Die Fotografin

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 08.05.2015, 00:46

Ich mache Bilder, das ist mein Beruf. Ich komme in Kindergärten, Schulen und Vereine, zu Hochzeiten und Taufen; ich mache Bewerbungsbilder, Passbilder und Führerscheinbilder; und auch sonst alles, was meine Kunden haben wollen. Ich setze auch Tattoos und Piercings, scheußliche Frisuren und unkleidsame Mode ins Bild und enthalte mich dabei jeder Bemerkung. Viele Jahre Praxis haben mich gründlich gelehrt, dass die Schönheit im Auge des Betrachters liegt.

Mit den Bauchbildern habe ich vor Jahren begonnen, als es Mode wurde, den dicken Schwangerschaftsbauch herzuzeigen. Als ich jung war, haben werdende Mütter den wachsenden Umfang unter weiten Kitteln versteckt. Heute kommen Schwangere in mein Atelier, rollen den elastischen Hosenbund nach unten und präsentieren den runden Babybauch stolz der Kamera. Manchmal kommen sie kurz nach der Geburt wieder, das Neugeborene im Arm, und lassen den ausgeleerten, schlaffen Leib ein zweites Mal ablichten. Ich mache Bilder; ein Urteil abzugeben, ist nicht meine Aufgabe.

Eines Tages, als ich gerade die Kamera in Anschlag gebracht hatte, kam der werdende Vater ins Bild, stellte sich neben die Kundin und entblößte seinen eigenen Oberkörper. Die Schwangere trug einen schwarzen Bandeau-BH und eine Jogginghose, die sie auf die Hüftknochen geschoben hatte. Der Mann hatte ebenfalls ausgeleierte Jogginghosen an und trug keinen BH, obwohl er ihn meiner Meinung nach mindestens so dringend brauchte wie seine Partnerin. Einträchtig lachend präsentierten sie ihre runden Bäuche der Kamera. Ich machte ein kontrastreiches Schwarzweißbild. Es war nicht gerade schön, aber die strahlenden Gesichter ließen es jedenfalls freundlich wirken, und originell war es allemal.

„Das sollten Sie in Ihr Schaufenster hängen!“, sagte der Mann, als er die Abzüge abholte. „Wetten, dass es die Kundschaft in Scharen herbeilockt!“ Ich hatte meine Zweifel, aber da es eine flaue Zeit war, hängte ich das vergrößerte Foto in einem schlichten Rahmen aus – nicht ins Fenster, sondern etwas seitlich in einem Schaukasten.

Es war ein voller Erfolg. In den nächsten Tagen gaben sich bei mir die Bäuche die Klinke in die Hand. (Die holprige Metapher stammt nicht von mir, sondern von meiner jungen Praktikantin.) Die meisten Kunden waren Paare, die Frau schwanger, der Mann einfach dick. Es gab auch einige gut durchtrainierte Bäuche unter den männlichen Kunden, aber sie waren in der Minderheit. Um noch eine holprige Metapher zu zitieren, der Speck überwog bei weitem. Und so begann sich ein ganz neuer Kundenstamm zu formieren: der dicke Mann, der allein kam. Um seinen Bauch fotografieren zu lassen. Es kamen Kerls mit tätowierten Armen und Lederweste; Männer in mittlerem Alter, die fürs Foto ihren Blaumann aufknöpften, und feiste Herren im Doppelreiher. Allen gemeinsam war der Wanst, der über die Hose quoll. Mit verzückten Mienen holten sie ihre Bilder ab: Ich hatte ihnen ihren Stolz zurückgegeben.

