Smolensk - Eine kurze Geschichte
Verfasst: 29.03.2016, 13:01
Hallo, liebe Salonbesucher,
mein Name ist Christian, ich bin 38 Jahre alt und schreibe gerne Geschichten. Um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, veröffentliche die Texte auf möglichst vielen Plattformen. Meine neueste Geschichte heißt SMOLENSK und behandelt die Probleme des Vaterwerdens auf, wie ich zu behaupten wage, ungewöhnlich Weise. Da man ja nicht komplette Geschichten posten soll (wenn ich dir Regeln richtig verstanden habe), hier eine Leseprobe. Ich würde mich über Rückmeldungen freuen:
SMOLENSK
„Wissen Sie“, sagt die Verkäuferin hinter der Käsetheke, „ich hab drei Kinder großgezogen und während der Schwangerschaft immer Rohmilchkäse gegessen, da ist nix passiert.”
Erst will ich sie nach einem Foto dieser drei Kinder fragen, doch dann nicke ich bloß zustimmend, denn grundsätzlich bin ich mit ihr einverstanden. Aber Klara will kein Risiko eingehen und auch das kann ich nachvollziehen. Also insistiere ich und bekomme schließlich Hartkäse aus der Franche-Comté, der so lange gereift ist, dass man ihn als unbedenklich einstufen kann.
Ich schaue in den Einkaufskorb: Brötchen, Käse, Milch, Aufschnitt, Wein und Eier. Alles da. Ich schlendere also gemütlich zur Kasse, lege alles aufs Band und komme auch recht schnell dran.
„18 Euro und 12 Cent“, sagt die Kassiererin.
Ich hole mein Portemonnaie raus und krame nach Kleingeld.
„Sammeln Sie Punkte?“, fragt die Kassiererin unterdessen.
„Ja, in Flensburg“, sage ich grinsend und krame weiter. Die Kassiererin lächelt müde. Die ältere Dame hinter mir seufzt hörbar laut. Ich krame schneller.
Dann, plötzlich, durchfährt ein heftiger Schmerz meinen Körper.
„Smolensk“, schreie ich laut auf, wie von der Tarantel gestochen.
Für einen Moment glaube ich, das Bewusstsein zu verlieren, fange mich dann aber wieder.
„Entschuldigung“, sage ich laut in die Runde der verdutzt umherstehenden Kunden und Angestellten. Hastig packe ich meine Sachen und gehe.
„Die russische Stadt?“, fragt Klara, als ich ihr, wieder zuhause, von dem Vorfall im Supermarkt erzähle.
„Genau die!“, erwidere ich.
„Bist du sicher?“, bohrt sie nach. „ Ich meine, kann es nicht sein, dass du einfach nur geniest hast und es dann so klang wie diese Stadt in Russland?.”
„Nein“, meine ich bestimmt, „ich habe nicht geniest. Es war ein zuckender, tiefgehender Schmerz, der mich gelähmt hat. Wie ein Blitz!“
Klara steht mit hilflos herunterhängenden Armen einen Moment lang recht verloren in der Küche. Sie weiß nicht, ob ich sie gerade veralbere oder ob ich es ernst meine. Ich kann es ihr nicht einmal verübeln.
„Klara, das ist kein Scherz. Ich habe diesen Schmerz gespürt, kurz und heftig.“
Sie nickt. Langsam.
„Was willst du jetzt machen? Zum Arzt gehen?“
Ich denke kurz nach.
„Du, ich glaube, ich lege mich erst einmal hin. Ich habe jetzt im Moment ja keine Schmerzen. Dann sehen wir weiter.“
Wieder nickt Klara.
„Das ist vielleicht das Beste. Nichts überstürzen.“
Ich lächele, streiche Klara kurz mit der flachen Hand über die Wange und gehe dann ins Wohnzimmer, um mich auf die Couch zu legen. Ich baue mir mit vier großen Kissen eine kleine Höhle, ziehe die dicke Decke über meinen Kopf und schlummere ein.
*
Ein leichter Nebel legt sich über mein Bewusstsein. Meine Sinne sind eingeschränkt. Ich kann sehen und hören und sprechen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich fühlen und schmecken kann. Es ist, als stünde ich neben mir und beobachtete mein eigenes Leben. Aber was ist das für ein Leben?
Ich sehe mich auf einer Wiese liegen, vor mir ein Fluss. Ich schaue an mir herunter und trage sonderbare Kleidung. Schwarze, glänzend polierte Schaftstiefel über einer blauen Hose, die sich eng an meine Beine schmiegt. Darüber einen langen blauen Mantel mit rotem Innenfutter und goldenen Messingknöpfen. Links neben mir auf der Wiese liegt ein Hut, der an die Hüte von Zinnsoldaten erinnert, und rechts neben mir ein Mann, offenbar ein Kamerad, der die gleiche Uniform trägt. Etwas weiter sind zwei Pferde an einen Baum gebunden. Sie grasen.
„Glaubst du, dass Barclay sich dem Kampf stellen wird?“, fragt mich der Kamerad plötzlich.
„Keine Ahnung“, erwidere ich aufs Geratewohl.
