"Arme Vögelchen" (Nicht warten. Handeln)
Verfasst: 30.06.2013, 15:55
"Arme Vögelchen"
Atmans Eltern stammten aus Istanbul. Seine Eltern gehörten zu den wenigen Einwanderern der frühen 60iger Jahre, die mit abgeschlossener akademischer Ausbildung in der Bundesrepublik ankamen. Sie gehörten einer christlichen Minderheit an und es war von vorneherein klar, dass Atman ein hervorragender Schüler und Gymnasiast sein würde, und später ein exzellenter Diplomingenieur einer renommierten Fachhochschule seiner neuen Heimat.
Das alles sagt noch nicht viel über Atman aus. Sein leicht dunkler Teint, seine feinen Gesichtszüge, sein bedachtes Wesen, hinter dem sich eine cholerische Tendenz versteckte, sagen ebenfalls wenig. Vielleicht können wir uns Atman besser vorstellen, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass er nie geheiratet hat, und mit neunundvierzig immer noch jung scheint, ein junger Mann, klug sensibel, wie gesagt, manchmal auch zornig. Ein Mann, dessen beste Freundin 78 Jahre alt ist, eine Künstlerin, die mit eisernem Willen jedes Jahr ihrem Werk neue Gemälde hinzufügt, eine gelungene Mischung aus Volkskunst und moderner Glasmalerei.
Atman ist dem Charme dieser dunkelhaarigen eleganten Seniorin völlig verfallen. Aber trotzdem hat er nicht immer Zeit für sie. Denn da gibt es noch eine andere ältere Dame in seinem Leben. „Maman“ wie er gerne auf frz. Sagt. Mit Maman gibt es immer wieder Sorgen und Kummer. Er war an ihrer Seite, als sie von Papa verlassen wurde. Seine Brüder nicht. Er war da, als Maman Witwe wurde und sich im Dschungel deutscher Bürokratie zurecht finden musste. Seine beiden Brüder nicht.
Dann fügte es sich, dass er wenig Aufträge hatte, als Maman krank wurde. Er begleitete sie zum Arzt, und zum Facharzt. Eine Operation, die nicht besser hätte verlaufen können. Wenige Wochen später verlegte man sie in die Rehaklinik unweit der Kleinstadt. Diese lag mitten in einem Park, war aber so unsinnig gestaltet, mit einem zwar großen aber kasernenartig eingerichteten Schlafsaal, dass Maman sich unweigerlich eingeschlossen fühlte. Sie war eine Gefangene, sagte sie zu Atman, wie damals vor dem Verlassen der Türkei, als es der christlichen Minderheit bereits nicht mehr so gut ging.
Atman fand sich jetzt wohl oder übel zwei Mal täglich in der Klinik ein, weil seine Mutter nur aß, wenn er sie fütterte. „Armes Vögelchen,“ sagte er in ihrer Sprache und sie lachte. Atman wartete, er wartete darauf, was der Arzt sagen würde, doch seine Mutter verlor nicht nur den Appetit, wogegen er noch ankam, nun schlief sie nicht mehr. Man sagte ihm, sie bleibe auf der Bettkante sitzen und schaukele hin- und her. Obwohl er dem Personal und dem diensthabenden Arzt mehrfach mitteilte, dass Schlaf- und Beruhigungsmittel eine desaströse Wirkung auf die Mutter hätten, merkte er, dass man sie insgeheim weiterhin mit solchen Pillen ruhig stellte.
Er konnte nicht nur bei der Mutter sitzen und ihre Hand halten, so kam es, dass er just dann abwesend war, als ihr wieder einmal die Decke auf den Kopf fiel und sie es nicht mehr aushielt. Sie verließ, scheinbar ohne irgendwelche nennenswerte Schwierigkeit, das Gebäude und befand sich im Nachthemd und Hauspantoffeln in der belebten Marktstraße am Rathaus. Eine Polizeibeamtin nahm sich ihrer an, das Personal rief Atman an, sein Handy war in den letzten Tagen immer eingeschaltet.
