Barbara geht zu einer Lesung
Verfasst: 27.01.2014, 00:11
Barbara geht zu einer Lesung
Da war der Mieter. Die ganze Zeit dachte sie an ihn.
Barbara kochte Kaffee, schaute durch das Küchenfenster auf die Straße, setzte sich im Wohnzimmererker an die Nähmaschine und säumte Vorhänge, schaute zwischendurch auf die Straße, bügelte die Säume aus und schaute auf die Straße. Trotzdem verpasste sie den Mieter, als er ins Haus ging. Eine Minute woandershin geschaut und schon war er drin. Sie hörte ihn in der Wohnung über ihrem Kopf rumpeln (er rumpelte sehr rücksichtsvoll) und überlegte, ob sie gleich hinauf gehen sollte. Konfrontation. Sie hatte immer so nette und zuverlässige Mieter gehabt. Junge Männer meistens. Der letzte war Ingenieur gewesen und arbeitete in einem, wie er es nannte, Recyclingunternehmen. Leider hatte man ihn nach zwei Jahren irgendwohin versetzt. Es war nicht einfach, einen neuen Mieter zu finden.
Und nun war dieser da, der eben schon wieder die Treppe hinuntersprang – Barbara schob rasch ihren Stuhl zurück, aber bis sie im Flur angekommen war, hatte er längst die Haustür hinter sich zugeschlagen. Vom Küchenfenster aus sah sie gerade noch, wie er im Laufschritt davon hastete; hatte schon die Hand am Fenstergriff, um ihn zurückzurufen … aber dann würde er den Bus verpassen, zu spät zur Arbeit kommen, und sie wäre daran schuld. Und um das Fenster zu öffnen, hätte sie erst vier Blumentöpfe wegräumen müssen, dann …
Warum war sie immer so langsam?
Der Mieter war sehr jung und schmächtig, trug überweite Hosen mit Blasebalgtaschen und hatte blonde Stoppelhaare, die ihm in einer Spitze in die Stirn wuchsen. Bei ihrem ersten Gespräch hatte er geradlinig auf alle Fragen geantwortet:
Arbeit? Klar. Großbäckerei, in Schicht. Barbara nickte. Kannte die Firma. Die hatte im Umkreis von zwanzig Kilometern mindestens ebenso viele Filialen. In der nächstgelegenen kaufte Barbara ihre Brötchen.
Wo hatte er bisher gewohnt? – Ach, ganz in der Nähe.
Und warum zog er dann um? – Seine jetzige Wohnung war so schwer zu heizen. Elektroöfen. Nachtspeicher. Die Stromrechnung steige ins Uferlose. Barbara nickte. Damit kannte sie sich leider aus. Er wollte vor dem Winter etwas Besseres.
Sie fand ihn nett. Er sah sie von unten herauf an und zog die Augenbrauen zu einem umgekehrten V zusammen, wobei sich seine Stirn in komischer Weise faltete. Im Stillen nannte Barbara ihn »meinen Hobbit«.
Der Mietvertrag war gerade einen Tag unterschrieben, da kam ein Anruf von Barbaras Freundin Frauke. Man höre, sie habe einen Neuen? Ob sie sich denn bei seinen früheren Vermietern erkundigt habe? Die wohnten doch nur drei Straßen weiter.
Nein, hatte sie nicht. Es war nicht ihre Art, Leuten hinterher zu schnüffeln. Und woher wusste Frauke so genau, wo der neue Mieter bisher gewohnt hatte?
Ach, man redete halt. Beim Bäcker … Und Frauke fing an, ihren Dialog mit der Bäckereiverkäuferin in allen spitzigen Einzelheiten wiederzugeben.
Wenig später klingelte wieder das Telefon. Diesmal ein Unbekannter, der sich als Winterblum vorstellte und dabei schnaufte, als litte er an Atemnot. Er sei, teilte er mit, der frühere Vermieter.
»Der junge Mann ist sechs Monate im Rückstand«, trompetete er keuchend, »und seit zwei Wochen hatte er auch keinen Strom mehr. Ich hab ihn nicht verklagt. Was soll das bringen? Er hat ja kein Einkommen. Ich war heilfroh, als er freiwillig auszog.«
Barbara hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg.
»Weit fort hat er sich ja nicht getraut. Ich kenne ein paar Leute in der Nachbarschaft. Die haben ihn aus Ihrem Haus kommen sehen. Sie sind doch die mit der Änderungsschneiderei?«
»Woher haben Sie denn meine Telefonnummer?«
»Ja woher wohl, aus dem Telefonbuch natürlich. Sie sind doch die mit der Änderungsschneiderei.«
Am liebsten hätte sie den Hörer aufgeknallt. Stattdessen antwortete sie: »Stimmt auffallend. Soll ich Ihnen einen Kragenknopf versetzen? Sie klingen, als bekämen Sie keine Luft.«
Er wurde noch lauter: »Ich wollte Sie vorwarnen. War nett gemeint, Ach, und jetzt hat er ja Arbeit, habe ich gehört. Dann werde ich mal die Lohnpfändung in die Wege leiten. Auf Wiederhören!«
Klick.
