Beschleunigung

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 11.01.2014, 20:41

Während des Studiums nahm ich an einem Workshop für Selbstverteidigung teil. Ich lebte in Hamburg, einer schon damals oft recht unruhigen Stadt, und ich dachte mir: Schaden kann’s nicht! Egal, ob ein Gangster oder ein Polizist dich anfällt – du solltest wissen, wie du dich verhalten musst, um möglichst ungeschoren davon zu kommen! Eine der ersten Lektionen war die, dass man den Schwung des Angreifers gegen denselben nutzen sollte – ihm ausweichen und die Energie seines Angriffs so verstärken, dass er stürzt. Das hat mir nicht nur eingeleuchtet, ich habe mit dieser Methode so manchen Erfolg erzielt. Sogar auf das edle Schachspiel lässt sie sich übertragen! Und sollte sie nicht auch in Politik umsetzbar sein? Ist es nicht altmodisch, mit breiter Brust, mit Zeltlagern und Transparenten dem Kapitalismus entgegenzutreten, als würde den das auch nur im geringsten jucken? Gibt es denn nicht im Kapitalismus selbstzerstörerische Tendenzen, die der Antikapitalist unterstützen sollte – bis zur völligen wachstumsbedingten Selbstzerstörung eines die Erde, das Klima und die Menschheit zunehmend gefährdenden Systems? Das propagiert eine Londoner Gruppe, die sich accelerationists, Akzelerationisten, Beschleuniger, nennen. Wie sie es genau und im einzelnen anstellen wollen, die Beschleunigung in die Tat umzusetzen, ist mir nicht völlig klar. Vor allem plagt mich ein Zweifel: Werden Menschheit, Erde und Klima den Zusammenbruch dieses Systems überleben? Werden sie nicht mit ihm apokalyptisch zugrunde gehen wie die Krankheitserreger mit ihrem Opfer? In diesem Punkt bleiben die Aussagen der Akzelerationisten vage. Sie verlangen für die postkapitalistische Wirtschaft – die es nach ihrem Manifest zweifellos geben wird – sehr viel Planung und auch nicht nur inklusive, sondern exklusive, vertikale Herrschaft. Ist die grüne Diktatur auf dem Anmarsch? Ein bisschen klingt es danach. Also werde ich mich doch lieber an die „verknöcherten“ Gewerkschaften halten und den Kapitalismus nicht beschleunigen, sondern verlangsamen. Auch wenn die Gefahr besteht, dass ich mich in „neo-primitivistischem Lokalismus“ (das zielt auf occupy) verzettele, „als könne man sich der abstrakten Gewalt des globalisierten Kapitals mit der fadenscheinigen und flüchtigen ‚Authentizität’ der unmittelbaren Gemeinschaft widersetzen.“

http://syntheticedifice.files.wordpress ... nifest.pdf
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

aram
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Beitragvon aram » 11.01.2014, 21:15

lieber quoth,

sehr schön zu lesen, dabei interessant, konkret und mit reiner schönen leichten ironie bei gleichzeitiger berührtheit, einer art 'ironie im und mit engagement', auch voller staunen und wissen wollen, ohne an 'lösungsfindung' glauben zu müssen uns sich damit zu verkeilen.

für mich brach der text fast ab; ich hätte dieses beschwingte unaufgeregte und gedanklich durchdrungene lange weiterlesen können (was eher selten vorkommt, viel öfter sind mir texte nach einigen sätzen schon zu lang)

- der text macht also lust und weckt interesse; was ich bei solchem thema besonders gut und gelungen finde.

liebe grüße!

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.01.2014, 21:33

Den Angreifer in seinen eigenen Schwung hineinlaufen zu lassen: -- Interessante Idee, dieses Prinzip auch in Disziplinen außerhalb des Kampfsports anzuwenden. In meiner Jugend wurde mir Judo beigebracht, das war klasse, und das Prinzip ließ sich tatsächlich auch in anderen körperlichen Sozial-Situationen erfolgreich anwenden. Aber wie mag das in politischen Situationen funktionieren? Um Schwung zu bekommen, benötigst du auf jeden Fall einen Angriff. Bei Merkel, zum Beispiel, kommt dir nicht viel Schwung entgegen :-)


Ahoy

P.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 12.01.2014, 17:12

Vielen Dank, Aramis, für die freundlichen Worte. Vielleicht setze ich meine Betrachtungen mal fort mit ein paar Vorschlägen, wie die Beschleunigung vorangetrieben werden soll! Hast Du in das Manifest mal hineingeschaut? Es hat einen Formulierungsfaltenwurf, dem ich mich nur schwer entziehen kann.