Meine Praktikantin war begeistert. Ich musste sie mehrmals aus dem Studio weg „nach hinten“ schicken, weil sie in Gegenwart der Kunden Bemerkungen machte. Im Jahr nachdem ich mit den Bauchfotos begonnen hatte, wurde eine überregionale Zeitschrift auf mich aufmerksam, und es gab einen großen bebilderten Bericht. Ich bekam sogar ein Angebot eines großen Buchverlags, einen Fotoband mit Bäuchen herauszubringen. Ich bezweifelte, ob meine Kunden für ein solches Projekt bereit seien, machte aber einen Versuch und schickte einen Formbrief herum. Erstaunlicherweise waren fast alle Kunden einverstanden, ihren Bauch zwischen Buchdeckeln zu verewigen – alle Männer und nicht wenige Frauen. Ja, ich hatte auch weibliche Bäuche unter meinen Kunden; zwar sind Frauen schwerer zufriedenzustellen und bestehen auf einer ästhetisierenden Darstellung ihres Specks, was problematisch sein kann, aber bisher sind keine Klagen gekommen. Den Fotoband habe ich dann trotzdem nicht gemacht, obwohl das Angebot finanziell gesehen sehr verlockend war. Warum nicht? Ich dachte nicht weiter darüber nach. Vielleicht wollte ich nicht bekannt werden, jedenfalls nicht mit Bauchfotos. Meine Praktikantin warf mir vor, ich sei „hoffnungslos in kleinbürgerlichem Denken verhaftet“. Schließlich ging sie weg. Ich nahm mir eine ganz junge Auszubildende, die so schüchtern war, dass sie nie Vorschläge machte.

Um diese Zeit hatte ich kurz hintereinander zwei Kunden, die mich baten, zu ihnen ins Haus zu kommen. Der erste war ein älterer Mann, so dick, dass er sich kaum noch von der Stelle rührte. Seine Haushälterin öffnete mir die Tür. Er saß auf einem Sofa, das wohl zweisitzig war, aber er füllte es allein aus. Natürlich trug er Gummizughosen und einen unförmigen Kittel. Er wolle sich ein Magenband legen lassen, erklärte er mir kurzatmig, und danach werde er endlich abnehmen, jedenfalls nach Meinung der Ärzte. Zuvor wollte er aber unbedingt noch ein Bauchbild. Mit Hilfe der Haushälterin rückte ich den Couchtisch aus dem Weg, und die Haushälterin half dem Kunden, seinen Kittel hochzuraffen. Sie verzog keine Miene. Ich machte vier Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Kunde brummelte unwillig. Er wollte keinen „dokumentarischen Stil“, sondern „etwas Künstlerisches“, was er sich nachher an die Kühlschranktür hängen könne. Schließlich legte ich mich auf den Boden und fotografierte den Bauch von unten nach oben, samt dem Doppelkinn, das wie eine Kuppel darauf ruhte. Als ich die Fotos entwickelte, bemühte ich mich – zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn – nicht richtig hinzusehen.

Der zweite Hausbesuch fand bei einer jungen Frau statt, die (behauptete sie) hundertdreißig Kilo wog und ein Selbstbewusstsein ausstrahlte, dass man neidisch werden konnte. Sie war keineswegs schwerfällig, sondern öffnete mir selbst die Tür, kraxelte vor mir her die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und öffnete die Kleiderschränke, um verschiedene leichte Gewänder herauszuholen, in denen ich sie fotografieren sollte. Ich fragte, warum sie nicht in ein Fotostudio ginge, wo man es mit Licht und farbigem Hintergrund einfacher hatte. Sie zeigte auf eine Kamera, die mit Stativ auf einer Kommode stand: Sie sei Webcamgirl und bräuchte die Bilder zu Reklamezwecken, daher müsste ihr Schlafzimmer darauf zu sehen sein. Nein, sie wolle keine Nacktfotos, fügte sie sofort hinzu. Sie wolle schöne Bilder. „Mit ästhetischem Anspruch“.

Ich machte die Bilder. Mit neckischem Hüftschwung stolzierte sie vor der Kamera auf und ab. Die Fußbodendielen knarrten, ihr gewaltiger Busen wogte bei jedem Schritt. Nach einiger Zeit gewöhnte ich mich daran; sie erinnerte mich ein wenig an die berühmten steinzeitlichen Figuren von Fruchtbarkeitsgöttinnen. Ein paar Tage später holte sie die Bilder ab. Sie hatte ein Tablet dabei, das sie benutzte, um mir ein Video zu zeigen: Während meines Besuchs hatte die Webcam ein paar Minuten aufgezeichnet, ohne dass ich es merkte. Zu sehen war die junge Frau, in durchsichtigen Stoff gehüllt, elegant trotz ihrer Massigkeit, und im Hintergrund eine schwerfällige, leicht übergewichtige Person in einem unkleidsamen grauen Pullover. Das war ich.



Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt ein Bild von mir selbst gesehen hatte. Es war erschreckend, befremdend. Ich brachte es mühsam über mich, die Kundin um eine Kopie des Filmchens zu bitten. In den nächsten Tagen sah ich es immer wieder an, meistens am Abend, wenn das Fernsehprogramm vorbei war und ich schon ein paar Gläser Wein getrunken hatte. Da stand ich klobig und unbeholfen im Schlafzimmer meiner Kundin herum, während sie in einer Wolke aus schleierartigen Gewändern unter sanfter Beleuchtung posierte, aus jeder Speckfalte Glück und Verheißung ausstrahlend. So oft ich den Film ansah, die Anwesenheit dieser grauen Statistin im Hintergrund war immer wieder eine Überraschung; ich erkannte sie nicht. Schließlich legte ich meine Kamera auf den Boden, setzte mich breitbeinig davor aufs Sofa, rollte meinen Pullover hoch und fotografierte meinen eigenen Bauch.



Seitdem habe ich keinen Bauch mehr fotografiert. Um nicht mit den Kunden diskutieren zu müssen, erkläre ich einfach, dass es nach den letzten Bauchfotos rechtliche Probleme gegeben habe und ich deshalb nur noch ganz konventionelle Bilder mache. Die Kunden, die unbedingt ein Bauchbild möchten, gehen jetzt zu meiner ehemaligen Praktikantin, die inzwischen ein eigenes Studio eröffnet hat und als Spezialität „Körperporträts“ anbietet. Sie hat auch eine Auswahl ihrer Fotos in Buchform veröffentlicht. Ich habe mir das Buch angesehen und einige der abgebildeten Bäuche wiedererkannt, aber es ist kein schönes Buch, ich möchte es nicht im Bücherschrank haben.

Ich habe mein Studio verkleinert und bediene nur noch den soliden Grundstock von Aufträgen: Passfotos, Bewerbungsbilder, Fotos von Kindern mit Schultüte, von Hochzeitspaaren, von Großeltern im Kreis ihrer Familie. Ja, gerade die Großeltern machen mir zur Zeit viel Freude, oder vielmehr ganz allgemein alte Leute. Wenn ich Zeit habe, besuche ich ein Altenheim ein paar Straßen weiter und mache Fotos von den Insassen. Nur zu meinem Vergnügen, ohne Bezahlung; aber wer möchte, bekommt natürlich einen Abzug. Ich mag die abgenutzten Gesichter, das Flüchtige darin, den Hauch von Ewigkeit. Die straff über Knochen gespannte Haut, das durchsichtige Haar, den abwesenden, glasigen Blick in eine ungewisse Zukunft. Irgendwann, in ein paar Jahren, werde ich das nächste Bild von mir selbst machen. Bis dahin warte ich geduldig.



Änderung: "Jedes Mal, wenn ich den Film sah, fühlte ich ein peinliches Unbehagen, das ich mir nicht erklären konnte." - geändert in: "So oft ich den Film ansah, die Anwesenheit dieser grauen Statistin im Hintergrund war immer wieder eine Überraschung; ich erkannte sie nicht."
Weitere Änderung im vorletzten Absatz. Ursprünglicher Wortlaut: <Das Fotobuch mit den Bauchbildern ist übrigens inzwischen erschienen; meine ehemalige Praktikantin hat ein eigenes Studio eröffnet und bietet als besonderen Service „Körperporträts“ an. Ich habe ihr Buch bei Amazon bestellt, weil es mir peinlich gewesen wäre, es im Buchladen zu kaufen, wo man mich kennt. Wie vorherzusehen gefiel es mir nicht, obwohl ich einige der dargestellten Bäuche wiedererkannte; es waren ehemalige Kunden von mir. Ich blätterte das Buch durch und schickte es wieder zurück. Es soll ein großer Erfolg geworden sein.>
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.05.2015, 05:10

Hei Zefira,

der erste Satz hat mich sofort zum Weiterlesen animiert :-) Habe alles in einem Rutsch durchgelesen. Erwartungsgemäß flüssig geschrieben, mit originellen Denkweisen durchzogen; unerwartete, daher spannende, Richtungsänderungen. Absolut glaubwürdig, real.


Textarbeit: Nur zwei kleine Staubkörnchen ...


1.

"... kam der werdende Vater ins Bild, stellte sich neben die Kundin und entblößte seinen eigenen Bauch"

Durch diese Beschreibung sehe ich jemanden, der nur seinen Bauch entblößt, nichts anderes, nur den Bauch.

"Der Mann [...] trug keinen BH, obwohl er ihn meiner Meinung nach mindestens so dringend brauchte wie seine Partnerin."