Grässlicher Kerl. Barbara war mit dem Telefon ans Fenster gegangen. Gerade eben trat die Nachbarin von gegenüber aus dem Haus, rieb sich die Hände (sie trug eine Kittelschürze mit scheußlichen Schottenkaros), schaute kritisch herüber (was sollte das denn nun wieder?) und zog sich wieder ins Haus zurück.
Wie nannte man so etwas? Massenstalking?
Sie machte zwei belegte Brote zu Mittag, stellte das Radio an und kochte sich eine Tasse Kaffee, die sie mit an die Nähmaschine nahm. Kaum hatte sie die Arbeit wieder aufgenommen, klingelte das Telefon erneut. Diesmal ihre Tochter Marie.
»Du hast einen Neuen? Wie ist er denn?«
»Ach, ganz in Ordnung, denke ich«, sagte Barbara und fragte sich, warum alle redeten, als ob sie einen Geliebten hätte und nicht bloß einen Mieter.
Marie nervte sie nicht weiter wegen des Mieters. Stattdessen fing sie von einer Autorenlesung an, zu der Barbara unbedingt kommen sollte. Marie gehörte zu den Autoren. »Ich habe Todesangst, Mama, dass niemand kommt.«
Marie schrieb seit zwanzig Jahren Gedichte. Sie hatte anlässlich ihrer ersten unglücklichen Liebe damit begonnen. Damals war sie zwölf. Seitdem beschäftigte sie sich immer wieder damit, grübelte und bosselte. Ab und zu gab sie ihrer Mutter ein Blatt zu lesen.
»Ich komme auf jeden Fall«, versicherte Barbara. »Und bringe ein paar Leute mit. Ich frage Frauke. Und die Nachbarn.«
»Ach nein, lass mal lieber, das sieht so blöd aus … Na gut, aber mach es unauffällig, versprich mir das! Wir lesen in der Galerie. Du kannst dazu sagen, dass auch eine aktuelle Ausstellung in den Räumen ist, vielleicht interessiert das jemanden. Moderne Zeichnungen und Holzschnitte. Ich war heute dort und habe mit den anderen Stühle gestellt …« Sie redete weiter. Barbara schaute aus dem Fenster, sah die Nachbarin, die ihre Haustürklinke polierte, und war einen Moment abgelenkt.
»Und was hast du dir bloß dabei gedacht?«, fragte Marie ungeduldig.
»Was, wieso?« Der Mieter natürlich wieder.
»An so einen zu vermieten? Fragst du denn gar nicht nach, was mit den Leuten ist?«
»Ich komme schon klar!«, erwiderte Barbara spitz.
Marie verabschiedete sich. Sie klang etwas verschnupft, erinnerte aber noch einmal an die Lesung, ehe sie auflegte.
Barbara nähte Raffbänder in die Gardinen. Es war beinahe zehn Uhr abends, als der Mieter von der Schicht kam. Sie fing ihn an der Haustür ab. »Sie haben mich angelogen«, warf sie ihm vor. »Sie sind gar nicht wegen dieser Elektroheizung ausgezogen! Sie haben Schulden!«
»Die Heizung war abgestellt«, gab er zurück, »es war ständig kalt!«
»Ja klar war sie abgestellt! Sie hatten die Stromrechnung nicht bezahlt!«
»Das konnte ich Ihnen doch nicht sagen.« Er zog nervös an den Ärmeln seiner Jacke. Die Jacke war verschlissen und irgendwie haarig. Er sah damit aus wie ein kahlgeknutschtes Plüschtier.
»Wenn Sie nichts sagen können, ohne zu lügen, dann sagen Sie gar nichts!«
»Dann hätten Sie mir die Wohnung nicht vermietet. Was hätte ich denn sonst machen sollen? Ich hatte überhaupt kein Einkommen!«
»Haben Sie denn keine …« Wie nannte man das jetzt? ALG? Hartz 4? Wann bekam man was? Sie wusste es nicht.
»Ich krieg keine Stütze mehr. Ich war eineinhalb Jahre ohne Job.« Er murmelte etwas Unverständliches.
»Ihr Exvermieter hat mir vorhin gesagt, dass er die Lohnpfändung einleiten will. Sechs Monate Rückstand! Wie wollen Sie das alles jemals abstottern? Können Ihre Eltern Sie nicht unterstützen?«
»Die … sind geschieden. Meine Stiefmutter kann mich nicht leiden. Und meine Mutter, die habe ich seit Jahren nicht gesehen. Die ist … in Finnland.«
»Finnland?«, wiederholte Barbara und hatte einen Augenblick lang ein Kalenderblatt vor Augen: ein einsames rotes Haus unter einem Nachthimmel mit grünem Nordlicht. Und ein Saunahäuschen daneben. »Ich kann sie vielleicht im Sommer besuchen. Wenn ich Urlaub kriege. Aber ich arbeite ja erst seit kurzem«, hörte sie. Der arme Kerl. Wollte zu seiner Mutter und konnte nicht, erst wegen Geldmangel, dann wegen der Arbeit. Hoffentlich legte jemand beim Chef ein gutes Wort für ihn ein. Wenn sie vielleicht beim nächsten Brötchenkauf …
Ach, zum Teufel. Bei mir macht er keine Schulden. Beim ersten Rückstand setze ich ihn raus. Urlaub in Finnland! Hatte man je so etwas gehört! Sie schlug ihre Wohnungstür so fest zu, dass der Glaseinsatz klirrte.