„Immer nehmen sie Reißaus, nie stellen sie sich. Was für Hasenfüße. Aber ER wird sie diesmal nicht entkommen lassen. ER wird sie umzingeln und im Rücken angreifen.“
Ich nicke verständnisvoll, aber ich denke: Wovon redet der da? Wer bin ich? Wo bin ich? Und vor allem, wann bin ich?
Mein Kamerad steht auf.
„Eigentlich ein schöner Fluss“, sagt er, hebt die Hand und zeigt auf die gegenüberliegende Seite des Stromes. „Junots und Poniatowskis Verbände sind irgendwo da drüben. Aber der Junot mit seinen westphälischen Truppen nutzt uns gar nichts. Poniatowski dagegen ...“
Der Kamerad spricht den Satz nicht zu Ende, aber sein Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass er große Stücke auf diesen Posnatowski, oder wie auch immer er heißt, hält.
Eine Weile schauen wir noch auf den Fluss, gedankenverloren. Dann streckt der Kamerad mir seine Hand entgegen, um mir beim Aufstehen zu helfen. Ich zögere kurz, dann biete ich sie ihm an. Als ich sehe, wie seine Hand in meine greift, meine ich plötzlich, die zupackende Kraft meines Kameraden spüren zu können. Dann bin ich weg.
*
Als ich in die Küche komme, steht Klara vor der Spüle.
„Und, geht es dir besser?“
„Ja, geht wieder“, sage ich. Aus irgendeinem Grund verschweige ich ihr den Schlummertraum, der mich kurz zuvor ereilt hat. Eine Weile stehe ich noch verloren in der Küche herum, dann kommt mir die Idee, im Internet die Namen aus dem Traum einzugeben.
Ich gehe ins Arbeitszimmer, schalte den Computer ein und öffne den Browser. Ich gebe Juno, Ponatowski und Smolensk in die Suchmaschine ein. Als ich die Enter-Taste drücke, korrigiert die Suchmaschine automatisch meine Schreibweise: Meinten Sie Junot Poniatowski Smolensk? Als ich auf die korrigierte Version meiner Anfrage klicke, ist einer der ersten Treffer ein Eintrag über Jósef Antoni Poniatowski, einem polnischen Fürst, General und Marschall von Frankreich. Ich scrolle runter und suche nach einem Bezug zu Smolensk. Ich finde etwas unter dem Eintrag: Die Grande Armée und der Russlandfeldzug. Offensichtlich hat dieser Poniatowski unter Napoleon in Smolensk gegen die Russen gekämpft.
Ich lehne mich konsterniert in meinen Sessel zurück. Ich suche eine logische Erklärung dafür, dass mir im Traum Namen, Orte und Gegebenheiten präsent sind, von denen ich meine, sie nie zuvor gehört zu haben. Ich versuche mich krampfhaft an meinen Geschichtsunterricht in der Schule und an irgendwelche Dokumentationen im Fernsehen zu erinnern. Habe ich dort diese Namen und Orte aufgeschnappt? Sind sie in mein Langzeitgedächtnis eingesickert, dort ‚eingeschlafen’ und nun plötzlich wieder ‚aufgewacht’? Wie kann das sein? Warum träume ich so einen Schwachsinn?
Irgendwann stehe ich auf und gehe zurück in die Küche. Ich gehe zu Klara, die am Küchentisch sitzt, fahre ihr mit der rechten Hand mechanisch durchs Haar und streichele ihren dicken Bauch.
„Was ist los mit dir?“, fragt sie. „Du bist schon wieder so...komisch.“
Wider besseres Wissen erzähle ich Klara daraufhin von meinem Schlummertraum. Mit jedem Satz springt meine Unruhe auf sie über, ohne dass sich die meine verliert. Ich kann förmlich sehen, wie sie versucht, sich zu beherrschen. Und wie es ihr misslingt.
„Du willst mich doch verarschen!“, schreit sie schließlich und steht langsam auf, indem sie sich mit beiden Armen vom Tisch abstützt.
„Nein“, gebe ich laut zurück, und schiebe ein nervöses Lachen hinterher. „Ich kann doch nichts dafür.“
Klara starrt mich noch einen Moment lang an, dann verlässt sie wortlos den Raum.
Für den Nachmittag und den frühen Abend gehen wir uns aus dem Weg. Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Mit jeder Minute wird die Angst vor der Nacht und dem damit einhergehenden Schlaf größer. Was, wenn ich mich wieder in diese Welt träume? Was, wenn die Erlebnisse im Traum wieder so real wirken? Bin ich dabei, verrückt zu werden? Oder sind das noch die normalen Begleiterscheinungen eines werdenden Vaters?
Kurz vor elf Uhr abends begegne ich Klara auf dem Flur unserer kleinen Wohnung. Wie zwei Fremde schauen wir uns an. Sie hat sich bewusst im Wohnzimmer verkrochen und ich habe mich im Arbeitszimmer verschanzt, um im Internet nach weiteren Informationen über Napoleons Russlandfeldzug zu suchen. Ich stelle mich Klara in den Weg, um sie zur Rede zu stellen und um sie zu besänftigen.
„Klara“, fange ich an.
Ich hebe beschwichtigend die Hand.
„Träume sind Schäume“, griene ich hilflos weiter.
