Aufbruch
Verfasst: 05.05.2013, 23:18
Hier nun eine überarbeitete Version, kleinere Äanderungen...
danke fürs Lesen und Korigieren.
R.L. schrieb:
> Aufbruch
> Bei einer der Mai-Demonstrationen im Jahre 68 fand Gudrun vor dem
> drohenden Strahl eines Wasserwerfers Zuflucht hinter dem Regenschirm
> einer ihr vage bekannten Altkommunistin. Jene strahlte neben einer
> damals bewunderten politischen Kompromisslosigkeit etwas mütterlich
> Sanftes aus. Auf Gudrun wirkte die alte Dame, denn eine gewisse
> Eleganz war ihr nicht abzusprechen, wie eine idealisierte, politisch
> geschulte Patentante. Gudrun fühlte sich von der schützenden Gebärde
> beruhigt und gleichzeitig durch die Präsenz einer Demonstrantin
> dieser Altersgruppe angespornt. Und wenn ihr auch ihre Unerfahrenheit
> und Ignoranz, im Zusammenspiel mit ihren Vorurteilen noch lange zu
> schaffen machen würden, besaß sie nichtsdestotrotz ein sicheres
> Gespür für Menschen. Dieses Gespür sagte ihr: da steht sie neben dir,
> eine echte Genossin, dunkel gekleidet, vornehm, wenn auch die Stoffe
> einen etwas verblichenen, heruntergekommenen Glanz aufweisen.
>
> Und ganz zuletzt blieb Gudruns Blick an einem Detail hängen: Dieser
> Regenschirm, ein solide gearbeitetes Stück mit Entenkopf aus
> Elfenbein. Sehr exquisit. Der Entenkopf faszinierte Gudrun. Und sie
> hatte zum ersten Mal seit langer Zeit dieses heimliche Gefühl des
> Vertrauens.
>
> Die beiden Frauen hielten den Schirm zu zweit vor sich hin und ließen
> das Wasser abprallen. Sie bewegten sich im Krebsgang, den Schirm wie
> ein Schild vor sich haltend in Richtung Marktgasse. Dort, als sie
> endlich dem Wasserwerfer entronnen waren, fragte die Ältere: „Kommst
> du zur Sitzung im Waldcafé?“ Gudrun verneinte verlegen. „Tut mir
> leid, heute kann ich nicht.“ Man trennte sich ohne weitere
> Erklärungen. Jeder hatte seine Wege.
>
> Das sollte für die beiden Frauen ihre einzige Begegnung bleiben und
> es fällt dem Erzähler schwer, sie an dieser Stelle zu verlassen. Ein
> einziges Element wird später noch einmal Erwähnung finden, zu
> gegebener Zeit. Nur kurz, versteht sich, dies soll eine
> Kurzgeschichte werden und kein Roman.
>
> Hätte sich damals Gudruns Leben anders entwickelt, wenn sie „Ja“
> gesagt hätte? Auf die Einladung nicht einzugehen, hätte einen Sinn
> gehabt, wäre sie zur ersten Sitzung des dortigen Weiberrats gegangen,
> die bei Petra stattfand. Aber dort wollte sie ebenfalls nicht
> hingehen.
>
> Gudrun taten diese Absagen sogar leid, denn sie fürchtete, es später
> bedauern zu müssen, „nicht dabei gewesen“ zu sein. Eigentlich hätte
> sie weder die Luxemburg-Lenindebatte, noch die erste Sitzung des
> Weiberrats verpassen dürfen.
> Gudruns Gründe waren ihr selbst nur schwer verständlich. Obwohl sie
> unter der Einsamkeit in jenen Jahren mehr zu leiden hatte als je
> zuvor, und auch als später, wie sich herausstellen würde, wollte sie
> nicht durch eifrige Teilnahme an solchen Veranstaltungen offen
> bekunden, dass sie kein Privatleben habe. Sie glaubte es eine Pflicht
> sich selbst gegenüber einen privaten Raum, eine private Erlebniswelt
> in sich schaffen zu müssen, um als Person bestehen zu können. Und
> dazu hatte sich just am frühen Nachmittag eine Gelegenheit ergeben.