Das Telefon klingelte, aber sie ging nicht dran. Das war bestimmt wieder einer von den Nachbarn. Dann fiel ihr ein, dass sie versprochen hatte, ein paar Leute für die Autorenlesung anzuwerben. Einen Augenblick sah sie die Galerie vor sich, die Stuhlreihen; es waren etwa zwanzig Zuhörer da, und in der zweiten Reihe saß sie. Mit männlicher Begleitung. Er lauschte gesammelt und hatte die Hände zwischen die Knie geklemmt. Sie haben mich so richtig angeschmiert. Aber Ich verzeihe Ihnen, wenn Sie mit mir zu einer Lesung gehen.
Ihn brauchte sie nicht zu fragen, er hatte abends Schicht.
Am Ende fragte sie überhaupt niemanden. Sie brachte es nicht über sich, bei den Nachbarn zu klingeln oder anzurufen, und stellte erleichtert fest, dass der Saal auch ohne ihre mütterliche Reklame gut gefüllt war. Um vorher etwas Zeit für die Ausstellung zu haben, war sie eine gute halbe Stunde zu früh gekommen, wanderte zwischen den Stellwänden herum, nippte an ihrem Begrüßungssekt und grüßte ab und zu ein bekanntes Gesicht. Alle schienen sie wissend von der Seite zu mustern und Blicke in ihren abgewandten Nacken zu bohren. So schnell konnte sich das mit dem Mieter doch nicht herumgesprochen haben? Aus dem allgemeinen Stimmengewirr waren Worte wie Stromrechnung und Finnland herauszuhören. So ging das nicht weiter. Bestimmt sah sie Gespenster.
Elektroheizung. Lohnpfändung. Bäckerei. Finnland.
Sie schaute die ausgehängten Bilder an. Alle waren recht klein. An einer der Stellwände hingen Aquarelle: nordische Küstenlandschaften, Dünen und Wellen, Strandhafer und dazwischen eine einzelne Frau mit Schirm. Daneben: aufgewühltes Meer, gelbliche Wolken und wieder die Frau mit dem Schirm. Barbara hatte am Eingang ein Faltblättchen erhalten, auf dem die Namen der Künstler, die Bildtitel und die Verkaufspreise standen. Die Titel waren eher nichtssagend (Strand 1, Strand 2, Strand 3) und die Preise astronomisch. Über sechshundert Euro für ein Kartonviereck von zwölf mal zwanzig Zentimetern Kantenlänge! Dafür müsste sie Hunderte, wenn nicht Tausende von Kilometern Raffband annähen. Barbara sah im Geist ein Gardinenraffband, das dreimal um den Erdball gewickelt war, während sie an einem Ende saß und eifrig nähte.
An der anderen Seite der Stellwand hingen Radierungen, noch kleiner als die Aquarelle und noch teurer. Barbara las in ihrem Faltblättchen nach und schnalzte mit der Zunge. Auf den Bildern waren einzelne Gegenstände oder Menschen zu sehen, ohne jeden Hintergrund auf einen Sockel gestellt: ein Hund, der mit gesenktem Kopf zwischen seinen Beinen hindurchschaute; ein Leiterwagen; ein dicker lachender Mönch; ein Schwein, das mit der Kehrseite zum Betrachter in einer Pfütze lag. Die Bilder waren, obwohl nur eben postkartengroß, von besessener Genauigkeit.
Ein helles Klingeln war zu hören. Jemand klopfte an ein Glas. »Meine Damen und Herren, wenn Sie jetzt bitte Platz nehmen würden, die Lesung beginnt in wenigen Minuten …« Barbaras Blick fiel auf ein Blättchen, das am Ende der Stellwand hing, ziemlich weit unten. Die Zeichnung war so winzig, dass sie sich etwas hinunterbeugen und in unbequemer Haltung das Gesicht heranbringen musste, bis sie fast mit der Nase dagegen stieß. Ein kleiner Teufel hüpfte durch das Bild, ein Knie an die Brust gezogen, das andere Bein nach hinten gestreckt wie ein Sprinter nach einem Hockstart. Der Schwanz flog fast waagerecht hinterher und teilte den Raum hinter ihm in zwei Hälften, und die Quaste am Schwanzende war zu einer Locke gedreht.
»Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein«, wiederholte die Stimme. Eine Männerstimme, die so gaumig sprach, als hätte ihr Besitzer ein Dreifachkinn. Das Bild hing ärgerlicherweise ein wenig im Schatten. Barbara zupfte es von der Stellwand. Das ging ganz leicht, es war nur mit einem unsichtbaren Nylonfaden an ein Reißnägelchen gehängt – kaum der Rede wert. Der Teufel linste ihr ins Gesicht, die Augenbrauen zu einem umgekehrten V emporgezogen. Er hatte stoppelkurzes Haar, das in einer Spitze in die Stirn wuchs. Fast meinte sie seine Stimme zu hören. Was hätte ich denn sonst machen sollen?
