Antika
Verfasst: 05.06.2013, 18:30
Gegen Abend, mit "Tod in Venedig" auf der Terrasse des Hotels. Ein flüchtiger Schatten lässt mich zum Himmel blicken: Schwalben. Dieselben (die gleichen?), die ich ein paar Tage zuvor am Mainzer Himmel beobachtet habe ...
Nach einem Leben strengster Disziplin zu Diensten seines literarischen Werkes nimmt Gustav Aschenbach zum ersten Mal Urlaub von sich selbst. Er ist ein lebender »Klassiker«, ausgewählte Seiten seines Opus` sind in Schulbücher aufgenommen worden. Er ist Witwer seit jungen Jahren. Eine schon verheiratete Tochter hat er, »einen Sohn hat er nie besessen«, schreibt Thomas Mann über diese von ihm erfundene Figur.
Nicht homosexuelle, transsexuelle Gedanken scheint Aschenbach in seinem Herzen gehegt zu haben. Er verliebt sich in einen Jüngling, fast noch ein Kind, der weiblicher als seine zwei älteren Schwestern wirkt. Ein reiches polnisches Kind. Es muss so sein, damit eine Sprachverständigung ausgeschlossen bleibt. Höchstens in einer damals noblen Sprache. Die Liebe, die in Aschenbach entflammt, ist mit der Liebe Dantes zu Beatrice vergleichbar. Mit der Liebe Sokrates` zu Phaidros. Sokrates sprach zu Phaidros »von dem heißen Erschrecken, das der Fühlende leidet, wenn sein Auge ein Gleichnis der ewigen Schönheit erblickt; sprach zu ihm von den Begierden des Weihelosen und Schlechten, der die Schönheit nicht denken kann, wenn er ihr Abbild sieht, und der Ehrfurcht nicht fähig ist«. Und einiges in der Art mehr. Aber dann, am Ende desselben, langen Abschnitts, schreibt Thomas Mann über denselben Sokrates: »Und dann sprach er das Feinste aus, der verschlagene Hofmacher: Dies, dass der Liebende göttlicher sei, als der Geliebte, weil in jenem der Gott sei, nicht aber im anderen, diesen zärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, der jemals gedacht ward, und dem alle Schalkheit und heimlichste Wollust der Sehnsucht entspringt.«
Ich überlasse Heike das Planen der Erkundung dieser Stadt, in der wir für zwei Wochen sind. Ich bin faul von Natur aus, lasse mich gerne führen, überlasse gerne anderen den Vortritt, um im Hintergrund in Ruhe mein Buch lesen zu können. Deswegen habe ich auf das Fahren lernen verzichtet. So kann ich, während der Fahrer sich mit Ampeln und anderen Verkehrsteilnehmern streitet, Latein oder Neugriechisch lernen.
Sie macht das gut, kann ziemlich schnell die komplizierten Busfahrpläne entziffern, die mein Sohn, der schon Jahre hier lebt, immer noch nicht verstanden hat. So fahren wir nach Jaffa, einer uralten Hafenstadt, heute ein Vorort von Tel Aviv. Arme Leute leben dort, ich merke es schon, als ich im Bus versuche, jemanden etwas zu fragen. Keiner scheint, wie sonst überall, Englisch zu können. Kleine, einfache Leute. Und doch kann jeder das eine oder andere Wort. Ich hatte einer Frau gesagt, dass wir die Altstadt von Jaffa besuchen wollten. »The old city …« »Ah, ANTIKA«, sagte auf einmal die Frau, die dieses uralte Wort dafür benutzte.
Während ich versuchte, diese Information verbal herauszubekommen, kämpfte Heike im Stehen mit dem Stadtplan. Sie dachte, sie hätte die richtige Haltestelle gefunden und wollte, dass wir aussteigen, aber die alte Frau hielt mich fest und sagte: »No!«, erst bei der nächsten Haltestelle. Dort stiegen wir also aus, auch die alte Frau, die in eine bestimmte Richtung zeigte, sich auf die Schenkel schlug und sagte: »five minutes!«, fünf Minuten laufen also.