>
>
> In der Stadt hatte sie einer Studentin aus Cambridge eine Unterkunft
> in ihrem nahe gelegenen Wohnheim verschafft und bekam ihrerseits das
> Angebot, sie könne in Cambridge jederzeit, am liebsten aber jetzt
> sofort, während ihrer Europareise ihr dortiges Studentenzimmer
> bewohnen. Dieses „am liebsten jetzt sofort“ und die Aussicht darauf,
> auch andere Bewohner des Studentenheims kennen zu lernen, gab den
> Ausschlag.
>
> Spontane Sympathie und eine damals weit verbreitete Gutgläubigkeit
> hatte sie beide zu dieser Großzügigkeit verführt, die keine der
> beiden - schon zwei Jahre später - wiederholt hätte. Sie kannten
> sich nicht; sie würden sich nie kennenlernen. Böses widerfuhr weder
> der einen noch der anderen: die Schlüssel wurden ordnungsgemäß an die
> jeweilige Vertrauensperson zurückgegeben, vor dem Verlassen ihrer
> Unterkünfte hatten beide Mädchen aufgeräumt, was aufzuräumen war; was
> sie glaubten aufräumen zu müssen. Zwischen diesen beiden Augenblicken
> jedoch, zwischen dem Empfang des Schlüssels zu einem Studentenzimmers
> in Cambridge und dessen Rückgabe eröffnete sich für Gudrun eine
> kleine Lebenssekunde des Glücks, ein Geschenk das rein aus Sprache
> und Seligkeit des Hörens und Erzählens bestand.
>
> .
> Gudrun stand frühmorgens, ihr ordentlich ausgestattetes
> Anhalterköfferchen bei Fuß an der Autobahnausfahrt Nord. Irgendjemand
> hielt damals immer und Gudrun hatte praktischen Verstand: stets trug
> sie eine Spraydose jenes Verteidigungsgases mit sich, das sie
> vorsichtshalber zeigte, bevor es zu Unannehmlichkeiten kam. Auch
> achtete sie auf alle Ausstattungsdetails im Wagen, die notfalls eine
> rasche Flucht möglich machten. Vor allem aber, und das mag so mancher
> nicht glauben, vertraute sie ihr Dasein voll und ganz der Vorsehung
> an und sagte sich, dass immer aber auch immer das Unerwünschte, das
> Tragische, das Schreckliche an der nächsten Straßenecke wartete und
> aus dem heiteren Himmel wie ein Blitzschlag niederfuhr, während es
> notwendig sei, weit zu reisen, um besonders Schönes zu erleben.
>
> Mit solchen Gedanken und vielen Gesprächen zu eben demselben Thema
> verging die Zeit und die Fahrer lösten sich alle in einer langen
> Monotonie ab. Die einen keck und spöttisch, die anderen verklemmt und
> zweideutig, alle sprachen sie von derselben Gefahr, die auf sie
> lauerte, und der sie im Ernstfall nicht gewachsen sei. In Dieppe ging
> sie an Bord eines großen dicken Schiffs, das randvoll mit Autos und
> Touristen die Überfahrt nach Dover unternahm. Ein Tag und ein guter
> Teil der Nacht waren vergangen. Auf dem Boot fror sie und trank cup
> of tea auf cup of tea.
>
>
> Gegen vier Uhr, der Tag hatte gerade seine ersten hellen
> Nachtschleier in die Dunkelheit geworfen, stand Gudrun auf britischen
> Boden und das Anhalterköfferchen stand wieder getreu bei Fuß. Doch es
> dauerte lange, bis das Boot die ersten Fahrzeuge ausspuckte und die
> meisten fuhren murrend vorbei. Niemand wollte nach so ungemütlicher
> Fahrt noch einmal anhalten. Auch nicht wegen eines Mädchens, schon
> gar nicht wegen einer so unvorsichtigen Studentin, „was die sich
> einbildet!“, flüsterte ein weißer Fiat.