Alle anderen Gäste hatten sich bereits gesetzt. Sie huschte zwischen den Stellwänden heraus – Gott sei Dank war ganz am Rand der dritten Reihe noch ein Stuhl frei; sie musste sich nicht durchzwängen. Vorne saß bereits die erste Autorin, eine mittelalte Frau in Schwarz mit langen Ohrringen und einer riesigen blauen Brille, hinter der ihr ganzes Gesicht verschwand. Sie las einen kurzen Krimi und blickte kein einziges Mal von ihrem Manuskript hoch. Barbara saß angespannt, die Hände auf den Knien verschränkt. Nach wenigen Minuten begannen die Zuhörer zu klatschen und zu lachen; sicher war eine Pointe in dem Text versteckt, aber Barbara hatte nicht einmal mitbekommen, wer der Mörder war. Die bebrillte Autorin stand auf und machte Platz; jetzt kam Marie an die Reihe. Sie las fünf lange Gedichte vor, sprach langsam, blickte zwischendurch ins Publikum und ließ die Worte wirken.
Wieder wurde heftig applaudiert, Barbara klatschte begeistert mit und war stolz auf ihre Tochter, die mit gerötetem Gesicht aufstand und gemessen nickend für den Beifall dankte. Es war großartig, wirklich großartig! Am Morgen häng ich meine Träume zum Lüften über den Zaun – auf so etwas konnte nur Marie kommen. Warum hatte sie noch keinen Lyrikpreis bekommen, kein Buch veröffentlicht? Höchste Zeit, dass sie etwas mehr Ehrgeiz entwickelte, ihre Texte an Verlage und Agenten schickte, sich an Wettbewerben beteiligte. Barbara musste unbedingt mit ihr darüber reden, ihr Mut machen. Sie öffnete ihre Handtasche eine Spaltbreit und warf einen Blick auf den kleinen Teufel. Er grinste ihr zu.
Nach der Lesung verabschiedete sie sich so rasch wie möglich. Marie versuchte sie zurückzuhalten: »Wir gehen alle noch in den Ratskeller und trinken was, Mama, magst du denn nicht mitkommen?« Sie wehrte ab, sie sei müde. »Wir telefonieren morgen früh, wenn es dir recht ist, ich möchte lieber nach Hause.«
Sie erlaubte sich die Heimfahrt mit einem Taxi, hielt ihre Tasche an die Brust gepresst und ließ beglückt die Lesung noch einmal an sich vorbeiziehen.
Am nächsten Morgen rief Marie bereits um halb acht an, als Barbara noch bei ihrer ersten Tasse Kaffee saß. »Mama, das ist so entsetzlich, es ist etwas aus der Ausstellung weggekommen, und das kann nur während der Lesung passiert sein. Ich verstehe das nicht. Wer geht denn zu einer Lesung und klaut Bilder?«
Barbara schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Was fehlt denn?«
»Zwei Bilder sind gestohlen worden. Eine Zeichnung mit einem Hasen. Und eine Radierung mit einem kleinen Teufel.«
»Den Hasen hab ich nicht«, sagte Barbara.
»Wie bitte? Was hast du nicht?«
»Den Hasen hab ich nicht gesehen. Aber an den Teufel kann ich mich erinnern. Oder war es doch ein Hase? Die Ohren …« Barbara gab sich Mühe, verwirrt zu stottern.
»Mama, geht’s dir nicht gut? Du redest irgendwie komisch.«
»Das macht das Alter«, sagte Barbara hastig. »Ich brauche morgens mehr Anlaufzeit als früher. Und mehr Kaffee.«
Marie lachte. »Du, es kann sein, dass die Polizei zu dir kommt. Der Diebstahl ist angezeigt worden. Vielleicht gehen die jetzt bei allen Leuten rum, die bei der Lesung waren. Aber das wird zu nichts führen. Es gibt ja keiner freiwillig zu, dass er Bilder geklaut hat. Und so blöd, dass er sie gleich bei sich an die Wand hängt, wird der Dieb wohl kaum sein.«
Sie verabschiedete sich. Barbara trank ihren Kaffee aus und betrachtete eine Weile den Satz am Tassenboden.
Sie öffnete die Flurtür, als sie den Mieter hörte. Er kam die Treppe hinunter gehüpft wie ein kleiner Junge. »Hab diese Woche Vormittagsschicht«, grüßte er munter. »Schönen Tag!«
Sie gab sich Mühe, eine strenge Miene aufzusetzen. Finnland, sagte sie sich vor, Lohnpfändung, Urlaub, Stromrechnung … Die Hand am Geländer, stieg sie in den Keller hinunter, um Hammer und Nagel zu holen. Lohnpfändung, wiederholte sie, Vormittagsschicht, Elektroheizung, und übte dabei einen Gesichtsausdruck, als verstünde sie nichts.
©Anna Rinn-Schad
(Wer mich schon lange kennt, kennt vielleicht auch die Urfassung dieses Textes, ich habe ihn komplett umgeschrieben.)