Ich versuche ein Lächeln, verbunden mit einer behutsamen Bewegung in ihre Richtung. Sie weicht erst aus, dann lässt sie mich ihre Wange streicheln und durch ihr Haar fahren.
„Lass uns schlafen gehen“, sagt sie in einem versöhnlichen Ton.
Ich zucke kurz, ziehe die Hand zurück und zwinge mich zur Selbstbeherrschung.
„Das ist vielleicht das Beste“, lüge ich.
Eine halbe Stunde später liege ich neben Klara. Sie ist schon eingeschlafen. Ich dagegen kämpfe gegen den Schlaf. Doch das Adrenalin meiner Aufregung versiegt bald und ich verliere mich in den warmen Laken und der weichen Matratze unseres großen Bettes.
*
Ich sehe im Morgengrauen auf den Fluss vor mir. Drei in der Nacht errichtete Brücken liegen wie schwarze Schatten auf dem vom Mondlicht schimmernden Fluss. Es ist kalt, aber nicht eisig. Um mich herum Offiziere, Infanterie und Reiter, ich höre Französisch aber auch andere Sprachen. In der Menge herrscht eine wohlige Aufregung, leutselige Angriffslust gepaart mit verhohlener Anspannung. Ich und mein Kamerad überqueren den Fluss mit unseren Pferden auf der mittleren Brücke. Als wir auf der anderen Seite ankommen, spricht uns ein anderer Reiter an. Im Halbschatten des anbrechenden Tages erkenne ich nur seine Silhouette.
„Welches Korps?“
„Murat“, sage ich, nicht ohne Stolz. „Und Ihr?“, frage ich zurück.
„Junot“, erwidert der Mann, ebenso stolz.
„ Was passiert jetzt?“, frage ich weiter.
„Es geht direkt nach Smolensk“, erwidert der Reiter. „In Mogilew hat man uns gesagt, dass wir uns hier mit euch zusammentun würden. Jetzt geht es auf diese Allee dort. Sie führt direkt nach Smolensk. Wir sind schon ein gutes Stück des Weges darauf geritten, eine wahrhaft prächtige Allee.“
Mein Kamerad und ich nicken bloß. Wir steigen auf unsere Pferde und schicken uns an, zu unseren Kameraden zu reiten. Der Reiter aus Junots Korps fasst sich zum Abschied an den Hut und gibt seinem Pferd übertrieben eifrig die Sporen. Mein Kamerad und ich tauschen einen vielsagenden Blick aus.
Wir reiten eine gute Weile auf der tatsächlich prächtigen, birkengesäumten Allee. Im Trott und im Lichte der aufgehenden Sonne fallen mir vor Kälte immer wieder die Augen zu. Als ich wieder einmal drohe, dem Sekundenschlaf anheim zu fallen, kommt plötzlich wieder Bewegung in die Menge vor uns: Feindkontakt bei Krasnyj, eine Division von knapp 8000 Mann. Bereit machen zum Angriff!
„Das sind Newerowskijs Männer“, weiß einer der Offiziere, „frische Rekruten, leichte Beute.“
Diebische Freude macht sich breit und bevor ich mich versehe, greifen wir an. Obwohl zahlenmäßig und an Waffen haushoch überlegen, gestaltet sich unser Angriff schwieriger als erwartet. Newerowskij stellt seine Soldaten in einer verlängerten Karreeformation auf. Statt sich panisch in alle Winde zu zerstreuen und leichte Angriffsfläche zu bieten, ziehen sich die gegnerischen Soldaten ruhig und dicht beieinander stehend zurück. Mehrmals sehe ich mir dabei zu, wie ich den Säbel auf ein Schild niedersausen lasse, ohne jede Emotion.
Wir dezimieren den Gegner zwar um fast zweitausend Soldaten, müssen dafür aber fast dreißig Angriffe starten. Am Ende erreicht Neweroskij Korytnja, wo er Verstärkung erhält. Wir sehen uns zum Rückzug genötigt.
Am selben Abend vernehmen wir die Kunde, dass Napoleon Korytnja erreicht habe. Da es sein Geburtstag ist, wird er mit hundert Schuss Salut begrüßt. Beim dreiunddreißigsten Schuss wache ich auf.
*
Ich liege inmitten der Dunkelheit. Direkt neben mir höre ich das einem monotonen Rhythmus folgende Atmen meiner Frau. Ich starre an die Decke und fühle mich wie ein Astronaut im Weltraum, frei schwebend und verloren. Krampfhaft unterdrücke ich den Impuls, Klara zu wecken und ihr von diesem Traum zu erzählen. Obwohl ich instinktiv die Flucht ergreifen will, bleibe ich reglos im Bett liegen. Irgendwann drehe ich mich zur Seite, berühre die schlafende Klara leicht am Arm und versuche mich an ihr festzuhalten, körperlich und mental. Ihre Anwesenheit beruhigt mich zunächst, aber dann denke ich daran, dass in ihrem Körper zwei Herzen schlagen und dieser Gedanke kommt mir plötzlich so fremd und eigenartig vor, dass ich für einen Moment das Gefühl habe, den Verstand zu verlieren.