>
> Da fuhr elegant scheppernd eine graue Ente daher. Die junge Frau am
> Steuer, kaum älter als das Mädchen lud dieses ein, gab zu verstehen,
> dass sie Angst habe, am Steuer einzuschlafen, verstaute das
> Anhalterköfferchen und reichte dem Mädchen ein entzückend weiches mit
> Blümchen besticktes Schultertuch. „Es wird kalt werden, aber ich
> werde die Fenster auflassen“, meinte die junge Frau, „Du musst mir
> helfen, damit ich nicht einschlafe.“
>
> Schnell redeten die beiden miteinander, als kennten sie sich seit
> Jahren, und Gudrun bestaunte den blühenden Obstgarten, der sich über
> ganz Südengland zu erstrecken schien. Einige der frühblühenden
> Apfelbäume trugen schon kleine grüne Früchte, aber die meisten
> standen noch in Blüte. Rosenwangige Apfelblüte, elfenbeinweiße
> Birnenblüten, darunter mischten sich hier und da prächtig tragende
> Magnolien. Besonders schön aber waren die Mandelbäume. Gudrun schien
> es als wäre die Luft mit dem zarten Parfum durchdrungen.
>
> Die Sonne hatte schon leuchtende Wärme zu den Menschen hinunter
> gesandt. Und während sie beide über so viel Duft fast
> einschlummerten, riss sich die junge Frau zusammen: „ Kennst du das
> Märchen vom rosafarbenen Schnee? Nein? Soll ich dir die Geschichte
> erzählen?“ Und da erlebte Gudrun zum ersten Mal, wie die Worte, die
> die sie nicht kannte, zu ihr kamen und sie trösteten. Denn Gudrun
> trauerte jedem Wort, das sie nicht verstand, nach. Es gelang ihr nie,
> ein unbekanntes Wort warten zu lassen, bis der Zufall ihr die
> Bedeutung aufschloss. Nein, da lagen einsprachige und zweisprachige
> Wörterbücher herum und dank solcher fürsorglichen Behandlung begann
> Gudruns Englisch begann zu sprießen und zu blühen während sie der
> langen Geschichte von „Pink Snow“ lauschte.
>
> Rosa war die Farbe des Schnees. Ja, rosa. Die Farbe eines ganz
> besonderen Schnees.
> Und die junge Frau begann zu erzählen:
>
> Ein junger schöner und ebenso kluger König erkrankte eines Tages an
> einer unheilbaren Krankheit. Niemand konnte ihm helfen. Nichts konnte
> ihm helfen. Ärzte aus aller Herren Länder suchten und fanden nichts,
> und je mehr medizinische Wundermänner und Heiler um den sterbenden
> König herumstanden, umso schlimmer wurde dessen gesundheitlicher
> Zustand. Bis er am Ende alle hinausschickte und sich einsam und
> allein daran machte, in Würde und Zurückgezogenheit zu sterben.
>
> In der ersten Nacht seiner Agonie hörte er das Schlagen einer
> Nachtigall. Sie setzte sich ans Fußende seines Bettes und schaute
> ihnen traurig an.
> Weißt du, dass es gegen deine Krankheit ein Heilmittel gibt? Sagte
> sie plötzlich mit Menschenstimme.
> Nein, antwortete der junge König. Bitte quäl mich nicht. Es haben mir
> schon so viele mit ihren Pillen und Tinkturen helfen wollen.
> Ich bin mir sicher, sagte die Nachtigall. Was du brauchst, ist
> rosafarbener Schnee.
> Und flog davon.
> In der ersten Morgenstunde verlangte der junge sterbende König eine
> kräftige Bouillon und beauftragte seine Leute damit, nach
> rosafarbenem Schnee zu suchen. „Eine dummer Idee!“ sagte er, doch
> nichts will ich auslassen. Man sage nicht, ich hätte nicht alles
> versucht.“
> Der junge König gab sich skeptisch, doch als am Abend seine
> Botschafter unverrichteter Dinge wieder am Schloss Tor Anlass
> begehrten, ließ er das Tor verriegeln und ordnete an, ihnen keinen
> Einlass mehr zu gewähren.