Erst mal Tippfehler ausgebessert dank Quoth
Da war der Mieter. Die ganze Zeit dachte sie an ihn.
Barbara kochte Kaffee, schaute durch das Küchenfenster auf die Straße, setzte sich im Wohnzimmererker an die Nähmaschine und säumte Vorhänge, schaute zwischendurch auf die Straße, bügelte die Säume aus und schaute auf die Straße. Trotzdem verpasste sie den Mieter, als er ins Haus ging. Eine Minute woandershin geschaut und schon war er drin. Sie hörte ihn in der Wohnung über ihrem Kopf rumpeln (er rumpelte sehr rücksichtsvoll) und überlegte, ob sie gleich hinauf gehen sollte. Konfrontation. Sie hatte immer so nette und zuverlässige Mieter gehabt. Junge Männer meistens. Der letzte war Ingenieur gewesen und arbeitete in einem, wie er es nannte, Recyclingunternehmen. Leider hatte man ihn nach zwei Jahren irgendwohin versetzt. Es war nicht einfach, einen neuen Mieter zu finden.
Und nun war dieser da, der eben schon wieder die Treppe hinuntersprang – Barbara schob rasch ihren Stuhl zurück, aber bis sie im Flur angekommen war, hatte er längst die Haustür hinter sich zugeschlagen. Vom Küchenfenster aus sah sie gerade noch, wie er im Laufschritt davon hastete; hatte schon die Hand am Fenstergriff, um ihn zurückzurufen … aber dann würde er den Bus verpassen, zu spät zur Arbeit kommen, und sie wäre daran schuld. Und um das Fenster zu öffnen, hätte sie erst vier Blumentöpfe wegräumen müssen, dann …
Warum war sie immer so langsam?
Der Mieter war sehr jung und schmächtig, trug überweite Hosen mit Blasebalgtaschen und hatte blonde Stoppelhaare, die ihm in einer Spitze in die Stirn wuchsen. Bei ihrem ersten Gespräch hatte er geradlinig auf alle Fragen geantwortet:
Arbeit? Klar. Großbäckerei, in Schicht. Barbara nickte. Kannte die Firma. Die hatte im Umkreis von zwanzig Kilometern mindestens ebenso viele Filialen. In der nächstgelegenen kaufte Barbara ihre Brötchen.
Wo hatte er bisher gewohnt? – Ach, ganz in der Nähe.
Und warum zog er dann um? – Seine jetzige Wohnung war so schwer zu heizen. Elektroöfen. Nachtspeicher. Die Stromrechnung steige ins Uferlose. Barbara nickte. Damit kannte sie sich leider aus. Er wollte vor dem Winter etwas Besseres.
Sie fand ihn nett. Er sah sie von unten herauf an und zog die Augenbrauen zu einem umgekehrten V zusammen, wobei sich seine Stirn in komischer Weise faltete. Im Stillen nannte Barbara ihn »meinen Hobbit«.
Der Mietvertrag war gerade einen Tag unterschrieben, da kam ein Anruf von Barbaras Freundin Frauke. Man höre, sie habe einen Neuen? Ob sie sich denn bei seinen früheren Vermietern erkundigt habe? Die wohnten doch nur drei Straßen weiter.
Nein, hatte sie nicht. Es war nicht ihre Art, Leuten hinterher zu schnüffeln. Und woher wusste Frauke so genau, wo der neue Mieter bisher gewohnt hatte?
Ach, man redete halt. Beim Bäcker … Und Frauke fing an, ihren Dialog mit der Bäckereiverkäuferin in allen spitzigen Einzelheiten wiederzugeben.
Wenig später klingelte wieder das Telefon. Diesmal ein Unbekannter, der sich als Winterblum vorstellte und dabei schnaufte, als litte er an Atemnot. Er sei, teilte er mit, der frühere Vermieter.
»Der junge Mann ist sechs Monate im Rückstand«, trompetete er keuchend, »und seit zwei Wochen hatte er auch keinen Strom mehr. Ich hab ihn nicht verklagt. Was soll das bringen? Er hat ja kein Einkommen. Ich war heilfroh, als er freiwillig auszog.«
Barbara hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg.
»Weit fort hat er sich ja nicht getraut. Ich kenne ein paar Leute in der Nachbarschaft. Die haben ihn aus Ihrem Haus kommen sehen. Sie sind doch die mit der Änderungsschneiderei?«
»Woher haben Sie denn meine Telefonnummer?«
»Ja woher wohl, aus dem Telefonbuch natürlich. Sie sind doch die mit der Änderungsschneiderei.«
Am liebsten hätte sie den Hörer aufgeknallt. Stattdessen antwortete sie: »Stimmt auffallend. Soll ich Ihnen einen Kragenknopf versetzen? Sie klingen, als bekämen Sie keine Luft.«
Er wurde noch lauter: »Ich wollte Sie vorwarnen. War nett gemeint, Ach, und jetzt hat er ja Arbeit, habe ich gehört. Dann werde ich mal die Lohnpfändung in die Wege leiten. Auf Wiederhören!«
Klick.