Ich schaue auf die Uhr. Fünf Uhr zweiunddreißig. Ich schlage die Decke zurück und schäle mich aus dem Bett. Ich gehe in den Flur und hebe den Hörer vom Telefon. Die Uhrzeit ist mir egal, ich brauche Hilfe. Ich wähle eine Nummer in Berlin. Jonas Leit, Freund und, viel wichtiger, Psychologe.
„Leit hier“, ertönt es nach einiger Zeit verschlafen aus dem Hörer.
„Jonas, ich bin’s“, sage ich.
Ein resigniertes Schnaufen. „Du weißt schon, dass Deutschland nur eine Zeitzone hat?“
„Das weiß ich“, erwidere ich. „Ich würde auch nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Ich glaube, ich verliere den Verstand.“
Sofort ist Jonas alarmiert. Ich höre förmlich, wie er sich im Bett aufrichtet.
„Erzähl von Anfang an!“
Seine plötzliche Professionalität beruhigt mich. Er wird mir helfen können, davon bin ich überzeugt. Ich erzähle ihm alles, von der Szene im Supermarkt, von den Träumen, von den Recherchen im Internet, von meinem bisherigen Wissensstand und der Genauigkeit der Fakten im Traum. Ich erzähle ihm von meiner Angst einzuschlafen und von den teilweise sehr real wirkenden Empfindungen im Traum. Und Jonas hört zu. Er hört aufmerksam zu. Als ich fertig bin, schweigt er einen Moment lang.
„Gut“, sagt er schließlich. „Ich denke, wir sollten zunächst vereinfachen: Du träumst vom Krieg. Dass das alles mit den historischen Fakten übereinstimmt, lassen wir mal außen vor. Krieg im Traum deutet meist auf einen Konflikt hin, einen bewusst herbeigeführten. Er kann für die Angst stehen, in etwas hineingezogen zu werden, das man eigentlich nicht will. So, ich wage jetzt mal eine steile These: Du und Klara, ihr bekommt ein Kind. Das habt ihr ja geplant, geh ich zumindest von aus. Und jetzt, so kurz vor der Entbindung, merkst du plötzlich, dass dieses kleine Lebewesen dein bisheriges Leben komplett auf den Kopf stellen wird. Deine Freiheit, deine Unabhängigkeit, deine Hobbies, das ist bald alles passé. Und du trägst einen Kampf mit dir aus: Willst du so leben? Willst du das alles aufgeben? Gibt es einen Ausweg? Das ist dein innerer Kampf! Verantwortung für Klara und das Kind gegen individuelle Entfaltung und Unabhängigkeit!“
„Wow“, sage ich nach einer kurzen Pause.
„Nicht schlecht, was?“, erwidert Jonas. Der Stolz in seiner Stimme ist auch über den Hörer zu vernehmen.
„Nein“, sage ich lachend in den Hörer hinein, „das ist der größte Bockmist, den ich je gehört habe.“
„Ach, leck mich doch!“, keift Jonas zurück und ich höre nur noch ein Klacken.
Ich überlege kurz, ob ich ihn zurückrufen soll, lass es dann aber bleiben. Ich fürchte, er kann mir auch nicht helfen, gleichgültig, ob an seiner Theorie etwas dran ist oder nicht.
Ich kehre zurück ins Schlafzimmer, lege mich neben die immer noch schlafende Klara und warte darauf, dass der Tag anbricht. Als die Sonne den Raum ins Morgenlicht taucht und Klara langsam aufwacht, kommt mir das Gespräch mit Jonas plötzlich so unwirklich vor, dass ich mich frage, ob ich ihn wirklich mitten in der Nacht angerufen habe.
Der Tag mit Klara beginnt mit der üblichen Routine. Wir stehen gemeinsam auf, erst dusche ich, dann sie, und während sie sich fertig macht, gehe ich die Brötchen holen. Als ich die Wohnung wieder betrete, rieche ich den Duft von Kaffee. Klara erwartet mich lächelnd am Küchentisch und ihr Anblick beruhigt mich augenblicklich. Ich setze mich hin, wir schmieren Brötchen, ich trinke Kaffee, lese aus der Zeitung und wir unterhalten uns ein wenig über belanglose Dinge. Alle diese kleinen Rituale geben mir die Gewissheit: Ich bin immer noch ich. Ich bin fest verankert in diesem Leben, ich werde bald Vater und wir werden eine glückliche Familie sein. Alles wird gut. Träume sind Schäume.
Kurz vor Mittag beenden wir das Frühstück. Klara geht ins Wohnzimmer, um ihre Schwangerschaftsgymnastik zu machen, ich räume den Tisch ab. Ich fühle mich hellwach und das beruhigt mich. Solange ich nicht müde bin oder werde, ist meine Laune bestens.
Doch als ich gerade einen Teller in die Spülmaschine räumen will und ich mich hinunterbücke, um die Klappe aufzumachen, kommt es ganz plötzlich. Ich schieße aus der gebückten Haltung nach oben, fasse mir wie bei einem Hexenschuss ans Kreuz und spüre den Blitz, wie er durch meinen Körper schießt. Der Teller gleitet aus meiner Hand, knallt auf den Boden und zerspringt in mehrere Teile. Ich schreie laut auf und denke noch: Herzanfall?