>
> „Das war dumm von dir, sagte die Nachtigall in der Nacht. Morgen
> Abend will ich dich zum rosafarbenen Schnee führen, aber sei milde
> mit denen, die nur dein Bestes wollen,
> Der König raffte seine letzten Kräfte zusammen, bestellte seine Räte
> herbei und, mit den Anzeichen seines baldigen Todes versehen, ordnete
> er die Dinge seines Königreiches und beauftragte den jüngste seiner
> Räte damit, die Botschafter mit dem ihnen zustehenden Lohn zu
> versorgen und sie darum zu bitten, dem jungen König nichts
> nachzutragen, seine Bitterkeit bedeute nur, dass es hart sei, so Jung
> dem Leben Adieu sagen zu müssen.
> Nachts wartete er auf die Nachtigall. Sie kam lange nicht. Am Ende
> hatte er die Hoffnung bereits verloren und er schlief und träumte von
> seltsamen Menschen und Tieren. „Hier bin ich nun.“ Sagte die
> Nachtigall. Steh auf, sagte die Nachtigall. Ich kann nicht, sagte der
> junge König. Du kannst, ich zeige dir den rosafarbenen Schnee. Glaub
> mir, er ist hier, nicht in diesem Gemach, aber hier, dicht neben dir.
>
> Die Hoffnung darauf, den wundersamen rosafarbenen Schnee zu sehen war
> so groß, dass sich der König schließlich von seinem Krankenlager
> erhob und sich der Nachtigall anschloss..
>
> Nun war es schon seit Bestehen des Schlosses und des umgebenden Parks
> so, dass alle Leute von nah und fern heranreisten, um im Mai de
> Mandelblüte des königlichen Parks zu bestaunen. Die Gärtner durften
> die rosa Blütenblätter erst entfernen, wenn die Mandelblüte vorbei
> war. So kam es, dass der junge König fast bis zu den Knien in rosa
> Blütenblättern watete, so sehr glich die Blütenmasse ... rosafarbenem
> Schnee.
>
> Was genau den König geheilt hatte, kann niemand sagen. War es der
> Blütenduft? War es das ätherische Öl? War es der Anblick der
> rosafarbenen Mandelblüten allein? war es die Erfüllung eines
> Versprechens? Einer der Räte behauptete später, die Nachtigall habe
> nur ein Spiel mit dem König getrieben, indem sie ihm die uralte
> alchimistische Formel „Steh auf und gehe“ zugerufen habe. Der Gang
> selbst, der aufrechte Gang wohlgemerkt, habe die Genesung erlaubt.
>
> Jedenfalls sagt man heute, dieser junge König habe sich während
> seiner langen Herrschaft als sehr weise gezeigt. Seine Regierungszeit
> kannte weder Kriege noch Hungersnot. Zudem habe er es nie versäumt,
> den Nachtigallen seines Reiches besondere Bedeutung beizumessen. Er
> gilt noch heute als der erste Herrscher überhaupt, der ein Recht der
> Tiere verfasst und eingehalten hatte.
>
> Nach Beendigung der Geschichte fielen die beiden jungen Frauen in ein
> langes, anhaltendes Schweigen. Dann bestätigte die Engländerin
> Gudruns Vermutung: Ja, Oscar Wilde, Entzückende Märchen habe er
> geschrieben, Gudrun versuchte am Text nachzuweisen, warum diese
> sentimentale Geschichte nicht als Kitsch bezeichnet werden könnte. Da
> stand plötzlich die kleine graue Ente wieder. Der Abschied war kurz
> aber umso herzlicher.
>
>
> Die Ente entfernte sich, Gudrun fuhr die letzte Strecke, etwa 50
> miles mit einem Bummelzug. Nahm Besitz von dem Zimmer und verliebte
> sich am allerersten Tag in John, den jungen Pfarrer von Kings Garden..
>
>
> Sie verließ Cambridge nie wieder, Und wenn sie nicht gestorben ist,
> verwaltet sie noch heute die Kinderbücherei der Pfarrei Saint Lafroig.