Grässlicher Kerl. Barbara war mit dem Telefon ans Fenster gegangen. Gerade eben trat die Nachbarin von gegenüber aus dem Haus, rieb sich die Hände (sie trug eine Kittelschürze mit scheußlichen Schottenkaros), schaute kritisch herüber (was sollte das denn nun wieder?) und zog sich wieder ins Haus zurück.
Wie nannte man so etwas? Massenstalking?
Sie machte zwei belegte Brote zu Mittag, stellte das Radio an und kochte sich eine Tasse Kaffee, die sie mit an die Nähmaschine nahm. Kaum hatte sie die Arbeit wieder aufgenommen, klingelte das Telefon erneut. Diesmal ihre Tochter Marie.
»Du hast einen Neuen? Wie ist er denn?«
»Ach, ganz in Ordnung, denke ich«, sagte Barbara und fragte sich, warum alle redeten, als ob sie einen Geliebten hätte und nicht bloß einen Mieter.
Marie nervte sie nicht weiter wegen des Mieters. Stattdessen fing sie von einer Autorenlesung an, zu der Barbara unbedingt kommen sollte. Marie gehörte zu den Autoren. »Ich habe Todesangst, Mama, dass niemand kommt.«
Marie schrieb seit zwanzig Jahren Gedichte. Sie hatte anlässlich ihrer ersten unglücklichen Liebe damit begonnen. Damals war sie zwölf. Seitdem beschäftigte sie sich immer wieder damit, grübelte und bosselte. Ab und zu gab sie ihrer Mutter ein Blatt zu lesen.
»Ich komme auf jeden Fall«, versicherte Barbara. »Und bringe ein paar Leute mit. Ich frage Frauke. Und die Nachbarn.«
»Ach nein, lass mal lieber, das sieht so blöd aus … Na gut, aber mach es unauffällig, versprich mir das! Wir lesen in der Galerie. Du kannst dazu sagen, dass auch eine aktuelle Ausstellung in den Räumen ist, vielleicht interessiert das jemanden. Moderne Zeichnungen und Holzschnitte. Ich war heute dort und habe mit den anderen Stühle gestellt …« Sie redete weiter. Barbara schaute aus dem Fenster, sah die Nachbarin, die ihre Haustürklinke polierte, und war einen Moment abgelenkt.
»Und was hast du dir bloß dabei gedacht?«, fragte Marie ungeduldig.
»Was, wieso?« Der Mieter natürlich wieder.
»An so einen zu vermieten? Fragst du denn gar nicht nach, was mit den Leuten ist?«
»Ich komme schon klar!«, erwiderte Barbara spitz.
Marie verabschiedete sich. Sie klang etwas verschnupft, erinnerte aber noch einmal an die Lesung, ehe sie auflegte.
Barbara nähte Raffbänder in die Gardinen. Es war beinahe zehn Uhr abends, als der Mieter von der Schicht kam. Sie fing ihn an der Haustür ab. »Sie haben mich angelogen«, warf sie ihm vor. »Sie sind gar nicht wegen dieser Elektroheizung ausgezogen! Sie haben Schulden!«
»Die Heizung war abgestellt«, gab er zurück, »es war ständig kalt!«
»Ja klar war sie abgestellt! Sie hatten die Stromrechnung nicht bezahlt!«
»Das konnte ich Ihnen doch nicht sagen.« Er zog nervös an den Ärmeln seiner Jacke. Die Jacke war verschlissen und irgendwie haarig. Er sah damit aus wie ein kahlgeknutschtes Plüschtier.
»Wenn Sie nichts sagen können, ohne zu lügen, dann sagen Sie gar nichts!«
»Dann hätten Sie mir die Wohnung nicht vermietet. Was hätte ich denn sonst machen sollen? Ich hatte überhaupt kein Einkommen!«
»Haben Sie denn keine …« Wie nannte man das jetzt? ALG? Hartz 4? Wann bekam man was? Sie wusste es nicht.
»Ich krieg keine Stütze mehr. Ich war eineinhalb Jahre ohne Job.« Er murmelte etwas Unverständliches.
»Ihr Exvermieter hat mir vorhin gesagt, dass er die Lohnpfändung einleiten will. Sechs Monate Rückstand! Wie wollen Sie das alles jemals abstottern? Können Ihre Eltern Sie nicht unterstützen?«
»Die … sind geschieden. Meine Stiefmutter kann mich nicht leiden. Und meine Mutter, die habe ich seit Jahren nicht gesehen. Die ist … in Finnland.«
»Finnland?«, wiederholte Barbara und hatte einen Augenblick lang ein Kalenderblatt vor Augen: ein einsames rotes Haus unter einem Nachthimmel mit grünem Nordlicht. Und ein Saunahäuschen daneben. »Ich kann sie vielleicht im Sommer besuchen. Wenn ich Urlaub kriege. Aber ich arbeite ja erst seit kurzem«, hörte sie. Der arme Kerl. Wollte zu seiner Mutter und konnte nicht, erst wegen Geldmangel, dann wegen der Arbeit. Hoffentlich legte jemand beim Chef ein gutes Wort für ihn ein. Wenn sie vielleicht beim nächsten Brötchenkauf …
Ach, zum Teufel. Bei mir macht er keine Schulden. Beim ersten Rückstand setze ich ihn raus. Urlaub in Finnland! Hatte man je so etwas gehört! Sie schlug ihre Wohnungstür so fest zu, dass der Glaseinsatz klirrte.