Die Merkel, lieber Pjotr, ist in der Tat keine brauchbare Adressatin, zumal sie seit der Energiewende eindeutig zu den Verzögerern gehört. Die zu beschleunigenden Beschleuniger sitzen woanders und werden durch Extraboni belohnt für jede ihrer Wahnsinnstaten, von denen sie viel mehr begehen sollten! Auch Dich würde ich bitten, zumindest mal einen Leseversuch in dem Manifest zu machen. Ich finde es passagenweise richtig mitreißend!
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nera
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Beitragvon nera » 24.01.2014, 20:41

ich habe zumindest damit angefangen, diesen text zu lesen. hier:
"Wir müssen eine
gemeinschaftlich kontrollierte legitime vertikale
Autorität
mit verteilten horizontalen Formen der Vergesellschaftung aufbauen,
um der Versklavung durch einen tyrannischen totalitären Zentralismus oder
einer unberechenbar entstehenden Ordnung außerhalb
unserer Kontrolle zu
entgehen. Das Gebot des PLANS muss mit der improvisierten Ordnung"
habe ich aufgehört. jesses! das löst bei mir eine allergie aus. und bei einem kräftigen nieser versagen alle meine eingeübten selbstverteidigungsstrategien.

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 24.01.2014, 23:18

Interessanter Plan. Klingt ein bißchen nach China, wo man, soweit ich es verstehe, den Kapitalismus "simuliert", aus dessen Widersprüchen ja der Kommunismus hervorgehen soll, um ihn anschließend zu überwinden. Ich sehe nur nicht ganz, wozu es gut sein soll - wenn der Zusammenbruch nach Ansicht der Initiatoren ohnehin kommt, warum kann man ihn dann nicht einfach abwarten? Oder haben sie Grund zu der Annahme, ihre Beschleunigung würde in irgend einem Sinn den "Gesamtschaden" geringer halten?
Wie dem auch sei, ich halte mich vorerst auch lieber an Gewerkschaften etc.

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nera
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Beitragvon nera » 25.01.2014, 12:46

so, ich hab wieder versucht das manifest zu lesen. das dauert halt, weil ich eine proletarische teilidentität bin, etwas länger. mich erschreckt schon vor dem (teilweisen) verstehen der duktus dieses manifestes. die sprache ist mir unangenehm und erinnert mich, was wahrscheinlich sehr weit hergeholt ist, an den seltsamen kampfspruch der spanischen faschisten " es lebe der tod". ich kann das jetzt nicht genau ausführen, es würde zu lange dauern.
letztendlich verstehe ich den text so, dass diese neue linke kapitalistische und totalitäre mittel benutzten möchte, um an die macht zu kommen und dabei die zerstörung des planeten in kauf nehmen, um dann mit dem rest der menscheit, planmäßig strukturiert durch rechtmäßige autorität (im gegensatz zu unrechtmäßigen autorität des neoliberalismus) ins weltall zu entfleuchen, um dort utopia aufzubauen.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 26.01.2014, 09:58

Oder haben sie Grund zu der Annahme, ihre Beschleunigung würde in irgend einem Sinn den "Gesamtschaden" geringer halten?
Ich glaube, Mnemosyne, dieser Meinung sind sie, aber ich will mir das bei Merve erschienene Büchlein besorgen ("Akzeleration", herausgegeben von Armen Avanessian), um mehr zu erfahren.

Ja, Deine Zusammenfassung hat was, Nera. Dass der Text zum Teil etwas politschwurbelig ist, fällt in einem sprachbewussten Forum wie diesem natürlich besonders auf, aber niemand erwartet ja auch von jungen Politologen, dass sie Gedichte schreiben (hat Karl Marx übrigens getan!). Und nach einiger Zeit komme ich in die Terminologie ganz gut hinein. Dein letztes Foto im Sammelsurium (überhelle Sonne über endzeitlicher grauer Felsenlandschaft mit vereinzelt herumirrenden Menschen) vermittelt übrigens eine Stimmung, als hättest Du es nach der Lektüre hergestellt!
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nera
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Beitragvon nera » 26.01.2014, 11:55

der text löst dieses unbehagen nicht durch sein politgeschwafel aus, sondern durch seine manipulative sprache. was soll dieser satz zb. genau bedeuten? "Aber das bedeutet nicht, dass wir uns mit den müden Überbleibseln der Post-moderne gemein machen, die Beherrschung als proto- faschistisch verschreien und Autorität an sich als illegitim." die art und weise, wie in diesem ganzen text formuliert wird, liest sich für mich polarisierend und verschleiernd. was soll das heißen: "die zukunft muss neu konstruiert werden. sie wurde vom neoliberalen kapitalismus zerstört und auf das billige versprechen größerer ungleicheit,größeren konflikts und größerer unordnung reduziert." he??? und dann wieder ein satz, der das alles absurdum führt? die zerstörte zukunft ist also reduziert. was den nun? und welche zukunft kann man wirklich konstruieren? wenn ich den prophezeiten weltuntergang doch beschleunige, was bleibt dann an zukunft???? fragen über fragen.

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nera
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Beitragvon nera » 26.01.2014, 12:00

ach ja, zu deinem letzten satz quoth: ja und nein. ich/ wir (in meinem bekanntenkreis)setzte mich im moment schon ziemlich mit dieser ganzen thematik auseinander und ich bemerke eine seltsame verschiebung in jeweilige positionen rechts und links. das beschäftigt mich schon.


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