Leichenschmaus

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 03.11.2013, 16:00

Plötzlich konnte M. gut sehen und hören, überhaupt sehen und hören, denn sie war am Schluss sozusagen blind und taub gewesen.
Was sieht sie? Feiernde Leute im hinteren, großen Raum des Restaurants, wo sie selbst des Öfteren gewesen war. Die Tische sind in U-Form aufgestellt. Ohne Ausnahme kennt sie die dort versammelten Leute, etwa zwanzig, fast ausschließlich Familienangehörige.
Keine einzige Freundin, kein einziger Freund ... Kein Wunder, sie sind alle tot. Einundneunzig Jahre ist sie jetzt.
Ein Bild von ihr haben sie auf dem vordersten Tisch aufgestellt, an einen Kühleimer gelehnt. Ein hübsches Foto, sie sieht es jetzt zum ersten Mal, bis jetzt hatte sie es sich nur vorstellen können, und gar nicht so alt sieht sie darauf aus, ja, ihr gefällt der Blick ihrer Augen, obwohl sie damals nur einen einzigen Punkt erblicken konnte. Irgendwie souverän wirkt sie da. Mit der riesigen bunten Kette und der goldenen Armbanduhr.
Alle sind beim Essen und Kaffee trinken, was sie nicht daran hindert, sich aufgeregt miteinander, sogar über mehrere Tische hinweg zu unterhalten.
Was gibt es zu essen? Das Übliche: Mit Käse, Lachs, Forelle und Schinken belegte Brötchen. Hübsch hat man sie mit zerhackten schwarzen Oliven, Meerrettich und einem dünnen Streifen roten Paprikas garniert.
Sie stellt fest, dass sie ihr Gehör beliebig einstellen kann, was ihr bei dem Hörgerät nie gelang, sie stellt es auf Minimum, da hört sich alles wie ein leises, angenehmes Summen an, wie schläfrige Bienen oder Wespen.
Sie wird langsam müde. Warum hier alle versammelt sind? Am liebsten würde sie sich hinlegen und schlafen.
Ihre Augen auf dem Foto fallen zu.


Ich möchte mich hiermit bei Scarlett für ihre wertvollen Korrekturen herzlichst bedanken!

Und auch bei Birke!
Zuletzt geändert von Klimperer am 06.11.2013, 11:23, insgesamt 4-mal geändert.

scarlett

Beitragvon scarlett » 04.11.2013, 08:34

mir gefällt diese miniatur, carlos.
sie hat atmosphäre und der schlusssatz ist genial.

sprachliche feinarbeit könnte der text noch vertragen- soll ich mal?

salut,
scarlett

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 04.11.2013, 09:00

Ich bitte darum, liebe Scarlett!

scarlett

Beitragvon scarlett » 04.11.2013, 09:17

mach ich carlos, im laufe des tages ...
jetzt gehts erstmal zu ikea ... *graus*

sca

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.11.2013, 10:43

Hola Carlos,

ich mag solche skurrilen Geschichten. Der Schlusssatz ist klasse. ,-)
Ja, sind ein paar Fehlerchen drin. Aber ich lass Monika mal machen.

Saluditos
Gabriella

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 04.11.2013, 12:12

Hola Gabriella,

ich hatte wieder angefangen, mir Gedanken zu machen, ich merke es immer, wenn du ein paar Tage lang nichts schreibst ...

Es freut mich, dass dir das Geschichtchen gefällt. Ich wollte damit sagen, woran ich glaube, dass in Wirklichkeit niemand wirklich glaubt, er selbst könnte der Grund für einen Leichenschmaus sein: Nicht einmal der Tote selbst!

Ich gllaube fest daran.


Espero que estés bien,

Carlos

ecb

Beitragvon ecb » 04.11.2013, 20:54

Erinnert mich ein bißchen an Harry Potter, wo die Toten in ihren Portraits leben und sich bewegen und von einem Bild zum andern spazierengehen und ihre Nachbarn besuchen - irgendwie eine sehr sympathische Vorstellung. :-)

Liebe Grüße
Eva

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 04.11.2013, 23:57

Vielen Dank, Eva.

Ich habe nur das erste Harry Potter Buch gelesen, wer weiß, vielleicht habe ich da die Idee aufgeschnappt!

Ich wollte eigentlich mehr darüber schreiben, aber ich bin zu faul, ich habe ganz schnell das Ende gesucht.