Ich fühle nichts. Dann wird es schwarz.
mein Name ist Christian, ich bin 38 Jahre alt und schreibe gerne Geschichten. Um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, veröffentliche die Texte auf möglichst vielen Plattformen. Meine neueste Geschichte heißt SMOLENSK und behandelt die Probleme des Vaterwerdens auf, wie ich zu behaupten wage, ungewöhnlich Weise. Da man ja nicht komplette Geschichten posten soll (wenn ich dir Regeln richtig verstanden habe), hier eine Leseprobe. Ich würde mich über Rückmeldungen freuen:
SMOLENSK
„Wissen Sie“, sagt die Verkäuferin hinter der Käsetheke, „ich hab drei Kinder großgezogen und während der Schwangerschaft immer Rohmilchkäse gegessen, da ist nix passiert.”
Erst will ich sie nach einem Foto dieser drei Kinder fragen, doch dann nicke ich bloß zustimmend, denn grundsätzlich bin ich mit ihr einverstanden. Aber Klara will kein Risiko eingehen und auch das kann ich nachvollziehen. Also insistiere ich und bekomme schließlich Hartkäse aus der Franche-Comté, der so lange gereift ist, dass man ihn als unbedenklich einstufen kann.
Ich schaue in den Einkaufskorb: Brötchen, Käse, Milch, Aufschnitt, Wein und Eier. Alles da. Ich schlendere also gemütlich zur Kasse, lege alles aufs Band und komme auch recht schnell dran.
„18 Euro und 12 Cent“, sagt die Kassiererin.
Ich hole mein Portemonnaie raus und krame nach Kleingeld.
„Sammeln Sie Punkte?“, fragt die Kassiererin unterdessen.
„Ja, in Flensburg“, sage ich grinsend und krame weiter. Die Kassiererin lächelt müde. Die ältere Dame hinter mir seufzt hörbar laut. Ich krame schneller.
Dann, plötzlich, durchfährt ein heftiger Schmerz meinen Körper.
„Smolensk“, schreie ich laut auf, wie von der Tarantel gestochen.
Für einen Moment glaube ich, das Bewusstsein zu verlieren, fange mich dann aber wieder.
„Entschuldigung“, sage ich laut in die Runde der verdutzt umherstehenden Kunden und Angestellten. Hastig packe ich meine Sachen und gehe.
„Die russische Stadt?“, fragt Klara, als ich ihr, wieder zuhause, von dem Vorfall im Supermarkt erzähle.
„Genau die!“, erwidere ich.
„Bist du sicher?“, bohrt sie nach. „ Ich meine, kann es nicht sein, dass du einfach nur geniest hast und es dann so klang wie diese Stadt in Russland?.”
„Nein“, meine ich bestimmt, „ich habe nicht geniest. Es war ein zuckender, tiefgehender Schmerz, der mich gelähmt hat. Wie ein Blitz!“
Klara steht mit hilflos herunterhängenden Armen einen Moment lang recht verloren in der Küche. Sie weiß nicht, ob ich sie gerade veralbere oder ob ich es ernst meine. Ich kann es ihr nicht einmal verübeln.
„Klara, das ist kein Scherz. Ich habe diesen Schmerz gespürt, kurz und heftig.“
Sie nickt. Langsam.
„Was willst du jetzt machen? Zum Arzt gehen?“
Ich denke kurz nach.
„Du, ich glaube, ich lege mich erst einmal hin. Ich habe jetzt im Moment ja keine Schmerzen. Dann sehen wir weiter.“
Wieder nickt Klara.
„Das ist vielleicht das Beste. Nichts überstürzen.“
Ich lächele, streiche Klara kurz mit der flachen Hand über die Wange und gehe dann ins Wohnzimmer, um mich auf die Couch zu legen. Ich baue mir mit vier großen Kissen eine kleine Höhle, ziehe die dicke Decke über meinen Kopf und schlummere ein.
*
Ein leichter Nebel legt sich über mein Bewusstsein. Meine Sinne sind eingeschränkt. Ich kann sehen und hören und sprechen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich fühlen und schmecken kann. Es ist, als stünde ich neben mir und beobachtete mein eigenes Leben. Aber was ist das für ein Leben?
Ich sehe mich auf einer Wiese liegen, vor mir ein Fluss. Ich schaue an mir herunter und trage sonderbare Kleidung. Schwarze, glänzend polierte Schaftstiefel über einer blauen Hose, die sich eng an meine Beine schmiegt. Darüber einen langen blauen Mantel mit rotem Innenfutter und goldenen Messingknöpfen. Links neben mir auf der Wiese liegt ein Hut, der an die Hüte von Zinnsoldaten erinnert, und rechts neben mir ein Mann, offenbar ein Kamerad, der die gleiche Uniform trägt. Etwas weiter sind zwei Pferde an einen Baum gebunden. Sie grasen.
„Glaubst du, dass Barclay sich dem Kampf stellen wird?“, fragt mich der Kamerad plötzlich.
„Keine Ahnung“, erwidere ich aufs Geratewohl.
