Kadaveresk (war: Kadaveresk oder Hermannesk)

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 12.12.2014, 18:36

1. Version (Ursprungstext)

Kadaveresk

Nein, also wirklich nicht! Da stehen dann Leute herum in der Aufbahrungshalle, die ich schon zu Lebzeiten nicht ausstehen konnte, Menschen, die mir nahe waren und sich in Tränen auflösen angesichts des dekorativ geschmückten Sarges. Ein mir unbekannter Pfarrer, dem ich ebenso unbekannt war, lässt einen Sermon auf die Trauergäste herabrieseln, was für ein guter Mensch ich gewesen wäre. Bullshit! Nichts weiß er, gar nichts! Weder darüber, wie ich in jungen Jahren als Bajadere die Kneipen nach potenziellen Verehrern abgeerntet habe, noch dass ich als Kind mit Begeisterung in Drogeriemärkten Schmarrn geklaut habe. Er und die anderen Versammelten haben keine Ahnung davon, was ich alles getrieben habe. Wüssten sie, dass ich ein Jahr als Callgirl geschuftet habe, um zu überleben, die würden sich bedanken. Aber sicher nicht mit Kränzen, an denen Trauerschleifen baumeln, mit Aufschriften „In ewiger Liebe“, „Immer bei uns“, „Unvergessen“. Ha!
Irgendeiner liest nun, da der Pfarrer endlich die Klappe hält, „Stufen“ von Hesse.
Dass Herrmann als Kind Dörrobst geklaut hat, machte ihn berühmt.
Viele Stufen sind im Leben zu überwinden.
Oft ging es um die Frage, ob ich Futter für die Katze oder Zigaretten für mich kaufen soll. Ob ich diesen oder jenen Kerl, der mich schlug, killen könnte. Dann gab ich aber doch Fersengeld, war die bessere Option. Man muss auf Nummer sicher gehen. Auch Herrmann hatte sich lieber verdrückt. Er ist oft abgehauen. Öfter als ich. Auch das machte ihn berühmt. Sogar einen Selbstmord hatte er vorgetäuscht, um seine Eltern zu erpressen. Ich hätte keinen erpresst. Erschieß dich halt, hätten meine Eltern gesagt. Im Knast war ich immerhin nur nach Demonstrationen für das Gute. Hat auch nichts gebracht, seht euch die Welt mal an! Okay, mir hat es was gebracht: meinen lieben Ehemann, dann mein Kind und wunderbare Enkel.
Jetzt wird eine CD abgespielt, Tracy Chapman, „Baby can I hold you“, aber auch nur, weil ich mir das im Falle eines Falles gewünscht habe. Danach geht es ab zur Grabstelle.
Mein armer Junge muss etliche Tausender dafür hinlegen, mich unter die Erde zu bringen. Das lohnt sich doch wirklich nicht! Und jahrelang die Verpflichtung, zu allen Feiertagen hierher zu latschen, Blümchen in die Vase zu stopfen, eine Kerze anzuzünden. Wozu? Für wen? Ich bin das doch nicht mehr, die da unten als Knochenhaufen liegt!
Jetzt schmeißen alle ein Schäufelchen Erde auf den Sarg, schnäuzen sich andächtig und überlegen insgeheim, ob sie Schnitzel oder Schweinsbraten beim Leichenschmaus futtern werden.

Nein, Leute, definitiv nicht! Ich vermache meinen Kadaver der Anatomie. Das kostet nicht mal fünfhundert Euronen, ich erspare mir und euch diese Grässlichkeit der Verabschiedung. Und meine Seele gehört mir, mit allen Geheimnissen, die mich ausmachen.

So long (wie lang das auch sein mag).