Sofort ging er daran, die bereits geplante Türkeireise vorzuverlegen, nicht der Türkei wegen, sondern wegen der Hochzeit einer Enkelin. Dem deutschen Arzt, einem kühlen Kapitänssohn aus Lübeck, überzeugte eine solche Reise sofort. Er unterstütze ein solches Vorhaben: sie brauche ein ihr vertrautes Umfeld. Mit dem trockenen Humor, der ihn charakterisierte, meinte er, das freundliche, aber doch meist unbeholfene, wenig einfühlsarme Schwabenländle, habe da wenig zu bieten.
Sie flogen zu zweit, die beiden Brüder würden nachfolgen, nach Istanbul. Dort hoffte er die Mutter wenigstens soweit beruhigen zu können, dass sie nachts in einem geräumigen Zimmer mit Matratzen und Decken auf türkische Art ausgestattet (mit großen Betttüchern und Wolldecken anstelle der Wattekissen und Wattedecken, in denen die Deutschen ihre Nachtruhe versenkten) den erholsamen nachzuholenden Schlaf finden würde.
Doch so leicht sollte es nicht sein. Atman saß bereits seit vier Minuten vor dem Computer-Tomograph, den sein Onkel, ein bekannter Internist, ihm und der Schwester unbedingt vorführen musste. Auf Atmans Einwand, die Mutter brauche vor allem Schlaf, alle anderen Probleme seien operativ vollständig entfernt worden, hatte der Bruder nur gemeint: „Morgen“ kann es zu spät sein. Der Tomograph der Klinik sei das neueste Modell und habe eine verfeinerte graphische Wiedergabe. Man wisse dann mehr über ihren Zustand.
Er wartete. So hatte er immer gewartet, schien ihm. Darauf, dass das Problem der Mutter endlich benannt würde. Darauf, dass die Männer der Familie heilende, helfende, lindernde Hand anlegten. Und immer war es auch ein Warten darauf, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu dürfen, das Warten darauf, anerkannt zu sein, nicht als der Sohn. Als der Mann. Der Mann, der er war, trotz dieser lange andauernden Anhänglichkeit, die ihn zum Muttersöhnchen machte. Der er nicht war. Der er NICHT WAR!
Er hörte das Röcheln und dachte sich zunächst nichts dabei. Dann sah er wie die Krankenschwestern rannten. Dann sah er die Bestürzung des Onkels. Dann fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: was für ein Dummkopf er war! Er hätte die Verantwortung übernehmen müssen. Er hätte sie früher aus der Klinik herausholen müssen. Er hätte nicht warten sollen. Er hätte handeln sollen. Sofort. Nicht warten.
Pochte es in ihm, unaufhörlich.
Renate Reismann © 2013, 30. Juni
erste Fassung
Nicht warten, handeln
Atmans Eltern stammten aus Istanbul. Seine Eltern gehörten zu den wenigen Einwanderern der frühen 60iger Jahre, die mit abgeschlossener akademischer Ausbildung in der Bundesrepublik ankamen. Sie gehörten einer christlichen Minderheit an und es war von vorneherein klar, dass Atman ein hervorragender Schüler und Gymnasiast sein würde, und später ein exzellenter Diplomingenieur einer renommierten Fachhochschule seiner neuen Heimat.
Das alles sagt noch nicht viel über Atman aus. Sein leicht dunkler Teint, seine feinen Gesichtszüge, sein bedachtes Wesen, hinter dem sich eine cholerische Tendenz versteckte, sagen ebenfalls wenig. Vielleicht können wir uns Atman besser vorstellen, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass er nie geheiratet hat, und mit neunundvierzig immer noch jung scheint, ein junger Mann, klug sensibel, wie gesagt, manchmal auch zornig. Ein Mann, dessen beste Freundin 78 Jahre alt ist, eine Künstlerin, die mit eisernem Willen jedes Jahr ihrem Werk neue Gemälde hinzufügt, eine gelungene Mischung aus Volkskunst und moderner Glasmalerei.
Atman ist dem Charme dieser dunkelhaarigen eleganten Seniorin völlig verfallen. Aber trotzdem hat er nicht immer Zeit für sie. Denn da gibt es noch eine andere ältere Dame in seinem Leben. „Maman“ wie er gerne auf frz. Sagt. Mit Maman gibt es immer wieder Sorgen und Kummer. Er war an ihrer Seite, als sie von Papa verlassen wurde. Seine Brüder nicht. Er war da, als Maman Witwe wurde und sich im Dschungel deutscher Bürokratie zurecht finden musste. Seine beiden Brüder nicht.