„Immer nehmen sie Reißaus, nie stellen sie sich. Was für Hasenfüße. Aber ER wird sie diesmal nicht entkommen lassen. ER wird sie umzingeln und im Rücken angreifen.“
Ich nicke verständnisvoll, aber ich denke: Wovon redet der da? Wer bin ich? Wo bin ich? Und vor allem, wann bin ich?
Mein Kamerad steht auf.
„Eigentlich ein schöner Fluss“, sagt er, hebt die Hand und zeigt auf die gegenüberliegende Seite des Stromes. „Junots und Poniatowskis Verbände sind irgendwo da drüben. Aber der Junot mit seinen westphälischen Truppen nutzt uns gar nichts. Poniatowski dagegen ...“
Der Kamerad spricht den Satz nicht zu Ende, aber sein Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass er große Stücke auf diesen Posnatowski, oder wie auch immer er heißt, hält.
Eine Weile schauen wir noch auf den Fluss, gedankenverloren. Dann streckt der Kamerad mir seine Hand entgegen, um mir beim Aufstehen zu helfen. Ich zögere kurz, dann biete ich sie ihm an. Als ich sehe, wie seine Hand in meine greift, meine ich plötzlich, die zupackende Kraft meines Kameraden spüren zu können. Dann bin ich weg.
*
Als ich in die Küche komme, steht Klara vor der Spüle.
„Und, geht es dir besser?“
„Ja, geht wieder“, sage ich. Aus irgendeinem Grund verschweige ich ihr den Schlummertraum, der mich kurz zuvor ereilt hat. Eine Weile stehe ich noch verloren in der Küche herum, dann kommt mir die Idee, im Internet die Namen aus dem Traum einzugeben.
Ich gehe ins Arbeitszimmer, schalte den Computer ein und öffne den Browser. Ich gebe Juno, Ponatowski und Smolensk in die Suchmaschine ein. Als ich die Enter-Taste drücke, korrigiert die Suchmaschine automatisch meine Schreibweise: Meinten Sie Junot Poniatowski Smolensk? Als ich auf die korrigierte Version meiner Anfrage klicke, ist einer der ersten Treffer ein Eintrag über Jósef Antoni Poniatowski, einem polnischen Fürst, General und Marschall von Frankreich. Ich scrolle runter und suche nach einem Bezug zu Smolensk. Ich finde etwas unter dem Eintrag: Die Grande Armée und der Russlandfeldzug. Offensichtlich hat dieser Poniatowski unter Napoleon in Smolensk gegen die Russen gekämpft.
Ich lehne mich konsterniert in meinen Sessel zurück. Ich suche eine logische Erklärung dafür, dass mir im Traum Namen, Orte und Gegebenheiten präsent sind, von denen ich meine, sie nie zuvor gehört zu haben. Ich versuche mich krampfhaft an meinen Geschichtsunterricht in der Schule und an irgendwelche Dokumentationen im Fernsehen zu erinnern. Habe ich dort diese Namen und Orte aufgeschnappt? Sind sie in mein Langzeitgedächtnis eingesickert, dort ‚eingeschlafen’ und nun plötzlich wieder ‚aufgewacht’? Wie kann das sein? Warum träume ich so einen Schwachsinn?
Irgendwann stehe ich auf und gehe zurück in die Küche. Ich gehe zu Klara, die am Küchentisch sitzt, fahre ihr mit der rechten Hand mechanisch durchs Haar und streichele ihren dicken Bauch.
„Was ist los mit dir?“, fragt sie. „Du bist schon wieder so...komisch.“
Wider besseres Wissen erzähle ich Klara daraufhin von meinem Schlummertraum. Mit jedem Satz springt meine Unruhe auf sie über, ohne dass sich die meine verliert. Ich kann förmlich sehen, wie sie versucht, sich zu beherrschen. Und wie es ihr misslingt.
„Du willst mich doch verarschen!“, schreit sie schließlich und steht langsam auf, indem sie sich mit beiden Armen vom Tisch abstützt.
„Nein“, gebe ich laut zurück, und schiebe ein nervöses Lachen hinterher. „Ich kann doch nichts dafür.“
Klara starrt mich noch einen Moment lang an, dann verlässt sie wortlos den Raum.
Für den Nachmittag und den frühen Abend gehen wir uns aus dem Weg. Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Mit jeder Minute wird die Angst vor der Nacht und dem damit einhergehenden Schlaf größer. Was, wenn ich mich wieder in diese Welt träume? Was, wenn die Erlebnisse im Traum wieder so real wirken? Bin ich dabei, verrückt zu werden? Oder sind das noch die normalen Begleiterscheinungen eines werdenden Vaters?
Kurz vor elf Uhr abends begegne ich Klara auf dem Flur unserer kleinen Wohnung. Wie zwei Fremde schauen wir uns an. Sie hat sich bewusst im Wohnzimmer verkrochen und ich habe mich im Arbeitszimmer verschanzt, um im Internet nach weiteren Informationen über Napoleons Russlandfeldzug zu suchen. Ich stelle mich Klara in den Weg, um sie zur Rede zu stellen und um sie zu besänftigen.
„Klara“, fange ich an.
Ich hebe beschwichtigend die Hand.
„Träume sind Schäume“, griene ich hilflos weiter.