2. Version

Kadaveresk oder Hermannesk

Da stehen Leute herum in der Aufbahrungshalle, die ich noch nie ausstehen konnte, Menschen, die mir angeblich nahe waren und sich in Tränen auflösen, angesichts ihres eigenen Todes.
Dann liest ein neuer junger Pfarrer, der mich nie gesehen hat, vom Zettel ab.
Kein Wort darüber, dass ich als Kind geklaut habe.
Kein Wort davon, dass ich durch alle Kneipen zog.
Nicht ein Wort über meine Zeit als Callgirl.
Weil mein Kadaver im geschmückten Sarg liegt, ist das nicht mehr erwähnenswert, und hören will es eh keiner. Passt nicht zu den teuren Kränzen und Trauerschleifen, wie: In ewiger Liebe, Immer bei uns, Unvergessen.
Einer, mit dem ich mal zusammen war, liest, als der Pfarrer fertig ist:
Stufen, von Hermann Hesse, der auch gestorben ist. Allerdings schon vor gut 50 Jahren, ist auch kein Kadaver mehr sondern nur noch Knochen. Dass er als Kind Dörrobst geklaut hat, machte ihn berühmt. Vielleicht hätte ich auch von den Lippenstiften und Kaugummis erzählen sollen, statt in Ermangelung eines Jobs meinen Körper zu verkaufen.
Diese Stufe musste ich erst mal überwinden. Später ging es nur noch darum, ob ich Futter für die Katze oder Zigaretten kaufen soll. Oder ob ich dem Kerl, der mich schlug, die Rübe zertrümmern soll. Auch Hesse hatte sich lieber verdrückt. Er ist oft abgehauen. Öfter als ich. Auch das machte ihn berühmt. Sogar einen Selbstmord hatte er vorgetäuscht, um seine Eltern zu erpressen. Ich hätte keinen erpresst. Dann erschieß dich halt, hätten meine Eltern gesagt. Ich saß dann im Knast, weil ich demonstriert hab. Für das Gute. Dafür hat der Hesse auf dem Papier gekämpft. Kann man jederzeit nachlesen. Ich war nie ein Freund von Worten. Aber mein Kampf hat auch nichts gebracht, seht euch die Welt mal an.
Dafür fand ich einen lieben Ehemann. Mit den Frauen hat der Hesse ja nicht so viel Glück gehabt.
Jetzt spielen sie Musik. Tracy Chapman, Baby can I hold you, von der CD. Die habe ich mir gewünscht. Daran haben sich meine lieben Verwandten gehalten.
Nun geht es zur Grabstelle.
Mein einziger Junge musste sich verschulden für all das.
Wer weiß, wenn ich die Tausender hätte zur Seite legen können, wäre ein anderes Programm abgelaufen. Aber lohnt sich das denn? Die auferlegte Verpflichtung, zu allen Feiertagen an mein Grab zu latschen, Blümchen in die Vase zu stopfen, die Kerze anzuzünden. Mir ist das egal.
Jeder Trauergast schaufelt eine Portion Erde auf den schönen Sarg.
Beim Schnäuzen denken sie an das Schnitzel oder den Schweinsbraten beim Leichenschmaus. Ich hätte meinen Kadaver der Anatomie vermachen sollen. Für einen 500er wäre mir eure Heuchelei erspart geblieben.
Obwohl, der Hesse hat seine Beerdigung ja auch ertragen.
Zuletzt geändert von Elsa am 19.12.2014, 13:05, insgesamt 3-mal geändert.
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 19.12.2014, 11:37

Elsa hat geschrieben:Mich freu, dass dir die 2., für mich auch tiefere, Version gefällt.

Die erste Version finde ich leider besser :-) Wie gesagt, die zweite (die mit "Nein, also wirklich nicht!" beginnt) ist mir zu "normal".

Oder meinen wir die gleiche? Meinst Du die untere, kleingedruckte, gefällt Dir besser?


P.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 19.12.2014, 12:28

Liebe Elsa, vielleicht solltest Du mal eine Begriffskllärung vornehmen ;o) Da steht jetzt "Zweite Version (Ursprungstext)", das ist schon ziemlich verwirrend! Ich weiß jetzt selbst nicht mehr, welche Version es eigentlich ist, die Du vorziehst ...
Mir gefällt übrigens die kleingedruckte besser - weil da mehr Hermann drin vorkommt!

Stürmische Grüße
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 19.12.2014, 13:04

Die Kleingedruckte ist die Überarbeitung, also die, die ich zuerst hier gezeigt habe.

Die oben darüber ist die allererste Textfassung.

Mir gefällt die Kleingedruckte auch besser. Das ist eben die letzte Fassung.