>
> © Mai 2013 Renate Reismann[/hidden]
danke fürs Lesen und Korigieren.
R.L. schrieb:
> Aufbruch
> Bei einer der Mai-Demonstrationen im Jahre 68 fand Gudrun vor dem
> drohenden Strahl eines Wasserwerfers Zuflucht hinter dem Regenschirm
> einer ihr vage bekannten Altkommunistin. Jene strahlte neben einer
> damals bewunderten politischen Kompromisslosigkeit etwas mütterlich
> Sanftes aus. Auf Gudrun wirkte die alte Dame, denn eine gewisse
> Eleganz war ihr nicht abzusprechen, wie eine idealisierte, politisch
> geschulte Patentante. Gudrun fühlte sich von der schützenden Gebärde
> beruhigt und gleichzeitig durch die Präsenz einer Demonstrantin
> dieser Altersgruppe angespornt. Und wenn ihr auch ihre Unerfahrenheit
> und Ignoranz, im Zusammenspiel mit ihren Vorurteilen noch lange zu
> schaffen machen würden, besaß sie nichtsdestotrotz ein sicheres
> Gespür für Menschen. Dieses Gespür sagte ihr: da steht sie neben dir,
> eine echte Genossin, dunkel gekleidet, vornehm, wenn auch die Stoffe
> einen etwas verblichenen, heruntergekommenen Glanz aufweisen.
>
> Und ganz zuletzt blieb Gudruns Blick an einem Detail hängen: Dieser
> Regenschirm, ein solide gearbeitetes Stück mit Entenkopf aus
> Elfenbein. Sehr exquisit. Der Entenkopf faszinierte Gudrun. Und sie
> hatte zum ersten Mal seit langer Zeit dieses heimliche Gefühl des
> Vertrauens.
>
> Die beiden Frauen hielten den Schirm zu zweit vor sich hin und ließen
> das Wasser abprallen. Sie bewegten sich im Krebsgang, den Schirm wie
> ein Schild vor sich haltend in Richtung Marktgasse. Dort, als sie
> endlich dem Wasserwerfer entronnen waren, fragte die Ältere: „Kommst
> du zur Sitzung im Waldcafé?“ Gudrun verneinte verlegen. „Tut mir
> leid, heute kann ich nicht.“ Man trennte sich ohne weitere
> Erklärungen. Jeder hatte seine Wege.
>
> Das sollte für die beiden Frauen ihre einzige Begegnung bleiben und
> es fällt dem Erzähler schwer, sie an dieser Stelle zu verlassen. Ein
> einziges Element wird später noch einmal Erwähnung finden, zu
> gegebener Zeit. Nur kurz, versteht sich, dies soll eine
> Kurzgeschichte werden und kein Roman.
>
> Hätte sich damals Gudruns Leben anders entwickelt, wenn sie „Ja“
> gesagt hätte? Auf die Einladung nicht einzugehen, hätte einen Sinn
> gehabt, wäre sie zur ersten Sitzung des dortigen Weiberrats gegangen,
> die bei Petra stattfand. Aber dort wollte sie ebenfalls nicht
> hingehen.
>
> Gudrun taten diese Absagen sogar leid, denn sie fürchtete, es später
> bedauern zu müssen, „nicht dabei gewesen“ zu sein. Eigentlich hätte
> sie weder die Luxemburg-Lenindebatte, noch die erste Sitzung des
> Weiberrats verpassen dürfen.
> Gudruns Gründe waren ihr selbst nur schwer verständlich. Obwohl sie
> unter der Einsamkeit in jenen Jahren mehr zu leiden hatte als je
> zuvor, und auch als später, wie sich herausstellen würde, wollte sie
> nicht durch eifrige Teilnahme an solchen Veranstaltungen offen
> bekunden, dass sie kein Privatleben habe. Sie glaubte es eine Pflicht
> sich selbst gegenüber einen privaten Raum, eine private Erlebniswelt
> in sich schaffen zu müssen, um als Person bestehen zu können. Und
> dazu hatte sich just am frühen Nachmittag eine Gelegenheit ergeben.