Ich versuche ein Lächeln, verbunden mit einer behutsamen Bewegung in ihre Richtung. Sie weicht erst aus, dann lässt sie mich ihre Wange streicheln und durch ihr Haar fahren.
„Lass uns schlafen gehen“, sagt sie in einem versöhnlichen Ton.
Ich zucke kurz, ziehe die Hand zurück und zwinge mich zur Selbstbeherrschung.
„Das ist vielleicht das Beste“, lüge ich.
Eine halbe Stunde später liege ich neben Klara. Sie ist schon eingeschlafen. Ich dagegen kämpfe gegen den Schlaf. Doch das Adrenalin meiner Aufregung versiegt bald und ich verliere mich in den warmen Laken und der weichen Matratze unseres großen Bettes.
*
Ich sehe im Morgengrauen auf den Fluss vor mir. Drei in der Nacht errichtete Brücken liegen wie schwarze Schatten auf dem vom Mondlicht schimmernden Fluss. Es ist kalt, aber nicht eisig. Um mich herum Offiziere, Infanterie und Reiter, ich höre Französisch aber auch andere Sprachen. In der Menge herrscht eine wohlige Aufregung, leutselige Angriffslust gepaart mit verhohlener Anspannung. Ich und mein Kamerad überqueren den Fluss mit unseren Pferden auf der mittleren Brücke. Als wir auf der anderen Seite ankommen, spricht uns ein anderer Reiter an. Im Halbschatten des anbrechenden Tages erkenne ich nur seine Silhouette.
„Welches Korps?“
„Murat“, sage ich, nicht ohne Stolz. „Und Ihr?“, frage ich zurück.
„Junot“, erwidert der Mann, ebenso stolz.
„ Was passiert jetzt?“, frage ich weiter.
„Es geht direkt nach Smolensk“, erwidert der Reiter. „In Mogilew hat man uns gesagt, dass wir uns hier mit euch zusammentun würden. Jetzt geht es auf diese Allee dort. Sie führt direkt nach Smolensk. Wir sind schon ein gutes Stück des Weges darauf geritten, eine wahrhaft prächtige Allee.“
Mein Kamerad und ich nicken bloß. Wir steigen auf unsere Pferde und schicken uns an, zu unseren Kameraden zu reiten. Der Reiter aus Junots Korps fasst sich zum Abschied an den Hut und gibt seinem Pferd übertrieben eifrig die Sporen. Mein Kamerad und ich tauschen einen vielsagenden Blick aus.
Wir reiten eine gute Weile auf der tatsächlich prächtigen, birkengesäumten Allee. Im Trott und im Lichte der aufgehenden Sonne fallen mir vor Kälte immer wieder die Augen zu. Als ich wieder einmal drohe, dem Sekundenschlaf anheim zu fallen, kommt plötzlich wieder Bewegung in die Menge vor uns: Feindkontakt bei Krasnyj, eine Division von knapp 8000 Mann. Bereit machen zum Angriff!
„Das sind Newerowskijs Männer“, weiß einer der Offiziere, „frische Rekruten, leichte Beute.“
Diebische Freude macht sich breit und bevor ich mich versehe, greifen wir an. Obwohl zahlenmäßig und an Waffen haushoch überlegen, gestaltet sich unser Angriff schwieriger als erwartet. Newerowskij stellt seine Soldaten in einer verlängerten Karreeformation auf. Statt sich panisch in alle Winde zu zerstreuen und leichte Angriffsfläche zu bieten, ziehen sich die gegnerischen Soldaten ruhig und dicht beieinander stehend zurück. Mehrmals sehe ich mir dabei zu, wie ich den Säbel auf ein Schild niedersausen lasse, ohne jede Emotion.
Wir dezimieren den Gegner zwar um fast zweitausend Soldaten, müssen dafür aber fast dreißig Angriffe starten. Am Ende erreicht Neweroskij Korytnja, wo er Verstärkung erhält. Wir sehen uns zum Rückzug genötigt.
Am selben Abend vernehmen wir die Kunde, dass Napoleon Korytnja erreicht habe. Da es sein Geburtstag ist, wird er mit hundert Schuss Salut begrüßt. Beim dreiunddreißigsten Schuss wache ich auf.
*
Ich liege inmitten der Dunkelheit. Direkt neben mir höre ich das einem monotonen Rhythmus folgende Atmen meiner Frau. Ich starre an die Decke und fühle mich wie ein Astronaut im Weltraum, frei schwebend und verloren. Krampfhaft unterdrücke ich den Impuls, Klara zu wecken und ihr von diesem Traum zu erzählen. Obwohl ich instinktiv die Flucht ergreifen will, bleibe ich reglos im Bett liegen. Irgendwann drehe ich mich zur Seite, berühre die schlafende Klara leicht am Arm und versuche mich an ihr festzuhalten, körperlich und mental. Ihre Anwesenheit beruhigt mich zunächst, aber dann denke ich daran, dass in ihrem Körper zwei Herzen schlagen und dieser Gedanke kommt mir plötzlich so fremd und eigenartig vor, dass ich für einen Moment das Gefühl habe, den Verstand zu verlieren.