Dann fügte es sich, dass er wenig Aufträge hatte, als Maman krank wurde. Er begleitete sie zum Arzt, und zum Facharzt. Wenige Wochen später in die Rehaklinik unweit der Kleinstadt. Diese lag mitten in einem Park, war aber so unsinnig gestaltet, mit einem zwar großen aber kasernenartig eingerichteten Schlafsaal, dass Maman sich unweigerlich eingeschlossen fühlte. Sie war eine Gefangene, sagte sie zu Atman, wie damals vor dem Verlassen der Türkei, als es der christlichen Minderheit bereits nicht mehr so gut ging.
Atman fand sich jetzt wohl oder übel zwei Mal täglich in der Klinik ein, weil seine Mutter nur aß, wenn er sie fütterte. „Armes Vögelchen,“ sagte er in ihrer Sprache und sie lachte. Atman wartete, er wartete darauf, was der Arzt sagen würde, doch seine Mutter verlor nicht nur den Appetit, wogegen er noch ankam, nun schlief sie nicht mehr. Man sagte ihm, sie bleibe auf der Bettkante sitzen und schaukele hin- und her. Obwohl er dem Personal und dem diensthabenden Arzt mehrfach mitteilte, dass Schlaf- und Beruhigungsmittel eine desaströse Wirkung auf die Mutter hätten, merkte er, dass man sie insgeheim weiterhin mit solchen Pillen ruhig stellte.
Er konnte nicht nur bei der Mutter sitzen und ihre Hand halten, so kam es, dass er just dann abwesend war, als ihr wieder einmal die Decke auf den Kopf fiel und sie es nicht mehr aushielt. Sie verließ, scheinbar ohne irgendwelche nennenswerte Schwierigkeit, das Gebäude und befand sich im Nachthemd und Hauspantoffeln in der belebten Marktstraße am Rathaus. Eine Polizeibeamtin nahm sich ihrer an, das Personal rief Atman an, sein Handy war glücklicherweise eingeschaltet.
Sofort ging er daran, die bereits geplante Türkeireise vorzuverlegen, denn der Arzt sagte, sie brauche ein ihr vertrautes Umfeld, das freundliche, aber doch meist unbeholfene, wenig einfühlsame Schwaben habe da wenig zu bieten. Sie flogen zu zweit, die beiden Brüder würden nachfolgen, nach Istanbul. Dort hoffte er die Mutter wenigstens soweit beruhigen zu können, dass sie nachts in einem geräumigen Zimmer mit Matratzen und Decken auf türkische Art ausgestattet (mit großen Betttüchern und Wolldecken anstelle der Wattekissen und Wattedecken, in denen die Deutschen ihre Nachtruhe versenkten) den erholsamen nachzuholenden Schlaf finden würde.
Doch so leicht sollte es nicht sein. Atman saß bereits seit vier Minuten vor dem Computer-Tomograph, den sein Onkel, ein bekannter Internist, ihm und der Schwester unbedingt vorführen müsste. Auf Atmans Einwand, die Mutter brauche vor allem Schlaf, alle anderen Probleme seien operativ vollständig entfernt worden, hatte der Bruder nur gemeint: „Morgen“ kann es zu spät sein. Der Tomograph der Klinik sei das neueste Modell und habe eine verfeinerte graphische Wiedergabe. Man wisse dann mehr über ihren Zustand.
Er wartete. So hatte er immer gewartet, schien ihm. Darauf, dass das Problem der Mutter endlich benannt würde. Darauf dass die Männer der Familie heilende, helfende, lindernde Hand anlegten. Und immer war es auch ein Warten darauf, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu dürfen, das Warten darauf, anerkannt zu sein, nicht als der Sohn. Als der Mann. Der Mann, der er war, trotz dieser lange andauernden Anhänglichkeit, die ihn zum Muttersöhnchen machte. Der er nicht war. Der er NICHT WAR!
Er hörte das Röcheln und dachte sich zunächst nichts dabei. Dann sah er wie die Krankenschwestern rannten. Dann sah er die Bestürzung des Onkels. Dann fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: was für ein Dummkopf er war! Er hätte die Verantwortung übernehmen müssen. Er hätte sie früher aus der Klinik herausholen müssen. Er hätte nicht warten sollen. Er hätte handeln sollen. Sofort. Nicht warten.