Für mich war der Besuch dieses alten Viertels enttäuschend. Die meisten Häuser sind in ruinösem Zustand, Müll liegt überall auf den Straßen und in vielen Antiquitätengeschäften, denn nichts anders als Müll ist das, was sie da angeboten haben. Alte Sachen, die einmal längst verstorbenen Menschen gehört haben. Schon aus Pietät sollte man das verbieten, dort und überall. Man sollte alles, was einem Verstorbenen gehörte, zusammen mit seinem Leichnam verbrennen. Nicht verkaufen, schenken oder weiterschenken.
Viele Katzen fotografierte ich.
Von Jaffa aus kann man in der Ferne, hinter dem Meer, Tel Aviv mit seinen Wolkenkratzern erblicken. Wir lassen uns in einem Café nieder, bestellen Bier und Wein. Eine Gruppe von spanischen Touristen bildet einen Kreis um jemanden, der ihnen irgendwelche Sachen erklärt. Ein junger Priester und eine dicke Nonne sind unter ihnen. Alle tragen eine rote Mütze als Schutz gegen die Sonne. Der junge Priester, schlank, hoch gewachsen, liest etwas aus einem Buch vor.
An einem anderen Tisch sitzt ein älteres Ehepaar, die einzigen Gäste außer uns. Beide blättern in verschiedenen Zeitschriften, scheinen sich für nichts zu interessieren. Auf einmal fing die Frau an, in der Nase zu bohren, vergessend, dass sie sich im heiligen Land befand.
In einem klimatisierten Taxi kehren wir nach Tel Aviv zurück.
Ich habe den Text, mit Hilfe von Zefira und Renée, verbessert. Genau um was es sich dabei handelt, kann man bei ihren Kommentaren nachlesen.
Neben dem Titel "Antica" könnte "Die Rückkehr der Nase" stehen ...
Ich habe im letzten Satz, nach einem Hinweis von Pjotr, das Wort "mit" durch "in" getauscht.
Nach einem Leben strengster Disziplin zu Diensten seines literarischen Werkes nimmt Gustav Aschenbach zum ersten Mal Urlaub von sich selbst. Er ist ein lebender »Klassiker«, ausgewählte Seiten seines Opus` sind in Schulbücher aufgenommen worden. Er ist Witwer seit jungen Jahren. Eine schon verheiratete Tochter hat er, »einen Sohn hat er nie besessen«, schreibt Thomas Mann über diese von ihm erfundene Figur.
Nicht homosexuelle, transsexuelle Gedanken scheint Aschenbach in seinem Herzen gehegt zu haben. Er verliebt sich in einen Jüngling, fast noch ein Kind, der weiblicher als seine zwei älteren Schwestern wirkt. Ein reiches polnisches Kind. Es muss so sein, damit eine Sprachverständigung ausgeschlossen bleibt. Höchstens in einer damals noblen Sprache. Die Liebe, die in Aschenbach entflammt, ist mit der Liebe Dantes zu Beatrice vergleichbar. Mit der Liebe Sokrates` zu Phaidros. Sokrates sprach zu Phaidros »von dem heißen Erschrecken, das der Fühlende leidet, wenn sein Auge ein Gleichnis der ewigen Schönheit erblickt; sprach zu ihm von den Begierden des Weihelosen und Schlechten, der die Schönheit nicht denken kann, wenn er ihr Abbild sieht, und der Ehrfurcht nicht fähig ist«. Und einiges in der Art mehr. Aber dann, am Ende desselben, langen Abschnitts, schreibt Thomas Mann über denselben Sokrates: »Und dann sprach er das Feinste aus, der verschlagene Hofmacher: Dies, dass der Liebende göttlicher sei, als der Geliebte, weil in jenem der Gott sei, nicht aber im anderen, diesen zärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, der jemals gedacht ward, und dem alle Schalkheit und heimlichste Wollust der Sehnsucht entspringt.«
Ich überlasse Heike das Planen der Erkundung dieser Stadt, in der wir für zwei Wochen sind. Ich bin faul von Natur aus, lasse mich gerne führen, überlasse gerne anderen den Vortritt, um im Hintergrund in Ruhe mein Buch lesen zu können. Deswegen habe ich auf das Fahren lernen verzichtet. So kann ich, während der Fahrer sich mit Ampeln und anderen Verkehrsteilnehmern streitet, Latein oder Neugriechisch lernen.