Durch diese Beschreibung sehe ich jemanden, der nicht nur seinen Bauch, sondern seinen gesamten Oberköper entblößt, andernfalls könnte das Ich die Brüste nicht sehen und beurteilen. Das empfinde ich als Regie-Fehler. Deshalb würde ich eingangs gleich den gesamten Oberkörper zeigen (nicht nur den Bauch), damit das Bild von Anfang an stimmt.


2.

"... wenn ich den Film sah, fühlte ich ein peinliches Unbehagen, das ich mir nicht erklären konnte."

Das ist einer dieser ergänzenden "..., das ..."-Sätze, die nach einem Komma unerwartet Zusatzinformationen liefern. Das finde ich ein klein wenig stolperig. Im Prinzip heißt das:

"fühlte ich ein peinliches Unbehagen, das unerklärlich war" -- also vor und nach dem Objekt jeweils eine Eigenschaft nennend. Warum nicht beide Eigenschaften auf derselben Seite des Objekts? Vielleicht, weil die Unerklärlichkeit noch eins drauf setzen soll. Als Steigerung, oder als separater Gedanke. Aber die Verknüpfung mit "..., das ..." funktioniert in meinen Ohren nie dann, wenn kurz zuvor bereits eine Eigenschaft genannt wurde. Vielleicht gibt es andere Möglichkeiten solch einer Verknüpfung?

Ich würde das alles kürzen. "Peinlich" und "Unbehagen" sind ohnehin tautologisch sehr nahe. "Fühlen" ebenfalls, weil Unbehagen ein Gefühl ist. Der Film ist dem Ich peinlich, und es weiß nicht, warum.



Aber wie gesagt, das ist nur Staubkörnchenkritik. Den Text finde ich super! :-)


Ahoy

P.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 08.05.2015, 08:37

Hallo Zefi,

Pjotr hat geschrieben:Habe alles in einem Rutsch durchgelesen. Erwartungsgemäß flüssig geschrieben, mit originellen Denkweisen durchzogen; unerwartete, daher spannende, Richtungsänderungen.
Ja, das trifft es ziemlich gut. :)

Das einzige, was für mich ein kleiner Stolperstein war, in Bezug auf das Gefühl, dass die Geschichte "wahr" und real ist, ist dieser Satz:
Manchmal kommen sie kurz nach der Geburt wieder, das Neugeborene im Arm, und lassen den ausgeleerten, schlaffen Leib ein zweites Mal ablichten.
Das Phänomen der Babybauchfotos kenne ich, aber der Bauch danach? Den kenne ich nur als gut gehütetes, verhüllt und zugeschnürtes Geheimnis, bis er wieder (oder auch nicht) vorzeigbar ist. Bei Promis passiert das natürlich phänomenalerweise beinahe über Nacht. Die Fortführung der Babybauchfotos ist doch eher die volle, ausgepackte Brust mit angedocktem Kind?

Bei Pjotrs Punkt 2 würde ich auch nochmal überlegen.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 08.05.2015, 12:21

Hallo ihr beiden,
vielen Dank für eure Meinungen.
Ich habe gestern abend spät das letzte Drittel des Textes noch umgeschrieben (der Schluss war ussprünglich anders) und merke jetzt, dass es ein Fehler ist, so spät abends noch frische Texte vorzustellen; es liegt noch einiges im argen ...
Ich melde mich heute abend ausführlich.
Sonnige Grüße!
Zefira (geht jetzt im Altenheim Bilder machen ;o)
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.05.2015, 17:59

Hi Zefi,

schön flutschig geschrieben. Da bin ich gerne mitgegangen. Ich stimme Pjotr und Flora in ihren Anmerkungen zu.
Übrigens: ich freue mich, endlich mal wieder etwas Längeres von dir zu lesen! ,-)))

Liebe Grüße
Mucki

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 09.05.2015, 00:09

So, danke euch allen, ich habe an einigen Stellen ein Wörtchen geändert und den von Pjotr zitierten Satz mit dem Unbehagen umgeschrieben.