Ich schaue auf die Uhr. Fünf Uhr zweiunddreißig. Ich schlage die Decke zurück und schäle mich aus dem Bett. Ich gehe in den Flur und hebe den Hörer vom Telefon. Die Uhrzeit ist mir egal, ich brauche Hilfe. Ich wähle eine Nummer in Berlin. Jonas Leit, Freund und, viel wichtiger, Psychologe.
„Leit hier“, ertönt es nach einiger Zeit verschlafen aus dem Hörer.
„Jonas, ich bin’s“, sage ich.
Ein resigniertes Schnaufen. „Du weißt schon, dass Deutschland nur eine Zeitzone hat?“
„Das weiß ich“, erwidere ich. „Ich würde auch nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Ich glaube, ich verliere den Verstand.“
Sofort ist Jonas alarmiert. Ich höre förmlich, wie er sich im Bett aufrichtet.
„Erzähl von Anfang an!“
Seine plötzliche Professionalität beruhigt mich. Er wird mir helfen können, davon bin ich überzeugt. Ich erzähle ihm alles, von der Szene im Supermarkt, von den Träumen, von den Recherchen im Internet, von meinem bisherigen Wissensstand und der Genauigkeit der Fakten im Traum. Ich erzähle ihm von meiner Angst einzuschlafen und von den teilweise sehr real wirkenden Empfindungen im Traum. Und Jonas hört zu. Er hört aufmerksam zu. Als ich fertig bin, schweigt er einen Moment lang.
„Gut“, sagt er schließlich. „Ich denke, wir sollten zunächst vereinfachen: Du träumst vom Krieg. Dass das alles mit den historischen Fakten übereinstimmt, lassen wir mal außen vor. Krieg im Traum deutet meist auf einen Konflikt hin, einen bewusst herbeigeführten. Er kann für die Angst stehen, in etwas hineingezogen zu werden, das man eigentlich nicht will. So, ich wage jetzt mal eine steile These: Du und Klara, ihr bekommt ein Kind. Das habt ihr ja geplant, geh ich zumindest von aus. Und jetzt, so kurz vor der Entbindung, merkst du plötzlich, dass dieses kleine Lebewesen dein bisheriges Leben komplett auf den Kopf stellen wird. Deine Freiheit, deine Unabhängigkeit, deine Hobbies, das ist bald alles passé. Und du trägst einen Kampf mit dir aus: Willst du so leben? Willst du das alles aufgeben? Gibt es einen Ausweg? Das ist dein innerer Kampf! Verantwortung für Klara und das Kind gegen individuelle Entfaltung und Unabhängigkeit!“
„Wow“, sage ich nach einer kurzen Pause.
„Nicht schlecht, was?“, erwidert Jonas. Der Stolz in seiner Stimme ist auch über den Hörer zu vernehmen.
„Nein“, sage ich lachend in den Hörer hinein, „das ist der größte Bockmist, den ich je gehört habe.“
„Ach, leck mich doch!“, keift Jonas zurück und ich höre nur noch ein Klacken.
Ich überlege kurz, ob ich ihn zurückrufen soll, lass es dann aber bleiben. Ich fürchte, er kann mir auch nicht helfen, gleichgültig, ob an seiner Theorie etwas dran ist oder nicht.
Ich kehre zurück ins Schlafzimmer, lege mich neben die immer noch schlafende Klara und warte darauf, dass der Tag anbricht. Als die Sonne den Raum ins Morgenlicht taucht und Klara langsam aufwacht, kommt mir das Gespräch mit Jonas plötzlich so unwirklich vor, dass ich mich frage, ob ich ihn wirklich mitten in der Nacht angerufen habe.
Der Tag mit Klara beginnt mit der üblichen Routine. Wir stehen gemeinsam auf, erst dusche ich, dann sie, und während sie sich fertig macht, gehe ich die Brötchen holen. Als ich die Wohnung wieder betrete, rieche ich den Duft von Kaffee. Klara erwartet mich lächelnd am Küchentisch und ihr Anblick beruhigt mich augenblicklich. Ich setze mich hin, wir schmieren Brötchen, ich trinke Kaffee, lese aus der Zeitung und wir unterhalten uns ein wenig über belanglose Dinge. Alle diese kleinen Rituale geben mir die Gewissheit: Ich bin immer noch ich. Ich bin fest verankert in diesem Leben, ich werde bald Vater und wir werden eine glückliche Familie sein. Alles wird gut. Träume sind Schäume.
Kurz vor Mittag beenden wir das Frühstück. Klara geht ins Wohnzimmer, um ihre Schwangerschaftsgymnastik zu machen, ich räume den Tisch ab. Ich fühle mich hellwach und das beruhigt mich. Solange ich nicht müde bin oder werde, ist meine Laune bestens.
Doch als ich gerade einen Teller in die Spülmaschine räumen will und ich mich hinunterbücke, um die Klappe aufzumachen, kommt es ganz plötzlich. Ich schieße aus der gebückten Haltung nach oben, fasse mir wie bei einem Hexenschuss ans Kreuz und spüre den Blitz, wie er durch meinen Körper schießt. Der Teller gleitet aus meiner Hand, knallt auf den Boden und zerspringt in mehrere Teile. Ich schreie laut auf und denke noch: Herzanfall?
Ich fühle nichts. Dann wird es schwarz.