichts vom Himmel zu erwarten. Das Bild war ihm von Anfang an ein Gräuel gewesen, er hätte sich wehren sollen, als die breitarschige Schwester es aufgehangen hatte, statt nur stumm darüber zu grübeln, warum wohl dieses Bild speziell für ihn. Einfach eigentlich, jetzt wurde ihm mit einem Schlag der Grund seines Widerwillens bewusst: er würde die Lilie des Engels nicht kniend mit gesenktem Haupt entgegennehmen, nein, aufrecht mit klarem, geradem Blick würde er sie empfangen, mit Stolz und heißem Herzen versprechen, sich dieser Ehre würdig erweisen zu wollen und lieber sterben, als sie verraten und entweihen. Das war doch die Art, die dem Menschen zukam, nicht diese brave, kraftlose Demut, nicht dieser scheu zu Boden gerichtete Blick. Mit pochendem Herzen und vor Aufregung aufrecht im Bett sitzend durchschoss ihn die Wucht der Erinnerung: es war nichts, nicht ein Hauch Böses in seinem Willen gewesen, dessen war er sich sicher, damals wie heute.
Er legte sich im Bett zurück. „Das ist vorbei.“ So war ihr altes Ritual gewesen. Seine Frau hatte es gesagt, und er geantwortet: „Ja, das ist vorbei.“ Sie hatten das für Ironie gehalten. Nie mehr in seinem Leben gab es einen Anlaß, ein guter Mensch werden zu wollen und es hatte auch damals keinen gegeben. Er war, wie er war, gut oder schlecht, wer wollte das wissen, das Leben ging auch so seinen Gang, es war genug, sie waren zu zweit.
Doch dieser Gedanke wollte nicht bleiben. In den Krieg hätte er auch so müssen, ob HJ-Führer oder nicht, aber wenn er seine Skepsis bewahrt hätte, wenn er sich nicht hätte hinreißen lassen, – dann wäre es nicht seine Niederlage geworden. Einmal eine Hand an eine Fahne gelegt, einmal geschworen, wie war das Wort, ein tüchtiger Mensch zu werden – einmal zuviel. Von diesem Schwur ging aus, dass sein Leben nun so vor ihm lag, wie es lag. Es ging vorbei, aber der Rest war wie ein Film in einem kaputten Fernseher, man möchte gegen das Gehäuse klopfen, irgendwie den Ton andrehen, doch die Bilder bleiben stumm.
Er wollte sich drehen im Bett, das ging nicht. Was hatte dieses ewige Warten noch für Sinn? Hatte es je Sinn gehabt? Immer blieb noch ein weiteres Warten übrig, das ganze Leben lang. Leben ist Warten auf den Tod. Er dachte an den Zinnober um die Weihefahne und musste lachen. Was hatten diese Pappnasen je mit seinem Schwur zu tun gehabt? Nichts. Sie waren ein kindlicher Irrtum, nicht mehr. Und trotzdem, ein Schwur war ein Schwur. Er war nicht vorbei, war nie vorbei gewesen. Ein Schwur war ein Schwur war ein Schwur, diese Konsequenz hatte die Hitler-Bagage ihm voraus, schon vor 60 Jahre, damit hatten sie ihn hineingelockt.
Hatte er je herausgefunden? Er war allein, immer schon allein. Es war wie mit den Sternen, jeder sieht aus, als hätte ers seinen Platz in einer Figur und ist in Wirklichkeit doch unendlich entfernt, es ist nur die falsche Perspektive des Menschen, Linien sehen zu wollen, wo keine sind. Er selbst hatte ihn gemacht, den Schwur, den Fehler. Nur, im Kern hatte sein Schwur nie mit diesen Leuten zu tun gehabt. Nie. Vielleicht war er der einzige ehrliche Augenblick in seinem Leben gewesen. Etwas kaltes fasste ihn an, es zog ihm den Boden weg. Vielleicht hatte er etwas öffentlich gemacht, was nur ihn selbst etwas anging? Er dachte zuerst, das sei zum Lachen und so lachte er in seinem Bett, doch das Lachen zerbröckelte bald, wie alles zerbröckelte, es blieb nichts, nur das Bild des Erzengels Gabriel, eine Lilie überreichend der knienden Maria.