Was die Stelle mit dem "ausgeleerten" Bauch angeht: Ich habe einmal eine Fotoserie gesehen, in der nackte Bäuche von Müttern gezeigt wurden, die nicht schwanger waren, sondern den "Zustand danach" zeigten - nach Kaiserschnittgeburten, Zwillingsgeburten usw, jedenfalls weiß Gott alle miteinander keine idealen Bäuche. Das gibt es schon. Ist vielleicht nicht die Regel, kommt aber vor. Ich denke, gerade wer den festen Vorsatz hat, sich wieder ein straffes Waschbrett anzutrainieren, kann den Zustand kurz nach der Geburt im Rahmen einer "Vorher-Nachher-Serie" akzeptieren ...

Wabbelbauchgruß!
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.05.2015, 19:58

Liebe Zefira,

das habe ich wieder sehr gern gelesen, ich liebe deine Protagonisten einfach - oder etwas weniger doof ausgedrückt: Deine Figuren funktionieren, sie transportieren Welten und Sichten zu mir, von denen ich meinen, lernen /feiner fühlen zu können. Und immer mit diesen einfachen Rahmen drumherum, einfach Dingen, die die Figuren tun und denken - das ist wirklich eine Kunst.

Bemerken will ich trotzdem, dass dies glaube ich die erste Geschichte von dir ist, in der mir die Erzählposition nicht ganz klar bezogen zu sein scheint, manchmal wackelt die Stimme der Protagonistin etwas hin und her (zum Beispiel zwischen (mittelbar/versteckter) aburteilender Abneigung und tatsächlicher (glaubwürdiger) Distanz. Ich bin mir aber nicht so ganz sicher, ob mir deine anderen Charaktere einfach nur anders erschienen sind oder es ein erzählerischer Mangel ist. Was denkst du, was für ein Typ ist diese Frau - hat sie sich von den anderen abgewandt über die Abwendung von sich selbst oder sind die anderen ihr einfach nur fremd? Ich empfinde hier das Gefühlsleben der Protagonistin als etwas unausgegoren und bin irgendwie unzufrieden damit.


Liebe Grüße
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 26.05.2015, 00:30

Hallo Lisa,
vielen Dank für Dein wie immer genaues Lesen.
Ich habe etwas Schwierigkeiten, Deine Frage kurz und schlüssig zu beantworten; nur ein paar Gedanken dazu. Erstens sehe ich die Erzählerin als quasi "auf der Couch liegend". Sie erzählt ihre Geschichte so, wie sie etwa einem Arzt oder Beichtvater berichten würde, über dessen Kompetenz sie sich noch nicht ganz klar ist, also mit einem gewissen Vorbehalt. Im Gegensatz zu den meisten meiner Protagonisten, die nicht wissen, was mit ihnen los ist, weiß meine Erzählerin das vermutlich instinktiv recht gut, will oder kann es aber nicht aussprechen.
Zweitens denke ich - das führt vielleicht ein wenig besser zu einer Antwort auf Deine Frage -, dass der Beruf des Fotografierens bei meiner Erzählerin eine Distanz zu allen ihren Kunden (und zu Menschen überhaupt) bewirkt in dem Sinn, dass sie andere Menschen als Momentaufnahme begreift, als etwas, was im Augenblick des Augen-Blicks schon wieder Vergangenheit ist. Ob sie deshalb fotografiert, weil sie so "drauf ist", oder ob sie so geworden ist, weil sie fotografiert, weiß ich nicht - vermutlich eher das erste. Ich würde Deine Frage am ehesten so beantworten, dass sie sich zuerst von anderen abgewandt hat (oder vielmehr, um noch einmal darauf zurückzukommen, in einer anderen Zeitebene lebt als diejenigen, die sie fotografiert); die Folge, die Entfremdung von sich selbst, tritt erst in dem Moment ein, als sie sich selbst im Bild sieht.
Vermutlich klingt das ziemlich wirr; ich habe selbst erst während des Schreibens zu dieser Antwort gefunden. Vielleicht kann ich mich morgen etwas klarer ausdrücken.

Hab nochmals Dank und gute Nacht,
Zefira
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 01.06.2015, 21:03

Liebe Zefira,

ja,erzählen unter Vorbehalt, so habe ich die Stimme der Heldin auch wahrgenommen und das ist auch fein abgestimmt und glaubwürdig erzählt. Und wirr finde ich deine Erklärungen gar nicht. Vielmehr kann ich vielleicht nicht so genau sagen, was mich genau stört bzw. vielleicht auch nicht stört, sondern nur im guten Sinne irritiert. Vielleicht: All deinen anderen Erzählstimmen bin ich vorbehaltslos gefolgt, das hat sich immer wie ein "Ja" angefühlt, wenn man sie begleitet hat, ich war in ihrer Bewegung und mir hat gefallen, wie sie sich bewegt, was sie sagt, wie sie die Welt beurteilt.
Bei der Protagonistin hier war das anders, da schwankte ich zwischen: "verstehe ich sie richtig?" und "das ist jetzt aber doch irgendwie doch anders gesagt als gedacht (haltung und darstellung zu sich selbst fallen auseinander).
Wenn ich so schaue, was ich schreibe, dann passt das Ganze aber ziemlich gut zu dem Fotografieren, dass sich ihr Leben/Zustand darum rankt.

