Der Elefant

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 10.05.2013, 00:47

Quito, die Hauptstadt von Ecuador, liegt 2.800 Meter über dem Meer, deswegen, obwohl mitten am Äquator, ist es dort recht kühl, wenn man nicht gerade in der Sonne steht. Dort wurde ich um 3 Uhr nachmittags geboren, eine Zeit, die gleichzeitig zu spät und zu früh ist, um damit etwas anzufangen.
1992 war ich dort zu Besuch, lief gerade durch eine vornehme Gegend, in der früher meine Verwandten gewohnt hatten. Es war gegen 11 Uhr morgens, alles war ganz still, ich konnte meine eigenen Schritte hören. Plötzlich nahm ich ein seltsames, undefinierbares Geräusch wahr. Ich blieb stehen und versuchte, es zu lokalisieren, näherte mich und stellte fest, dass es von einem brachliegenden Grundstück kam, das von einer Mauer umgeben war. Ich lief um die Mauer herum, bis ich einen Eingang fand, ein Riesenloch in der Mauer. Das Grundstück war eine grüne Wiese und das Geräusch kam von einem Elefanten, der das Gras rupfte ... Außer im Zirkus oder im Zoo hatte ich noch nie einen Elefanten gesehen. Was hatte dieser hier zu suchen, wie kam er dahin? Er schien sich sehr wohl zu fühlen, wie zu Hause, hier mitten in den Anden. Er drehte nicht mal den Kopf, um sich nach mir umzuschauen, vollkommen mit seinem Grasrupfen beschäftigt.
Ich werde diesen Elefanten nie vergessen. Dabei hatte ich jahrelang nicht an ihn gedacht, bis Diotima und ich viele Jahre später durch die Türkei reisten. Der Bus hatte bei einer Teppichfabrik, mitten in der Pampa, auf einer Hochebene angehalten. Alle gingen hinein, um sich die Teppiche anzuschauen, ich wollte draußen bleiben. Ich hatte einen Pulli angezogen, denn es war kühl dort, obwohl die Sonne schien. Ich blickte zum blauen Himmel, atmete die reine Luft, fühlte mich wohl, wie zu Hause in dieser Stille. Und da, plötzlich, erinnerte ich mich wieder an jene seltsame Begegnung in meiner Heimatstadt, an jenen einsamen, friedlichen Elefanten.


Ich finde Evas Anregung sehr gut ... Wie wäre es, wenn der letzte Satz so endete: "Und da, plötzlich, hörte ich ein seltsames Geräusch..."
Zuletzt geändert von Klimperer am 13.05.2013, 10:40, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 10.05.2013, 10:38

Hola Carlos,

das ist wieder so eine nette kleine Geschichte von dir. Ganz schlicht. Ohne Schnickschnack. Ein kurzer Moment in deiner Erinnerung. Ich mag das sehr und bei dem Gedanken, wie der Elefant da friedlich mit seinem Grasrupfen beschäftigt ist und sich nicht stören lässt, huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Vermutlich werde ich mich jetzt immer, wenn ich einen Elefanten sehe, an deinen kleinen Rückblick hier erinnern. ;-)

Saludos
Gabriella

ecb

Beitragvon ecb » 10.05.2013, 20:46

Weißt du was, Carlos? - Ich fände diese kleime Geschichte unheimlich gut, wenn der letzte Satz fehlte. Er ist meiner Meinung nach überflüssig, denn mit dem vorletzten Satz ist alles klar ... :pfeifen:

Liebe Grüße
Eva

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 10.05.2013, 22:17

Hallo Eva,

ja, da ist was dran an deinem Vorschlag, da man wirklich weiß, welche Stille gemeint ist.
Andererseits mag ich dieses "an jenen einsamen, friedlichen Elefanten" am Schluss so gern, da es so schön nachklingt.

Saludos
Gabriella

ecb

Beitragvon ecb » 10.05.2013, 22:39

Ich finde, auch das hat etwas für sich, Gabriella, man reagiert ein wenig unterschiedlich als Leser. Mir geht es oft so, daß ich es besonders mag, wenn viel Raum ist in einer und um eine Geschichte herum.
Ich muß übrigens schon den ganzen Abend an Haruki Murakamis Elefantengeschichte denken - was ist nur das Besondere an ihnen, das sie offenbar in der Vorstellung überschreitet, die sich Menschen von ihnen machen, und bei dir, Carlos, ist es nun schon der zweite Elefant ...

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 10.05.2013, 23:46

Hallo Eva,
ecb hat geschrieben:Ich muß übrigens schon den ganzen Abend an Haruki Murakamis Elefantengeschichte denken - was ist nur das Besondere an ihnen, das sie offenbar in der Vorstellung überschreitet, die sich Menschen von ihnen machen

Ja, der Elefant ist - auch für mich - mit einer besonderen, wie soll ich es nennen, Aura, Seele, einem Mythos oder wie auch immer behaftet. Kennst du die wundersame Geschichte von dem indischen Guru Sathya Sai Baba? Er war oft viele Monate oder länger fort von seinem Ashram. Und immer, wenn er wieder ins Ashram zurückkehrte, kam aus kilometerweiter Entfernung derselbe Elefant zu ihm und weinte. Alle im Ashram (auch Sai Baba) warteten, sobald Sai Baba eintraf, auf diesen Elefanten. Und er kam immer.

Saludos
Gabriella

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 13.05.2013, 10:46

Liebe Gabriella, liebe Eva,

ich war schon im Begriff, den Elfanten zu vergessen ...

Vielen herzlichen Dank für Euer Interesse an die Mini- Geschichte.

Ich sagte Gabriella schon, dass ich momentan das Essay von James Wood "Die Kunst des Erzählens" lese. Je weiter ich lese, desto mehr bin ich von ihm begeistert. "How fiction works" ist der Original Titel.

Ich wünsche euch Sonne im Herzen, wenn ja nicht am Himmel ...


Carlos

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 13.05.2013, 12:53

Hola Carlos,
Klimperer hat geschrieben:Ich finde Evas Anregung sehr gut ... Wie wäre es, wenn der letzte Satz so endete: "Und da, plötzlich, hörte ich ein seltsames Geräusch..."

Das würde ich nicht machen. Es wirkt nicht mehr authentisch, sondern auf Effekt hin geschrieben. Ich würde entweder den letzten Satz, wie Eva vorschlägt, ganz rausnehmen und mit "Stille" enden oder das Ende so lassen, wie es ist.

Saludos
Gabriella


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 10 Gäste