Wo die Seele baumelt
Verfasst: 23.03.2013, 08:53
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Wo die Seele baumelt
Gestern musste sie fallen, die Eiche von gegenüber. Sie hing schon so weit über die Straße, dass sie beim nächsten Sturm auf unser Haus zu stürzen drohte.
In der Küche ist es sehr viel heller und gleichzeitig unheimeliger geworden. Immer wieder fängt sich mein Blick in der Tücke* der Lücke, dort, wo mir früher die Zweige zugewinkt haben, manchmal stürmisch jubelnd oder mürrisch grantelnd, manchmal auch einfach nur so, wie man einen Nachbarn im Vorübergehen grüßt.
'Denkst du, dass Bäume eine Seele haben?'
Ich überlege. Es ist typisch für meine Tochter, so eine Frage zu stellen, mir würde das nie einfallen. Nein, Seele würde ich nicht sagen, weil ich eine gewisse Scheu vor so großen Begriffen habe.
Ob ein Baum nicht doch durch all das, was er aufnimmt, sammelt, bewahrt, durch all das, was man in ihn hineinlegt, beseelt ist?
Natürlich war sie nicht bloß ein Baum, die alte Eiche, die wohlwollend zusah, wie unser Haus in die Höhe wuchs, obwohl wir ihr dadurch Licht und Aussicht nahmen. Dafür boten wir ihr eine Menge Abwechslung. Sie sah zu, wie ich mit den Kleinen Kekse ausgestach; damals, als sie mir noch nicht über den Kopf gewachsen waren, als sie nicht nur Schmutzwäsche abladen und umpacken kamen, Kuchen und Kekse ungehemmt verdrückten, ohne an das Zuviel an Fett und Zucker zu denken.
'Als Kind, hab ich mir vorgestellt, sie wäre eine alte, weise Frau. Manchmal hat sie mir zugezwinkert, als wolle sie sagen, mach nur, ist schon in Ordnung.'
Marie spricht ohne Scheu aus, was ich zwar so nie gedacht, wohl aber auch des öfteren empfunden habe. Das ist Marie, direkt offen, ein bisschen versponnen ... und mir so nah.
Ja, die Eiche war wie eine Nachbarin, der ich mich jederzeit anvertrauen konnte, ein Muster an Diskretion und Einfühlung.
Sie musste mitanhören, wie wir laut und lebhaft um die Ausgehzeiten feilschten, und sie war da, wenn ich an der sonnengelben Jumbotasse mit heißem Tee meine Hände wärmte und unruhig darauf wartete, dass sie alle wieder heil heimkämen, übersprudelnd von dem, was sie erlebt hatten.
Sicherlich blieb ihr auch nicht verborgen, als es zwischen meinem Mann und mir immer einsilbiger wurde.
Sie spürte, wie ich mich grämte, als die Lebendigkeit in unserer Beziehung unterm Graustaub der Tage zu ersticken drohte, alles selbstverständlich und glanzlos wurde; wie ich dagegen ankämpfte und verlor, wie ich trauerte und resignierte.
Sie sprach zu mir und tröstete mich, als die Jüngste für ein Jahr nach Frankreich ging und das Haus mit einem Mal so still und leer wurde. Und ich beneidete sie ein wenig, weil sie den ganzen langen Winter über ihre dürren Blätter behielt, erst nach und nach abgab, als sie schon in frischem Frühlingsgrün verjüngt dastand.
Noch liegen einige ihrer raschelbrauen Blätter in unsrem Garten verstreut, aber es werden keine mehr nachwachsen in diesem Frühling.
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*auf Nifls Anregug hin gestrichen. Danke!
Wo die Seele baumelt
Gestern musste sie fallen, die Eiche von gegenüber. Sie hing schon so weit über die Straße, dass sie beim nächsten Sturm auf unser Haus zu stürzen drohte.
In der Küche ist es sehr viel heller und gleichzeitig unheimeliger geworden. Immer wieder fängt sich mein Blick in der Tücke* der Lücke, dort, wo mir früher die Zweige zugewinkt haben, manchmal stürmisch jubelnd oder mürrisch grantelnd, manchmal auch einfach nur so, wie man einen Nachbarn im Vorübergehen grüßt.
'Denkst du, dass Bäume eine Seele haben?'
Ich überlege. Es ist typisch für meine Tochter, so eine Frage zu stellen, mir würde das nie einfallen. Nein, Seele würde ich nicht sagen, weil ich eine gewisse Scheu vor so großen Begriffen habe.
Ob ein Baum nicht doch durch all das, was er aufnimmt, sammelt, bewahrt, durch all das, was man in ihn hineinlegt, beseelt ist?
Natürlich war sie nicht bloß ein Baum, die alte Eiche, die wohlwollend zusah, wie unser Haus in die Höhe wuchs, obwohl wir ihr dadurch Licht und Aussicht nahmen. Dafür boten wir ihr eine Menge Abwechslung. Sie sah zu, wie ich mit den Kleinen Kekse ausgestach; damals, als sie mir noch nicht über den Kopf gewachsen waren, als sie nicht nur Schmutzwäsche abladen und umpacken kamen, Kuchen und Kekse ungehemmt verdrückten, ohne an das Zuviel an Fett und Zucker zu denken.
'Als Kind, hab ich mir vorgestellt, sie wäre eine alte, weise Frau. Manchmal hat sie mir zugezwinkert, als wolle sie sagen, mach nur, ist schon in Ordnung.'
Marie spricht ohne Scheu aus, was ich zwar so nie gedacht, wohl aber auch des öfteren empfunden habe. Das ist Marie, direkt offen, ein bisschen versponnen ... und mir so nah.
Ja, die Eiche war wie eine Nachbarin, der ich mich jederzeit anvertrauen konnte, ein Muster an Diskretion und Einfühlung.
Sie musste mitanhören, wie wir laut und lebhaft um die Ausgehzeiten feilschten, und sie war da, wenn ich an der sonnengelben Jumbotasse mit heißem Tee meine Hände wärmte und unruhig darauf wartete, dass sie alle wieder heil heimkämen, übersprudelnd von dem, was sie erlebt hatten.
Sicherlich blieb ihr auch nicht verborgen, als es zwischen meinem Mann und mir immer einsilbiger wurde.
Sie spürte, wie ich mich grämte, als die Lebendigkeit in unserer Beziehung unterm Graustaub der Tage zu ersticken drohte, alles selbstverständlich und glanzlos wurde; wie ich dagegen ankämpfte und verlor, wie ich trauerte und resignierte.
Sie sprach zu mir und tröstete mich, als die Jüngste für ein Jahr nach Frankreich ging und das Haus mit einem Mal so still und leer wurde. Und ich beneidete sie ein wenig, weil sie den ganzen langen Winter über ihre dürren Blätter behielt, erst nach und nach abgab, als sie schon in frischem Frühlingsgrün verjüngt dastand.
Noch liegen einige ihrer raschelbrauen Blätter in unsrem Garten verstreut, aber es werden keine mehr nachwachsen in diesem Frühling.
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*auf Nifls Anregug hin gestrichen. Danke!