Renate Reismann © 2013, 30. Juni
Atmans Eltern stammten aus Istanbul. Seine Eltern gehörten zu den wenigen Einwanderern der frühen 60iger Jahre, die mit abgeschlossener akademischer Ausbildung in der Bundesrepublik ankamen. Sie gehörten einer christlichen Minderheit an und es war von vorneherein klar, dass Atman ein hervorragender Schüler und Gymnasiast sein würde, und später ein exzellenter Diplomingenieur einer renommierten Fachhochschule seiner neuen Heimat.
Das alles sagt noch nicht viel über Atman aus. Sein leicht dunkler Teint, seine feinen Gesichtszüge, sein bedachtes Wesen, hinter dem sich eine cholerische Tendenz versteckte, sagen ebenfalls wenig. Vielleicht können wir uns Atman besser vorstellen, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass er nie geheiratet hat, und mit neunundvierzig immer noch jung scheint, ein junger Mann, klug sensibel, wie gesagt, manchmal auch zornig. Ein Mann, dessen beste Freundin 78 Jahre alt ist, eine Künstlerin, die mit eisernem Willen jedes Jahr ihrem Werk neue Gemälde hinzufügt, eine gelungene Mischung aus Volkskunst und moderner Glasmalerei.
Atman ist dem Charme dieser dunkelhaarigen eleganten Seniorin völlig verfallen. Aber trotzdem hat er nicht immer Zeit für sie. Denn da gibt es noch eine andere ältere Dame in seinem Leben. „Maman“ wie er gerne auf frz. Sagt. Mit Maman gibt es immer wieder Sorgen und Kummer. Er war an ihrer Seite, als sie von Papa verlassen wurde. Seine Brüder nicht. Er war da, als Maman Witwe wurde und sich im Dschungel deutscher Bürokratie zurecht finden musste. Seine beiden Brüder nicht.
Dann fügte es sich, dass er wenig Aufträge hatte, als Maman krank wurde. Er begleitete sie zum Arzt, und zum Facharzt. Eine Operation, die nicht besser hätte verlaufen können. Wenige Wochen später verlegte man sie in die Rehaklinik unweit der Kleinstadt. Diese lag mitten in einem Park, war aber so unsinnig gestaltet, mit einem zwar großen aber kasernenartig eingerichteten Schlafsaal, dass Maman sich unweigerlich eingeschlossen fühlte. Sie war eine Gefangene, sagte sie zu Atman, wie damals vor dem Verlassen der Türkei, als es der christlichen Minderheit bereits nicht mehr so gut ging.
Atman fand sich jetzt wohl oder übel zwei Mal täglich in der Klinik ein, weil seine Mutter nur aß, wenn er sie fütterte. „Armes Vögelchen,“ sagte er in ihrer Sprache und sie lachte. Atman wartete, er wartete darauf, was der Arzt sagen würde, doch seine Mutter verlor nicht nur den Appetit, wogegen er noch ankam, nun schlief sie nicht mehr. Man sagte ihm, sie bleibe auf der Bettkante sitzen und schaukele hin- und her. Obwohl er dem Personal und dem diensthabenden Arzt mehrfach mitteilte, dass Schlaf- und Beruhigungsmittel eine desaströse Wirkung auf die Mutter hätten, merkte er, dass man sie insgeheim weiterhin mit solchen Pillen ruhig stellte.
Er konnte nicht nur bei der Mutter sitzen und ihre Hand halten, so kam es, dass er just dann abwesend war, als ihr wieder einmal die Decke auf den Kopf fiel und sie es nicht mehr aushielt. Sie verließ, scheinbar ohne irgendwelche nennenswerte Schwierigkeit, das Gebäude und befand sich im Nachthemd und Hauspantoffeln in der belebten Marktstraße am Rathaus. Eine Polizeibeamtin nahm sich ihrer an, das Personal rief Atman an, sein Handy war in den letzten Tagen immer eingeschaltet.
Sofort ging er daran, die bereits geplante Türkeireise vorzuverlegen, nicht der Türkei wegen, sondern wegen der Hochzeit einer Enkelin. Dem deutschen Arzt, einem kühlen Kapitänssohn aus Lübeck, überzeugte eine solche Reise sofort. Er unterstütze ein solches Vorhaben: sie brauche ein ihr vertrautes Umfeld. Mit dem trockenen Humor, der ihn charakterisierte, meinte er, das freundliche, aber doch meist unbeholfene, wenig einfühlsarme Schwabenländle, habe da wenig zu bieten.