Liebe Grüße
Lisa
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jondoy
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Beitragvon jondoy » 09.06.2015, 22:15

Hallo Zefi,

den Text hatte ich bald schon nach dem Einstellen gelesen.
Es folgten die ersten Kommentare.
Deshalb hab abgewartet.
Als es um ihn ruhig geworden war, mir die Zeitspanne dazwischen groß genug erschien,
kam mir Lisas Kommentar zuvor.
Die sind ja so kleine fragile Werke für sich, wenn sie sich mit einem Text beschäftigen.
Da wollte ich natürlich nicht stören, hab aus der Ferne mit Interesse verfolgt, wie du dem begegnest, was sie darüber geschrieben hat, auch weil ich diesen Leseeindruck nicht so ganz nachvollziehen konnte.

Mir erschien die Erzählstimme schon ziemlich plausibel, sie hat auf mich nicht unglaubwürdig geklungen,
aber das sind so feine Nuancen, für die ich im Moment gar nicht die Zeit finde, genau zuzuhören.

Ich hab neulich einmal richtig intensiv (über stundenlange Zeiträume) die Erfahrung gemacht, dass wenn ich einen Text vorgelesen bekomme, und das auch noch durch eine Stimme, die ich der Protagonistin durchaus zutrauen könnte, eine Stimme, die mir fast wie echt erscheint, wenn sie spricht, als ob das eben gerade passiert, das ich dann einen Text noch einmal ganz anders, noch intensiver erlebe, wenn ich ihn so akkustisch vorgetragen bekomme, höre ich oft noch ganz andere Nuancen aus ihm heraus, die mir meine eigene Erzählstimme im Kopf so niemals erzählen würde, oft machen ja auch Pausen, und wie man es sagt, viel mehr aus, als das, was man sagt, schwarz auf weiss regt mich umgekehrt dafür oft an, etwas ganz anderes zu lesen, was da in Wirklichkeit vor mir steht, meine Erzählstimme erzählt mir da manchmal etwas anderes, manchmal hat die mehr Phantasie als der der Autor /die Autorin , ich will damit nur eines sagen, wenn ich die Geschichte vorgelesen bekäme, könnte ich leichter überprüfen, ob an dem, was Lisa beim Lesen empfunden hat, etwas dran ist (in meinen Augen).

Die Rückmeldung, die ich dir schon vor Wochen zum Text geben wollte, ist die, dass der Text beim ersten Lesen bei mir funktioniert hat, und für mich ist eigentlich immer das erste Lesen entscheidend, im Buch/E-book gibt´s für den Autor/die Autorin im Normalfall keine zweite Chance, mich, Leser, von seinem Text zu überzeugen.

Mir hat die Kurzgeschichte gefallen, die diversen Metamorphosenstadien dieser Fotografin, ihr plastischer, stellenweise barocker Sprachstil, der sich mit nüchterner Sprache auf der Sprachbühne abwechselt, und auch die leise (Selbst-)Ironie, die da in mancher Zeile mitschwingt. So was les ich gerne.

namaste,
jondoy

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 15.06.2015, 23:57

Halllo jondoy,
danke für Deine Eindrücke. Ja, wenn man einen Text vorgelesen bekommt, erhält er plötzlich eine andere Dimension. Ich höre normal keine Hörbücher, aber einmal habe ich mir auf einer langen,. langweiligen Autofahrt eines angehört, von einem Text, den ich glaubte schon fast auswendig zu kennen (eine sehr bekannte Geschichte von Maupassant). Das Hörbuch hat mir ganz neue Blickwinkel eröffnet, die mir bisher nicht aufgestoßen waren.
Den Fotografinnentext habe ich - in einer früheren Fassung - in meiner Schreibgruppe vorgelesen. Da haben mir mehrere Zuhörerinnen als erstes die Frage gestellt, was die Erzählerin eigentlich selbst meint, ob sie die Bauchfotos nun eigentlich gerne macht oder widerlich findet. Ich habe mich gefreut, dass die innere Ambivalenz der Erzählerin diese Frage nahelegt; damit habe ich meinen ersten Zweck schon erreicht.