>
>
> In der Stadt hatte sie einer Studentin aus Cambridge eine Unterkunft
> in ihrem nahe gelegenen Wohnheim verschafft und bekam ihrerseits das
> Angebot, sie könne in Cambridge jederzeit, am liebsten aber jetzt
> sofort, während ihrer Europareise ihr dortiges Studentenzimmer
> bewohnen. Dieses „am liebsten jetzt sofort“ und die Aussicht darauf,
> auch andere Bewohner des Studentenheims kennen zu lernen, gab den
> Ausschlag.
>
> Spontane Sympathie und eine damals weit verbreitete Gutgläubigkeit
> hatte sie beide zu dieser Großzügigkeit verführt, die keine der
> beiden - schon zwei Jahre später - wiederholt hätte. Sie kannten
> sich nicht; sie würden sich nie kennenlernen. Böses widerfuhr weder
> der einen noch der anderen: die Schlüssel wurden ordnungsgemäß an die
> jeweilige Vertrauensperson zurückgegeben, vor dem Verlassen ihrer
> Unterkünfte hatten beide Mädchen aufgeräumt, was aufzuräumen war; was
> sie glaubten aufräumen zu müssen. Zwischen diesen beiden Augenblicken
> jedoch, zwischen dem Empfang des Schlüssels zu einem Studentenzimmers
> in Cambridge und dessen Rückgabe eröffnete sich für Gudrun eine
> kleine Lebenssekunde des Glücks, ein Geschenk das rein aus Sprache
> und Seligkeit des Hörens und Erzählens bestand.
>
> .
> Gudrun stand frühmorgens, ihr ordentlich ausgestattetes
> Anhalterköfferchen bei Fuß an der Autobahnausfahrt Nord. Irgendjemand
> hielt damals immer und Gudrun hatte praktischen Verstand: stets trug
> sie eine Spraydose jenes Verteidigungsgases mit sich, das sie
> vorsichtshalber zeigte, bevor es zu Unannehmlichkeiten kam. Auch
> achtete sie auf alle Ausstattungsdetails im Wagen, die notfalls eine
> rasche Flucht möglich machten. Vor allem aber, und das mag so mancher
> nicht glauben, vertraute sie ihr Dasein voll und ganz der Vorsehung
> an und sagte sich, dass immer aber auch immer das Unerwünschte, das
> Tragische, das Schreckliche an der nächsten Straßenecke wartete und
> aus dem heiteren Himmel wie ein Blitzschlag niederfuhr, während es
> notwendig sei, weit zu reisen, um besonders Schönes zu erleben.
>
> Mit solchen Gedanken und vielen Gesprächen zu eben demselben Thema
> verging die Zeit und die Fahrer lösten sich alle in einer langen
> Monotonie ab. Die einen keck und spöttisch, die anderen verklemmt und
> zweideutig, alle sprachen sie von derselben Gefahr, die auf sie
> lauerte, und der sie im Ernstfall nicht gewachsen sei. In Dieppe ging
> sie an Bord eines großen dicken Schiffs, das randvoll mit Autos und
> Touristen die Überfahrt nach Dover unternahm. Ein Tag und ein guter
> Teil der Nacht waren vergangen. Auf dem Boot fror sie und trank cup
> of tea auf cup of tea.
>
>
> Gegen vier Uhr, der Tag hatte gerade seine ersten hellen
> Nachtschleier in die Dunkelheit geworfen, stand Gudrun auf britischen
> Boden und das Anhalterköfferchen stand wieder getreu bei Fuß. Doch es
> dauerte lange, bis das Boot die ersten Fahrzeuge ausspuckte und die
> meisten fuhren murrend vorbei. Niemand wollte nach so ungemütlicher
> Fahrt noch einmal anhalten. Auch nicht wegen eines Mädchens, schon
> gar nicht wegen einer so unvorsichtigen Studentin, „was die sich
> einbildet!“, flüsterte ein weißer Fiat.