Föhngrüße
Elsa

edit: hab die Versionen jetzt umbenannt.
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Nifl
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Beitragvon Nifl » 19.12.2014, 19:13

Eines möchte ich noch geraderücken, ein personaler Erzähler kann genauso nahe ran wie ein Ich-Erzähler (personal von persönlich), aber da wird der Autor vielleicht etwas mehr gefordert. Nicht nur deswegen gilt die Ich-Perspektive als Anfängerperspektive (um gleich dem Sturm den Wind zu nehmen, 1. nein, er ä ich halte Elsa nicht im geringsten für eine Anfängerin 2. es gibt unzählige hochliterarische Werke in der ich-Perspektive)
Es ist eben einfacher, weil es für jeden täglich Brot ist. Aber es sollte schon erlaubt sein, die Perspektive hier zu hinterfragen, ich kann mich an Diskussionen erinnern über die Frage: "Kann ein Ich-Erzähler sterben"
In diesem Text hat mich die direkte Geistersicht nicht gestört, vielleicht, weil es etliche Filmbeispiele gibt, vielleicht, weil es etliche Erzählungen von Nahtoderfahrungen gibt, in denen von einem "Überdendingenschweben" berichtet wird.
Was ich an diesem Text sehr spannend finde - und jetzt gibt es vermutlich wieder einen Aufschrei wie drei Ecken weiter- ist das Moralische in ihm (auch durch die Perspektive!). Der Text spielt mit der "Entlarvung" einer vermeintlichen Scheinheiligkeit der Trauer der Gäste und der Predigt des Pfarrers. Dabei sind aber die Ansprüche des Erzählers höchstselbst scheinheilig. Denn warum sollte zB. ein Mensch "schlechter" sein, weil er durch Kneipen gezogen ist und allerlei weiteres zu Lebzeiten veranstaltete, und wenn "schlecht", dann allerhöchstens gegen sich selbst? Und diese Ironie macht vermutlich auch bewusst oder unbewusst die Kraft des Textes aus, selbst im Tod hält der Erzähler sich für ungenügend und wirft den Lebenden vor, dies nicht zu offenbaren, bzw. (noch schlimmer) spekuliert über ihre Reaktionen falls sie Kenntnis von dem "Lebenswandel" hätten.
Ein weiteres "moralisches Indiz" ist der überdeutliche Anklang des jüngsten Gerichts.

Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 20.12.2014, 08:19

Interessanter Kommentar, Nifl. Scharf betrachtet und glasklar erklärt. Habe gerade etwas gelernt ...

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 20.12.2014, 09:18

Hallo Nifl, danke für deine interessanten Gedanken zum Text, ist immer wieder spannend, dich zu lesen, auch ich lerne da immer was draus.

Übrigens wird die 2. Version (die mit viel Hesse) in der Wortschau, einem Magazin, veröffentlicht, freu mich darüber.

LG
Elsa
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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 20.12.2014, 09:28

Natürlich kann ein Ich-Erzähler vom eigenen Tod erzählen. Es gibt genug Menschen die an eine unsterbliche Seele glauben, an Reinkarnation ect. Und auch wenn ich nicht daran glaube kann ich es als Hypothese für eine Erzählung verwenden. Und ich bin sicher nicht der einzige, der seinen eigenen Tod schon geträumt hat, - ohne dass der Traum damit zuende war.

Ein Personaler Erzähler, da gebe ich dir, Nifl, Recht, kann sehr nah ran. Denn er ist immer noch Teil der Handlung, vielleicht sogar Auslöser, der nun, nachdem er einen Schritt beiseite getreten ist, das ganze von Aussen betrachtet. Alles was, ein personaler Erzähler kann, kann ein ich-Erzähler aber auch, er ergänzt es lediglich um eigene subjektive Befindlichkeiten. Wirklich schwierig, aber auch nicht unmöglich wäre es einen unbeteiligten allwissenden Erzähler nahe heranzurücken.

Diese Erzählung ist so etwas wie eine Lebens-Bilanz. Ein Selbstgespräch, das man auch auf dem Sterbebett führen kann. Nach dem physischen Tod und der Erkenntnis das die Seele doch unsterblich ist, sollten diese irdischen Verletzungen allerdings schnell an Bedeutung verlieren. Es wäre vielleicht konsequenter wenn das Augenmerk mehr auf die Beziehungen zwischen den Hinterbliebenen gelenkt wird, sei der Blick nun milde verklärt oder auch zynisch.

Wer wird meinem Ex nun als Sündenbock herhalten, wenn er das nächte Fettnäpfchen übersehen hat, wen wird mein Sohn zukünftig anschnorren, Und dieser Stalker, wird er jeden Tag mein Grab besuchen oder findet er noch heute eine andere Projektionsfläche für seine Vorstellung von Liebe? Welche barmherzige Seele wird den Witwer trösten?
Das Szenario hat eine Menge Potential
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck


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