Das Telefon klingelte, aber sie ging nicht dran. Das war bestimmt wieder einer von den Nachbarn. Dann fiel ihr ein, dass sie versprochen hatte, ein paar Leute für die Autorenlesung anzuwerben. Einen Augenblick sah sie die Galerie vor sich, die Stuhlreihen; es waren etwa zwanzig Zuhörer da, und in der zweiten Reihe saß sie. Mit männlicher Begleitung. Er lauschte gesammelt und hatte die Hände zwischen die Knie geklemmt. Sie haben mich so richtig angeschmiert. Aber Ich verzeihe Ihnen, wenn Sie mit mir zu einer Lesung gehen.
Ihn brauchte sie nicht zu fragen, er hatte abends Schicht.
Am Ende fragte sie überhaupt niemanden. Sie brachte es nicht über sich, bei den Nachbarn zu klingeln oder anzurufen, und stellte erleichtert fest, dass der Saal auch ohne ihre mütterliche Reklame gut gefüllt war. Um vorher etwas Zeit für die Ausstellung zu haben, war sie eine gute halbe Stunde zu früh gekommen, wanderte zwischen den Stellwänden herum, nippte an ihrem Begrüßungssekt und grüßte ab und zu ein bekanntes Gesicht. Alle schienen sie wissend von der Seite zu mustern und Blicke in ihren abgewandten Nacken zu bohren. So schnell konnte sich das mit dem Mieter doch nicht herumgesprochen haben? Aus dem allgemeinen Stimmengewirr waren Worte wie Stromrechnung und Finnland herauszuhören. So ging das nicht weiter. Bestimmt sah sie Gespenster.
Elektroheizung. Lohnpfändung. Bäckerei. Finnland.
Sie schaute die ausgehängten Bilder an. Alle waren recht klein. An einer der Stellwände hingen Aquarelle: nordische Küstenlandschaften, Dünen und Wellen, Strandhafer und dazwischen eine einzelne Frau mit Schirm. Daneben: aufgewühltes Meer, gelbliche Wolken und wieder die Frau mit dem Schirm. Barbara hatte am Eingang ein Faltblättchen erhalten, auf dem die Namen der Künstler, die Bildtitel und die Verkaufspreise standen. Die Titel waren eher nichtssagend (Strand 1, Strand 2, Strand 3) und die Preise astronomisch. Über sechshundert Euro für ein Kartonviereck von zwölf mal zwanzig Zentimetern Kantenlänge! Dafür müsste sie Hunderte, wenn nicht Tausende von Kilometern Raffband annähen. Barbara sah im Geist ein Gardinenraffband, das dreimal um den Erdball gewickelt war, während sie an einem Ende saß und eifrig nähte.
An der anderen Seite der Stellwand hingen Radierungen, noch kleiner als die Aquarelle und noch teurer. Barbara las in ihrem Faltblättchen nach und schnalzte mit der Zunge. Auf den Bildern waren einzelne Gegenstände oder Menschen zu sehen, ohne jeden Hintergrund auf einen Sockel gestellt: ein Hund, der mit gesenktem Kopf zwischen seinen Beinen hindurchschaute; ein Leiterwagen; ein dicker lachender Mönch; ein Schwein, das mit der Kehrseite zum Betrachter in einer Pfütze lag. Die Bilder waren, obwohl nur eben postkartengroß, von besessener Genauigkeit.
Ein helles Klingeln war zu hören. Jemand klopfte an ein Glas. »Meine Damen und Herren, wenn Sie jetzt bitte Platz nehmen würden, die Lesung beginnt in wenigen Minuten …« Barbaras Blick fiel auf ein Blättchen, das am Ende der Stellwand hing, ziemlich weit unten. Die Zeichnung war so winzig, dass sie sich etwas hinunterbeugen und in unbequemer Haltung das Gesicht heranbringen musste, bis sie fast mit der Nase dagegen stieß. Ein kleiner Teufel hüpfte durch das Bild, ein Knie an die Brust gezogen, das andere Bein nach hinten gestreckt wie ein Sprinter nach einem Hockstart. Der Schwanz flog fast waagerecht hinterher und teilte den Raum hinter ihm in zwei Hälften, und die Quaste am Schwanzende war zu einer Locke gedreht.
»Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein«, wiederholte die Stimme. Eine Männerstimme, die so gaumig sprach, als hätte ihr Besitzer ein Dreifachkinn. Das Bild hing ärgerlicherweise ein wenig im Schatten. Barbara zupfte es von der Stellwand. Das ging ganz leicht, es war nur mit einem unsichtbaren Nylonfaden an ein Reißnägelchen gehängt – kaum der Rede wert. Der Teufel linste ihr ins Gesicht, die Augenbrauen zu einem umgekehrten V emporgezogen. Er hatte stoppelkurzes Haar, das in einer Spitze in die Stirn wuchs. Fast meinte sie seine Stimme zu hören. Was hätte ich denn sonst machen sollen?