Sie flogen zu zweit, die beiden Brüder würden nachfolgen, nach Istanbul. Dort hoffte er die Mutter wenigstens soweit beruhigen zu können, dass sie nachts in einem geräumigen Zimmer mit Matratzen und Decken auf türkische Art ausgestattet (mit großen Betttüchern und Wolldecken anstelle der Wattekissen und Wattedecken, in denen die Deutschen ihre Nachtruhe versenkten) den erholsamen nachzuholenden Schlaf finden würde.
Doch so leicht sollte es nicht sein. Atman saß bereits seit vier Minuten vor dem Computer-Tomograph, den sein Onkel, ein bekannter Internist, ihm und der Schwester unbedingt vorführen musste. Auf Atmans Einwand, die Mutter brauche vor allem Schlaf, alle anderen Probleme seien operativ vollständig entfernt worden, hatte der Bruder nur gemeint: „Morgen“ kann es zu spät sein. Der Tomograph der Klinik sei das neueste Modell und habe eine verfeinerte graphische Wiedergabe. Man wisse dann mehr über ihren Zustand.
Er wartete. So hatte er immer gewartet, schien ihm. Darauf, dass das Problem der Mutter endlich benannt würde. Darauf, dass die Männer der Familie heilende, helfende, lindernde Hand anlegten. Und immer war es auch ein Warten darauf, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu dürfen, das Warten darauf, anerkannt zu sein, nicht als der Sohn. Als der Mann. Der Mann, der er war, trotz dieser lange andauernden Anhänglichkeit, die ihn zum Muttersöhnchen machte. Der er nicht war. Der er NICHT WAR!
Er hörte das Röcheln und dachte sich zunächst nichts dabei. Dann sah er wie die Krankenschwestern rannten. Dann sah er die Bestürzung des Onkels. Dann fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: was für ein Dummkopf er war! Er hätte die Verantwortung übernehmen müssen. Er hätte sie früher aus der Klinik herausholen müssen. Er hätte nicht warten sollen. Er hätte handeln sollen. Sofort. Nicht warten.
Pochte es in ihm, unaufhörlich.
Renate Reismann © 2013, 30. Juni
erste Fassung
Nicht warten, handeln
Atmans Eltern stammten aus Istanbul. Seine Eltern gehörten zu den wenigen Einwanderern der frühen 60iger Jahre, die mit abgeschlossener akademischer Ausbildung in der Bundesrepublik ankamen. Sie gehörten einer christlichen Minderheit an und es war von vorneherein klar, dass Atman ein hervorragender Schüler und Gymnasiast sein würde, und später ein exzellenter Diplomingenieur einer renommierten Fachhochschule seiner neuen Heimat.
Das alles sagt noch nicht viel über Atman aus. Sein leicht dunkler Teint, seine feinen Gesichtszüge, sein bedachtes Wesen, hinter dem sich eine cholerische Tendenz versteckte, sagen ebenfalls wenig. Vielleicht können wir uns Atman besser vorstellen, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass er nie geheiratet hat, und mit neunundvierzig immer noch jung scheint, ein junger Mann, klug sensibel, wie gesagt, manchmal auch zornig. Ein Mann, dessen beste Freundin 78 Jahre alt ist, eine Künstlerin, die mit eisernem Willen jedes Jahr ihrem Werk neue Gemälde hinzufügt, eine gelungene Mischung aus Volkskunst und moderner Glasmalerei.
Atman ist dem Charme dieser dunkelhaarigen eleganten Seniorin völlig verfallen. Aber trotzdem hat er nicht immer Zeit für sie. Denn da gibt es noch eine andere ältere Dame in seinem Leben. „Maman“ wie er gerne auf frz. Sagt. Mit Maman gibt es immer wieder Sorgen und Kummer. Er war an ihrer Seite, als sie von Papa verlassen wurde. Seine Brüder nicht. Er war da, als Maman Witwe wurde und sich im Dschungel deutscher Bürokratie zurecht finden musste. Seine beiden Brüder nicht.