Sie macht das gut, kann ziemlich schnell die komplizierten Busfahrpläne entziffern, die mein Sohn, der schon Jahre hier lebt, immer noch nicht verstanden hat. So fahren wir nach Jaffa, einer uralten Hafenstadt, heute ein Vorort von Tel Aviv. Arme Leute leben dort, ich merke es schon, als ich im Bus versuche, jemanden etwas zu fragen. Keiner scheint, wie sonst überall, Englisch zu können. Kleine, einfache Leute. Und doch kann jeder das eine oder andere Wort. Ich hatte einer Frau gesagt, dass wir die Altstadt von Jaffa besuchen wollten. »The old city …« »Ah, ANTIKA«, sagte auf einmal die Frau, die dieses uralte Wort dafür benutzte.
Während ich versuchte, diese Information verbal herauszubekommen, kämpfte Heike im Stehen mit dem Stadtplan. Sie dachte, sie hätte die richtige Haltestelle gefunden und wollte, dass wir aussteigen, aber die alte Frau hielt mich fest und sagte: »No!«, erst bei der nächsten Haltestelle. Dort stiegen wir also aus, auch die alte Frau, die in eine bestimmte Richtung zeigte, sich auf die Schenkel schlug und sagte: »five minutes!«, fünf Minuten laufen also.
Für mich war der Besuch dieses alten Viertels enttäuschend. Die meisten Häuser sind in ruinösem Zustand, Müll liegt überall auf den Straßen und in vielen Antiquitätengeschäften, denn nichts anders als Müll ist das, was sie da angeboten haben. Alte Sachen, die einmal längst verstorbenen Menschen gehört haben. Schon aus Pietät sollte man das verbieten, dort und überall. Man sollte alles, was einem Verstorbenen gehörte, zusammen mit seinem Leichnam verbrennen. Nicht verkaufen, schenken oder weiterschenken.
Viele Katzen fotografierte ich.
Von Jaffa aus kann man in der Ferne, hinter dem Meer, Tel Aviv mit seinen Wolkenkratzern erblicken. Wir lassen uns in einem Café nieder, bestellen Bier und Wein. Eine Gruppe von spanischen Touristen bildet einen Kreis um jemanden, der ihnen irgendwelche Sachen erklärt. Ein junger Priester und eine dicke Nonne sind unter ihnen. Alle tragen eine rote Mütze als Schutz gegen die Sonne. Der junge Priester, schlank, hoch gewachsen, liest etwas aus einem Buch vor.
An einem anderen Tisch sitzt ein älteres Ehepaar, die einzigen Gäste außer uns. Beide blättern in verschiedenen Zeitschriften, scheinen sich für nichts zu interessieren. Auf einmal fing die Frau an, in der Nase zu bohren, vergessend, dass sie sich im heiligen Land befand.
In einem klimatisierten Taxi kehren wir nach Tel Aviv zurück.
Ich habe den Text, mit Hilfe von Zefira und Renée, verbessert. Genau um was es sich dabei handelt, kann man bei ihren Kommentaren nachlesen.
Neben dem Titel "Antica" könnte "Die Rückkehr der Nase" stehen ...
Ich habe im letzten Satz, nach einem Hinweis von Pjotr, das Wort "mit" durch "in" getauscht.