Alle anderen Gäste hatten sich bereits gesetzt. Sie huschte zwischen den Stellwänden heraus – Gott sei Dank war ganz am Rand der dritten Reihe noch ein Stuhl frei; sie musste sich nicht durchzwängen. Vorne saß bereits die erste Autorin, eine mittelalte Frau in Schwarz mit langen Ohrringen und einer riesigen blauen Brille, hinter der ihr ganzes Gesicht verschwand. Sie las einen kurzen Krimi und blickte kein einziges Mal von ihrem Manuskript hoch. Barbara saß angespannt, die Hände auf den Knien verschränkt. Nach wenigen Minuten begannen die Zuhörer zu klatschen und zu lachen; sicher war eine Pointe in dem Text versteckt, aber Barbara hatte nicht einmal mitbekommen, wer der Mörder war. Die bebrillte Autorin stand auf und machte Platz; jetzt kam Marie an die Reihe. Sie las fünf lange Gedichte vor, sprach langsam, blickte zwischendurch ins Publikum und ließ die Worte wirken.
Wieder wurde heftig applaudiert, Barbara klatschte begeistert mit und war stolz auf ihre Tochter, die mit gerötetem Gesicht aufstand und gemessen nickend für den Beifall dankte. Es war großartig, wirklich großartig! Am Morgen häng ich meine Träume zum Lüften über den Zaun – auf so etwas konnte nur Marie kommen. Warum hatte sie noch keinen Lyrikpreis bekommen, kein Buch veröffentlicht? Höchste Zeit, dass sie etwas mehr Ehrgeiz entwickelte, ihre Texte an Verlage und Agenten schickte, sich an Wettbewerben beteiligte. Barbara musste unbedingt mit ihr darüber reden, ihr Mut machen. Sie öffnete ihre Handtasche eine Spaltbreit und warf einen Blick auf den kleinen Teufel. Er grinste ihr zu.
Nach der Lesung verabschiedete sie sich so rasch wie möglich. Marie versuchte sie zurückzuhalten: »Wir gehen alle noch in den Ratskeller und trinken was, Mama, magst du denn nicht mitkommen?« Sie wehrte ab, sie sei müde. »Wir telefonieren morgen früh, wenn es dir recht ist, ich möchte lieber nach Hause.«
Sie erlaubte sich die Heimfahrt mit einem Taxi, hielt ihre Tasche an die Brust gepresst und ließ beglückt die Lesung noch einmal an sich vorbeiziehen.
Am nächsten Morgen rief Marie bereits um halb acht an, als Barbara noch bei ihrer ersten Tasse Kaffee saß. »Mama, das ist so entsetzlich, es ist etwas aus der Ausstellung weggekommen, und das kann nur während der Lesung passiert sein. Ich verstehe das nicht. Wer geht denn zu einer Lesung und klaut Bilder?«
Barbara schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Was fehlt denn?«
»Zwei Bilder sind gestohlen worden. Eine Zeichnung mit einem Hasen. Und eine Radierung mit einem kleinen Teufel.«
»Den Hasen hab ich nicht«, sagte Barbara.
»Wie bitte? Was hast du nicht?«
»Den Hasen hab ich nicht gesehen. Aber an den Teufel kann ich mich erinnern. Oder war es doch ein Hase? Die Ohren …« Barbara gab sich Mühe, verwirrt zu stottern.
»Mama, geht’s dir nicht gut? Du redest irgendwie komisch.«
»Das macht das Alter«, sagte Barbara hastig. »Ich brauche morgens mehr Anlaufzeit als früher. Und mehr Kaffee.«
Marie lachte. »Du, es kann sein, dass die Polizei zu dir kommt. Der Diebstahl ist angezeigt worden. Vielleicht gehen die jetzt bei allen Leuten rum, die bei der Lesung waren. Aber das wird zu nichts führen. Es gibt ja keiner freiwillig zu, dass er Bilder geklaut hat. Und so blöd, dass er sie gleich bei sich an die Wand hängt, wird der Dieb wohl kaum sein.«
Sie verabschiedete sich. Barbara trank ihren Kaffee aus und betrachtete eine Weile den Satz am Tassenboden.
Sie öffnete die Flurtür, als sie den Mieter hörte. Er kam die Treppe hinunter gehüpft wie ein kleiner Junge. »Hab diese Woche Vormittagsschicht«, grüßte er munter. »Schönen Tag!«
Sie gab sich Mühe, eine strenge Miene aufzusetzen. Finnland, sagte sie sich vor, Lohnpfändung, Urlaub, Stromrechnung … Die Hand am Geländer, stieg sie in den Keller hinunter, um Hammer und Nagel zu holen. Lohnpfändung, wiederholte sie, Vormittagsschicht, Elektroheizung, und übte dabei einen Gesichtsausdruck, als verstünde sie nichts.
©Anna Rinn-Schad
(Wer mich schon lange kennt, kennt vielleicht auch die Urfassung dieses Textes, ich habe ihn komplett umgeschrieben.)
Erst mal Tippfehler ausgebessert dank Quoth