>
> Da fuhr elegant scheppernd eine graue Ente daher. Die junge Frau am
> Steuer, kaum älter als das Mädchen lud dieses ein, gab zu verstehen,
> dass sie Angst habe, am Steuer einzuschlafen, verstaute das
> Anhalterköfferchen und reichte dem Mädchen ein entzückend weiches mit
> Blümchen besticktes Schultertuch. „Es wird kalt werden, aber ich
> werde die Fenster auflassen“, meinte die junge Frau, „Du musst mir
> helfen, damit ich nicht einschlafe.“
>
> Schnell redeten die beiden miteinander, als kennten sie sich seit
> Jahren, und Gudrun bestaunte den blühenden Obstgarten, der sich über
> ganz Südengland zu erstrecken schien. Einige der frühblühenden
> Apfelbäume trugen schon kleine grüne Früchte, aber die meisten
> standen noch in Blüte. Rosenwangige Apfelblüte, elfenbeinweiße
> Birnenblüten, darunter mischten sich hier und da prächtig tragende
> Magnolien. Besonders schön aber waren die Mandelbäume. Gudrun schien
> es als wäre die Luft mit dem zarten Parfum durchdrungen.
>
> Die Sonne hatte schon leuchtende Wärme zu den Menschen hinunter
> gesandt. Und während sie beide über so viel Duft fast
> einschlummerten, riss sich die junge Frau zusammen: „ Kennst du das
> Märchen vom rosafarbenen Schnee? Nein? Soll ich dir die Geschichte
> erzählen?“ Und da erlebte Gudrun zum ersten Mal, wie die Worte, die
> die sie nicht kannte, zu ihr kamen und sie trösteten. Denn Gudrun
> trauerte jedem Wort, das sie nicht verstand, nach. Es gelang ihr nie,
> ein unbekanntes Wort warten zu lassen, bis der Zufall ihr die
> Bedeutung aufschloss. Nein, da lagen einsprachige und zweisprachige
> Wörterbücher herum und dank solcher fürsorglichen Behandlung begann
> Gudruns Englisch begann zu sprießen und zu blühen während sie der
> langen Geschichte von „Pink Snow“ lauschte.
>
> Rosa war die Farbe des Schnees. Ja, rosa. Die Farbe eines ganz
> besonderen Schnees.
> Und die junge Frau begann zu erzählen:
>
> Ein junger schöner und ebenso kluger König erkrankte eines Tages an
> einer unheilbaren Krankheit. Niemand konnte ihm helfen. Nichts konnte
> ihm helfen. Ärzte aus aller Herren Länder suchten und fanden nichts,
> und je mehr medizinische Wundermänner und Heiler um den sterbenden
> König herumstanden, umso schlimmer wurde dessen gesundheitlicher
> Zustand. Bis er am Ende alle hinausschickte und sich einsam und
> allein daran machte, in Würde und Zurückgezogenheit zu sterben.
>
> In der ersten Nacht seiner Agonie hörte er das Schlagen einer
> Nachtigall. Sie setzte sich ans Fußende seines Bettes und schaute
> ihnen traurig an.
> Weißt du, dass es gegen deine Krankheit ein Heilmittel gibt? Sagte
> sie plötzlich mit Menschenstimme.
> Nein, antwortete der junge König. Bitte quäl mich nicht. Es haben mir
> schon so viele mit ihren Pillen und Tinkturen helfen wollen.
> Ich bin mir sicher, sagte die Nachtigall. Was du brauchst, ist
> rosafarbener Schnee.
> Und flog davon.
> In der ersten Morgenstunde verlangte der junge sterbende König eine
> kräftige Bouillon und beauftragte seine Leute damit, nach
> rosafarbenem Schnee zu suchen. „Eine dummer Idee!“ sagte er, doch
> nichts will ich auslassen. Man sage nicht, ich hätte nicht alles
> versucht.“
> Der junge König gab sich skeptisch, doch als am Abend seine
> Botschafter unverrichteter Dinge wieder am Schloss Tor Anlass
> begehrten, ließ er das Tor verriegeln und ordnete an, ihnen keinen
> Einlass mehr zu gewähren.