Dann fügte es sich, dass er wenig Aufträge hatte, als Maman krank wurde. Er begleitete sie zum Arzt, und zum Facharzt. Wenige Wochen später in die Rehaklinik unweit der Kleinstadt. Diese lag mitten in einem Park, war aber so unsinnig gestaltet, mit einem zwar großen aber kasernenartig eingerichteten Schlafsaal, dass Maman sich unweigerlich eingeschlossen fühlte. Sie war eine Gefangene, sagte sie zu Atman, wie damals vor dem Verlassen der Türkei, als es der christlichen Minderheit bereits nicht mehr so gut ging.
Atman fand sich jetzt wohl oder übel zwei Mal täglich in der Klinik ein, weil seine Mutter nur aß, wenn er sie fütterte. „Armes Vögelchen,“ sagte er in ihrer Sprache und sie lachte. Atman wartete, er wartete darauf, was der Arzt sagen würde, doch seine Mutter verlor nicht nur den Appetit, wogegen er noch ankam, nun schlief sie nicht mehr. Man sagte ihm, sie bleibe auf der Bettkante sitzen und schaukele hin- und her. Obwohl er dem Personal und dem diensthabenden Arzt mehrfach mitteilte, dass Schlaf- und Beruhigungsmittel eine desaströse Wirkung auf die Mutter hätten, merkte er, dass man sie insgeheim weiterhin mit solchen Pillen ruhig stellte.
Er konnte nicht nur bei der Mutter sitzen und ihre Hand halten, so kam es, dass er just dann abwesend war, als ihr wieder einmal die Decke auf den Kopf fiel und sie es nicht mehr aushielt. Sie verließ, scheinbar ohne irgendwelche nennenswerte Schwierigkeit, das Gebäude und befand sich im Nachthemd und Hauspantoffeln in der belebten Marktstraße am Rathaus. Eine Polizeibeamtin nahm sich ihrer an, das Personal rief Atman an, sein Handy war glücklicherweise eingeschaltet.
Sofort ging er daran, die bereits geplante Türkeireise vorzuverlegen, denn der Arzt sagte, sie brauche ein ihr vertrautes Umfeld, das freundliche, aber doch meist unbeholfene, wenig einfühlsame Schwaben habe da wenig zu bieten. Sie flogen zu zweit, die beiden Brüder würden nachfolgen, nach Istanbul. Dort hoffte er die Mutter wenigstens soweit beruhigen zu können, dass sie nachts in einem geräumigen Zimmer mit Matratzen und Decken auf türkische Art ausgestattet (mit großen Betttüchern und Wolldecken anstelle der Wattekissen und Wattedecken, in denen die Deutschen ihre Nachtruhe versenkten) den erholsamen nachzuholenden Schlaf finden würde.
Doch so leicht sollte es nicht sein. Atman saß bereits seit vier Minuten vor dem Computer-Tomograph, den sein Onkel, ein bekannter Internist, ihm und der Schwester unbedingt vorführen müsste. Auf Atmans Einwand, die Mutter brauche vor allem Schlaf, alle anderen Probleme seien operativ vollständig entfernt worden, hatte der Bruder nur gemeint: „Morgen“ kann es zu spät sein. Der Tomograph der Klinik sei das neueste Modell und habe eine verfeinerte graphische Wiedergabe. Man wisse dann mehr über ihren Zustand.
Er wartete. So hatte er immer gewartet, schien ihm. Darauf, dass das Problem der Mutter endlich benannt würde. Darauf dass die Männer der Familie heilende, helfende, lindernde Hand anlegten. Und immer war es auch ein Warten darauf, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu dürfen, das Warten darauf, anerkannt zu sein, nicht als der Sohn. Als der Mann. Der Mann, der er war, trotz dieser lange andauernden Anhänglichkeit, die ihn zum Muttersöhnchen machte. Der er nicht war. Der er NICHT WAR!
Er hörte das Röcheln und dachte sich zunächst nichts dabei. Dann sah er wie die Krankenschwestern rannten. Dann sah er die Bestürzung des Onkels. Dann fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: was für ein Dummkopf er war! Er hätte die Verantwortung übernehmen müssen. Er hätte sie früher aus der Klinik herausholen müssen. Er hätte nicht warten sollen. Er hätte handeln sollen. Sofort. Nicht warten.
Renate Reismann © 2013, 30. Juni