Im Grunde meines Herzen bin ich doch ein Lyriker.

Vorhin habe ich über die Scharbe geschrieben, die ich am Rhein sah: Es war wirklich so. Das letzte mal, dass ich so einen Vogel gesehen hatte, lag mindestens zwanzig Jahre zurück ...

Ich bin froh darüber, dass du im Forum tätig bist.

Carlos

scarlett

Beitragvon scarlett » 05.11.2013, 13:30

gern hab ich deinen text durchgeschaut, carlos.
möglicherweise hab ich was übersehen, dann bitte! melden.

ein ansprechender atmosphärischer text, ja!

sca

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birke
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Beitragvon birke » 05.11.2013, 13:50

der text gefällt mir sehr gut, lieber carlos. diese perspektive ist klasse. :daumen:

ein paar sprachliche dinge sind mir allerdings noch aufgefallen:
(vielleicht dir auch bei scarletts korrekturen durchgerutscht??)

Ohne Ausnahme kennt sie alle die dort versammelten Leute
, - hier würde ich das „die“ vor "dort" streichen oder aber auch "alle" (denn "ohne Ausnahme" beinhaltet ja schon, dass es "alle" sind ...)

... sie sich es nur vorstellen ...
– sie es sich nur vorstellen können …

und gar nicht so alt sieht sie da drauf,
- hier fehlt ein „aus“

Alle sind am Essen und Kaffee trinken
– „beim“ Essen und Kaffee trinken wäre schöner

einem dünnen Streifen roten Paprikas
– etwas umständlich und in der Einzahl hier auch nicht ganz richtig (?)– vielleicht einfach „dünnen Paprikastreifen“??

da hört sich alles wie ein leises, angenehmes Summen
, - dort fehlt ein „an“


sehr gerne gelesen, carlos, überhaupt mag ich deine unaufgeregte erzählweise, auch in anderen texten.

herzlich
birke
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

https://versspruenge.wordpress.com/

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 06.11.2013, 11:46

Liebe Birke,

vielen vielen Dank für deine Korrekturen!

Immer wieder empfinde ich es als eine Anmaßung, zu glauben, ich würde die deutsche Sprache beherrschen: Das wird mir nie gelingen. Über vierzig Jahre lerne ich schon, tagtäglich, es könnten aber hundert Jahre vergehen und ich würde es doch nicht beherrschen, diese einmalige, großartige Sprache!

Es schon soweit gebracht zu haben füllt mich mit Stolz. Ich habe mir einen Traum erfüllt, von dem viele Menschen nur träumen können. Von allen die Philosophie studieren, zum Beispiel. Borges lernte Deutsch, wie er sagt, um Schopenhauer im Original lesen zu können.

Allein die Tatsache, dass es im Deutschen drei Geschlechter gibt, erschwert unheimlich das Erlernen. Ich erlebe selbst das täglich: Heute morgen befiel mir der Zweifel über den Genus von "Lob", ich musste im Wörterbuch nachschlagen.

Etwas, was die Deutschen gut können, ist Teamarbeit, auf jedenfall viel besser als in südlichen Ländern. Hier gibt es, zum Beispiel, sehr gute Lehrbücher um Latein im Selbstunterricht zu lernen. Ich kenne sie alle, und fast alle sind ein Produkt von Gemeinschaftsarbeit. Vergeblich habe ich etwas Vergleichbares in Spanien gesucht.

Im Bezug auf meinen kleinen Text: auf die Gefahr hin, pedantisch zu wirken, habe ich den Paprikastreifen so stehen lassen: Es war tatsächlich nur einen!

Ich danke dir von ganzem Herzen, liebe Birke,

Carlos

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Beitragvon birke » 06.11.2013, 12:01

oh, lieber carlos, das hab ich sehr, sehr gern gemacht.
und ich freu mich, dass du meine anmerkungen aufgegriffen hast.

du beherrschst diese (echt komplizierte) sprache schon ganz schön gut (vermutlich besser als mancher deutsche!) - sonst könntest du wohl kaum solche texte schreiben :smile:
(das war ja jetzt echter feinschliff.)
außerdem bist du offenbar lern- und wissbegierig und das wird dich immer weiter bringen und noch sicherer werden lassen! ich bewundere das, ich wünschte, ich könnte eine fremdsprache nur annähernd so gut wie du.
da kannst du gehörig stolz drauf sein! :daumen:

von herzen liebe grüße,
birke
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

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