>
> „Das war dumm von dir, sagte die Nachtigall in der Nacht. Morgen
> Abend will ich dich zum rosafarbenen Schnee führen, aber sei milde
> mit denen, die nur dein Bestes wollen,
> Der König raffte seine letzten Kräfte zusammen, bestellte seine Räte
> herbei und, mit den Anzeichen seines baldigen Todes versehen, ordnete
> er die Dinge seines Königreiches und beauftragte den jüngste seiner
> Räte damit, die Botschafter mit dem ihnen zustehenden Lohn zu
> versorgen und sie darum zu bitten, dem jungen König nichts
> nachzutragen, seine Bitterkeit bedeute nur, dass es hart sei, so Jung
> dem Leben Adieu sagen zu müssen.
> Nachts wartete er auf die Nachtigall. Sie kam lange nicht. Am Ende
> hatte er die Hoffnung bereits verloren und er schlief und träumte von
> seltsamen Menschen und Tieren. „Hier bin ich nun.“ Sagte die
> Nachtigall. Steh auf, sagte die Nachtigall. Ich kann nicht, sagte der
> junge König. Du kannst, ich zeige dir den rosafarbenen Schnee. Glaub
> mir, er ist hier, nicht in diesem Gemach, aber hier, dicht neben dir.
>
> Die Hoffnung darauf, den wundersamen rosafarbenen Schnee zu sehen war
> so groß, dass sich der König schließlich von seinem Krankenlager
> erhob und sich der Nachtigall anschloss..
>
> Nun war es schon seit Bestehen des Schlosses und des umgebenden Parks
> so, dass alle Leute von nah und fern heranreisten, um im Mai de
> Mandelblüte des königlichen Parks zu bestaunen. Die Gärtner durften
> die rosa Blütenblätter erst entfernen, wenn die Mandelblüte vorbei
> war. So kam es, dass der junge König fast bis zu den Knien in rosa
> Blütenblättern watete, so sehr glich die Blütenmasse ... rosafarbenem
> Schnee.
>
> Was genau den König geheilt hatte, kann niemand sagen. War es der
> Blütenduft? War es das ätherische Öl? War es der Anblick der
> rosafarbenen Mandelblüten allein? war es die Erfüllung eines
> Versprechens? Einer der Räte behauptete später, die Nachtigall habe
> nur ein Spiel mit dem König getrieben, indem sie ihm die uralte
> alchimistische Formel „Steh auf und gehe“ zugerufen habe. Der Gang
> selbst, der aufrechte Gang wohlgemerkt, habe die Genesung erlaubt.
>
> Jedenfalls sagt man heute, dieser junge König habe sich während
> seiner langen Herrschaft als sehr weise gezeigt. Seine Regierungszeit
> kannte weder Kriege noch Hungersnot. Zudem habe er es nie versäumt,
> den Nachtigallen seines Reiches besondere Bedeutung beizumessen. Er
> gilt noch heute als der erste Herrscher überhaupt, der ein Recht der
> Tiere verfasst und eingehalten hatte.
>
> Nach Beendigung der Geschichte fielen die beiden jungen Frauen in ein
> langes, anhaltendes Schweigen. Dann bestätigte die Engländerin
> Gudruns Vermutung: Ja, Oscar Wilde, Entzückende Märchen habe er
> geschrieben, Gudrun versuchte am Text nachzuweisen, warum diese
> sentimentale Geschichte nicht als Kitsch bezeichnet werden könnte. Da
> stand plötzlich die kleine graue Ente wieder. Der Abschied war kurz
> aber umso herzlicher.
>
>
> Die Ente entfernte sich, Gudrun fuhr die letzte Strecke, etwa 50
> miles mit einem Bummelzug. Nahm Besitz von dem Zimmer und verliebte
> sich am allerersten Tag in John, den jungen Pfarrer von Kings Garden..
>
>
> Sie verließ Cambridge nie wieder, Und wenn sie nicht gestorben ist,
> verwaltet sie noch heute die Kinderbücherei der Pfarrei Saint Lafroig.
>
> © Mai 2013 Renate Reismann[/hidden]