Beschwerdebrief

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 20.07.2016, 11:21

Werter Geschäftsführer,
leider muss ich Ihnen mitteilen, dass mir der Service Ihres Hotels, in dem ich meinen letzten Urlaub verbracht habe, nicht zugesagt hat. Ich habe meinen Aufenthalt vorzeitig abgebrochen und werde von weiteren Besuchen bei Unternehmen Ihrer Kette absehen. Auch wenn ich ihr flexibles Zimmermanagementsystem im Prinzip bewundere, beweist die Praxis einmal mehr die Überlegenheit klassischer Lösungen über diese High-Tech-Spielereien.
Gleich zu Beginn war ich befremdet, als der Herr an der Rezeption meine 127stellige Zimmernummer 1786039384757103948571039487103294867102393486718293059182735819205928375019283757166019283756172839409582718283940610293847562 herunterleierte, offenbar in der Erwartung, ich werde sie mir merken. Auch der Zimmerschlüssel wurde durch den Anhänger, auf dem die nämliche Nummer eingraviert war, gelinde gesagt unhandlich. Dem Hörensagen nach kann ich mich dabei noch glücklich schätzen; die Bewohner von Zimmer 10^(10^10) sollen einen Lastwagen gebraucht haben, um den Schlüssel transportieren zu können. Der Umstieg auf digitale Speichertechnik könnte die Sache wenigstens für die niedrigeren Zimmernummern deutlich erleichtern. Für die meisten Touristen ist das Hotel allerdings ohnehin nicht geeignet, benötigte ich doch trotz des im Flur installierten Personenbeförderungsbandes mehrere Monate, bis ich mein Zimmer erreichte.
Ich hatte es kaum bezogen, als ich durchs Fenster mittels meines sehr leistungsfähigen Teleskopes einen neuen Gast kommen sah, für den in dem voll besetzten Hotel augenscheinlich kein Platz mehr war. Kurz darauf wurde ich per Gegensprechanlage aufgefordert, ins Nachbarzimmer - also Nr. 1786039384757103948571039487103294867102393486718293059182735819205928375019283757166019283756172839409582718283940610293847563 - umzuziehen. Eine ähnliche Anweisung schien an die anderen Gäste ebenfalls ergangen zu sein, auf dem Gang herrschte einige Unruhe.
Mein neues Zimmer war recht geschmackvoll eingerichtet, wenn auch verständlicherweise etwas altmodisch: Auch ein Innenarchitekt braucht ja einige Monate, es in Augenschein zu nehmen und einen Einrichtungsvorschlag zu erarbeiten, dann die gleiche Zeitspanne zurück zur Hoteldirektion und anschließend benötigt auch die Lieferung der Möbel ihre Zeit. Ich erinnerte mich, auf dem Hinweg einigen greisen Männern in Arbeitsuniformen begegnet zu sein und vermutete nun, sie seien nach vielen Jahrzehnten von der Einrichtung von 10^(10^10) zurück gekehrt. Vielleicht waren sie auch die Kinder der Einrichter oder ihre Urenkel. Arbeitsrechtlich ein Skandal - in dieser Hinsicht zumindest unterscheidet dieses Hotel sich wenig von anderen.
Kaum hatte ich mich auf mein Bett gelegt, als von draußen ein ohrenbetäubender Motorenlärm herein drang. Als ich hinaussah, erkannte ich einen der Hotel-eigenen Shuttlebusse. Er war vollbesetzt. Zunächst hielt ich es für einen Scherz, als nun, erneut per Lautsprecher, die Aufforderung erging, in das Zimmer mit der doppelten Nummer umzuziehen. Diese auch nur auszurechnen erwies sich als ebenso uninteressante wie Zeit- und Papier raubende Aufgabe. Erwartungsgemäß entstand auf dem Gang das reinste Chaos. Je höher die Zimmernummern, desto mehr Hotelgäste hatten sich verrechnet; zum Teil drängelten sich Gruppen von vier und mehr Gästen vor einzelnen Zimmern und schrieben die Wände voll in dem Versuch, die anderen von der Rechtmäßigkeit ihres Anspruches zu überzeugen. Überdies entstand ein schier unerträgliches Gedrängel: Man muss bedenken, dass schon an Zimmer 10^10 nicht weniger als 5000000000 Hotelgäste mitsamt Gepäck vorbei mußten, bei einem Gang, der nicht mehr als 3 Personen nebeneinander Platz bot - und nach oben hin wurde es nicht besser. Nebenbei bemerkt: Wie Sie es geschafft haben, den Brandschutzvorschriften zu genügen, ist mir ein Rätsel. Vermutlich hat das Bestechungsgeld pro Zimmer einen Preisaufschlag von 1€ bedeutet.
Ich selbst machte noch ein paar zaghafte Schritte in Richtung von Zimmer
1786039384757103948571039487103294867102393486718293059182735819205928375019283757166019283756172839409582718283940610293847563*2, überschlug dann aber im Kopf, dass ich es, selbst wenn ich mich bei Ankunft sofort auf den Rückweg machte, nicht rechtzeitig zu meinem 50. Geburtstag hinaus schaffen würde und begann stattdessen, das Hotel zu verlassen. Für meine insgesamt nur wenige Minuten währende Aufenthaltsdauer in einem der Hotelzimmer war die Rechnung imposant. Meine Entscheidung habe ich jedoch nicht bedauert: Als ich dieses Tollhaus schließlich durch die Vordertüre verließ, stand der gesamte Busparkplatz (der, wie ich mir habe sagen lassen, soviele Stellplätze hat wie das Hotel Zimmer) voll mit vollbesetzten Shuttle-Bussen. Ich hörte im Fortgehen noch, wie "der i-te Insasse des j-ten Busses" angewiesen wurde, "in Zimmer (i+j+1)(i+j)+2j" zu ziehen. Arme Teufel.
Sollte ich je wieder Urlaub in Cantors Paradies machen wollen, werde ich mir eine andere Unterkunft suchen. Vielleicht lege ich mich einfach unter einen Suslin-Baum. Ihr Hotel jedenfalls ist eine Zumutung, Herr Hilbert.
MfG
L. Brouwer
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 20.07.2016, 11:52, insgesamt 1-mal geändert.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 20.07.2016, 11:32

Ich glaube, um hier alle Anspielungen zu verstehen, muss man Mathematik-Experte sein :-) Hilbert kenne ich noch vom "Hilbert-Raum", aber beim Rest musste ich guhgeln. Die lange Zahl hat dann bestimmt auch eine spezielle Bedeutung. Zuerst dachte, ich sie sei zufällig gewählt und genau so lange, dass sie gerade noch in die Salon-Breite passt. Wenn Du diesen Text vorliest, sprichst Du dann alle Ziffern?

Nur hier stimmt was grammatisch nicht, glaube ich, es sei denn, der Verdreher ist Absicht:

"werde von weiteren Besuchen von Unternehmen Ihrer Kette absehen"


P.

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 20.07.2016, 11:52

Lieber Pjotr,
danke für die Rückmeldung.

Hier ist die Hotel-Homepage mit den nötigen Informationen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Hilberts_Hotel

Die Zahl hat weiter keine Bedeutung, und dass sie genau in eine Salonzeile passt, ist tatsächlich Zufall.
In dem zitierten Satz ist es wohl besser, das zweite "von" zu einem "bei" zu machen. Danke Für den Hinweis.
Viele Grüße
Merlin


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