Mich beschäftigt - aus persönlichen Gründen - die Problematik des Bildes, das man vom eigenen Körper hat, gerade sehr. Vielleicht langt es noch für einen weiteren Text zu dem Thema.
Hab Dank und liebe Grüße,
Zefira
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 16.06.2015, 20:19

Da haben mir mehrere Zuhörerinnen als erstes die Frage gestellt, was die Erzählerin eigentlich selbst meint, ob sie die Bauchfotos nun eigentlich gerne macht oder widerlich findet. Ich habe mich gefreut, dass die innere Ambivalenz der Erzählerin diese Frage nahelegt;


Ja, genau diese Ambivalenz ist es, die bei mir auch meine ganzen Fragen ausgelöst hat. Komisch, dass ich der Protagonistin das "übelnehme", vielleicht ist das mein Fehler?

Jondoy: Danke für deine immer wieder so spannenden und freigiebigen Kommentare!
Mich beschäftigt - aus persönlichen Gründen - die Problematik des Bildes, das man vom eigenen Körper hat, gerade sehr. Vielleicht langt es noch für einen weiteren Text zu dem Thema.


Unbedingt, bitte!

Liebe Grüße
Lisa
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Patrick
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Beitragvon Patrick » 27.09.2015, 14:04

Sehr schönes und spannendes Prosastück, das sich wirklich flüssig liest! Mich hat der erste Satz auch motiviert weiter zu lesen :)
Bin über ein paar Dinge gestolpert:

Ich fand die Wende mit dem Webcam-Girl irgendwie forciert. Verlässt die gewohnte Umgebung des Fotostudios.

Du schreibst "… wann ich zuletzt ein Bild von mir selbst gesehen hatte", aber es ist ja ein Video und auf Videos sieht man immer anders aus als auf Bildern (ist mir übrigens klar, dass Videos nichts anderes sind als aneinander gereihte Bilder :) ). In der Geschichte geht es um eine Fotografin und hier kommt die Pointe mit einem Video daher. Der Übergang fühlt sich irgendwie nicht so geschmeidig an.

Der folgende Abschnitt fand ich etwas verwirrend und kommt wie aus dem nichts geschossen:
Das Fotobuch mit den Bauchbildern ist übrigens inzwischen erschienen; meine ehemalige Praktikantin hat ein eigenes Studio eröffnet und bietet als besonderen Service „Körperporträts“ an. Ich habe ihr Buch bei Amazon bestellt, weil es mir peinlich gewesen wäre, es im Buchladen zu kaufen.

Die Fotografin hat auf ihr eigenes Buch ja verzichtet. Welches Buch also ist hier gemeint, das du mit einem übrigens einleitest? Natürlich das der Praktikantin, aber die "facts" kommen vor der Erklärung, dass sie jetzt ein Buch herausgebracht hat. "übrigens" schreibt man doch nur, wenn etwas vorher schon erwähnt wurde, aber du hast ja nur das Buch der Fotografin erwähnt, nicht das der Praktikantin.
Viele Grüße

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 04.10.2015, 20:44

Hallo Patrick,
ich kann Deinen letzten Einwand nachvollziehen, der Abschnitt mit der Praktikantin ist etwas bemüht. Ich habe ein paar Änderungen vorgenommen, die die Sache mit dem Fotobuch auch etwas beiläufiger erscheinen lassen.
Was den Unterschied zwischen Foto und Video betrifft - für mich persönlich ist der nicht so bedeutend. Ich würde eher vermuten, dass die meisten Menschen sich mit einer Videoaufnahme von sich selbst eher identifizieren könnten als mit einer Momentaufnahme, die ganz punktuell einen bestimmten Ausdruck oder eine bestimmte Geste zeigt. Wie auch immer, ich vermute sowieso, dass die Erzählerin auf dem Video ziemlich statisch im Hintergrund zu sehen ist, in Bewegung erscheint wohl nur die Kundin, und das Video ist ja auch nur ein paar Minuten lang.
Danke für Deine Rückmeldung!
Grüße von Zefira
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