Der Papierschützer

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 29.03.2018, 20:21

Frei nach Elias Canetti - der Ohrenzeuge

Der Papierschützer sitzt vor einem weißen Blatt und malt sich etwas aus. Unten rechts könnte er einen Strich setzen, mit ein paar weiteren würde ein ganz passables Selbstportrait daraus. Auch oben links könnte man beginnen, mit einem Wort, etwa einem "als". Der Rest findet sich dann schon, der Anfang eines Gedichtes ist gemacht. Oder einer Novelle. Alles möglich. Zumindest glaubt er das, probiert hat er es nie, doch was soll schon schiefgehen? Das Blatt ist ja frei, nirgends ein Widerstand. Selbst knicken könnte man es, wenn man das ein paarmal richtig macht, kriegt man einen Elefanten.

Andere, die sehen ein Blatt gar nicht richtig an. Eilig greifen sie zu und dann haben sie einen Liebesbrief oder einen Einkaufszettel. Da kann der Papierschützer nur den Kopf schütteln. Möglichkeiten über Möglichkeiten, und keiner sieht sie. Was denen alles entgeht!
Der Papierschützer hütet sich, den Stift auf das Papier zu setzen. In mutiger Stimmung nimmt er wohl einen in die Hand, kommt gar noch Verwegenheit hinzu, dann führt er ihn zum Papier, doch mit der Spitze einige Millimeter über dem Papier hält er inne. Jeder Strich verringert die Möglichkeiten drastisch. Zeichnet er jetzt ein Auge, kann er kein Kochrezept mehr darüber setzen, denn wie sähe das denn aus! Dass sich ein Strich wieder ausradieren läßt, ist kein Trost. Es bleibt doch immer etwas zurück, vielleicht ein Abdruck, zumindest eine Erinnerung. Außerdem strapaziert es das Papier. Er hat es ausprobiert. Sieben-, achtmal radiert und es reißt, dann muss man es entsorgen und die vielen Möglichkeiten sind dahin.

Also bleibt er vor dem leeren Blatt sitzen. Und malt sich etwas aus.
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 31.03.2018, 15:50, insgesamt 3-mal geändert.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 30.03.2018, 04:07

Moin Mnemosyne,

eine interessante Perspektive, finde ich, eine Haltungsbeschreibung der besonderen Art. Gefällt mir. -- Wenn er nie was raus lässt, der arme Papierschützer, muss er wohl einen mords Gedankenstau in sich tragen. Wird er irgendwann platzen?

"Unten rechts könnte er einen Strick setzen" -- Das "Strick setzen" verstehe ich bildlich noch nicht ganz.


Ahoy

Pjotr

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 30.03.2018, 16:17

Ahoi Pjotr,
danke für den Kommentar! Platzen wird er wohl nicht, die Möglichkeiten gehen eher widerstands- und spurlos durch ihn hindurch als sich irgendwo aufzustauen - jedenfalls stelle ich ihn mir so vor.

"Strick setzen" verstehe ich auch nicht, das sollte ein "Strich" sein und ist es jetzt auch. Danke für den zarten Hinweis. :-)

Viele Grüße und frohe Ostern
Merlin

P.S.: Das eingangs erwähnte Canetti-Büchlein kann ich sehr empfehlen! Es besteht aus 50 kurzen Charakterbeschreibungen, ein wenig wie diese hier, nur besser. Ich finde dieses "Genre" gerade sehr anregend und werde wohl noch ein paar von der Sorte schreiben.

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birke
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Beitragvon birke » 31.03.2018, 00:03

großartig!
ich kann mich hier sehr gut einfühlen.
für mich hat ein weißes, leeres blatt auch etwas magisches. und mit jedem ansetzen des stiftes ... naja, du beschreibst (!) es sehr gut.
eine stilistische kleinigkeit vielleicht:
"... entsteht ein elefant". ?
lg
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 31.03.2018, 07:25

Hallo Merlin,

sehr schön!
Unten rechts könnte er einen Strich setzen, mit ein paar weiteren würde ein ganz passables Selbstportrait daraus. Auch oben rechts könnte man beginnen, mit einem Wort, etwa einem "als".
Merlin hat geschrieben:"Strick setzen" verstehe ich auch nicht, das sollte ein "Strich" sein und ist es jetzt auch. Danke für den zarten Hinweis. :-)
Schade! Den Strick fand ich spannend, vor allem im Hinblick auf das Selbstportrait, und dass er nicht oben in der Mitte hängt. Was mich mehr irritiert ist die Tatsache, dass er oben rechts mit schreiben beginnen würde? Vor allem jetzt ohne den Strick kommt mit das zu versch(r)oben vor.
P.S.: Das eingangs erwähnte Canetti-Büchlein kann ich sehr empfehlen! Es besteht aus 50 kurzen Charakterbeschreibungen, ein wenig wie diese hier, nur besser. Ich finde dieses "Genre" gerade sehr anregend und werde wohl noch ein paar von der Sorte schreiben.
:daumen: Da freue ich mich drauf ... ich hoffe, du zeigst sie hier dann auch. Den Ohrenzeugen werde ich mir gleich auf meine Liste setzen. Canetti lese ich sowieso gerne. Danke

Liebe Grüße
Ylvi
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 31.03.2018, 07:53

Bei dem Strick dachte auch ich tatsächlich nicht an einen Tippfehler :-)

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 31.03.2018, 15:58

Liebe Birke,
das ist schön, danke dir! :-)

birke hat geschrieben:eine stilistische kleinigkeit vielleicht:
"... entsteht ein elefant". ?


Das klingt für mich gerade weder besser noch schlechter als "kriegt man" (ich dachte an Origami). Was ist denn mit dem "kriegt man"? Zu salopp im Vergleich mit dem übrigen Text?

Liebe Ylvi,
auch dir ein Dankeschön!

"Was mich mehr irritiert ist die Tatsache, dass er oben rechts mit schreiben beginnen würde? Vor allem jetzt ohne den Strick kommt mit das zu versch(r)oben vor."

Da hast du natürlich völlig recht, das war einfach ein Fehler und ist jetzt verbessert. Danke für den Hinweis!

"ich hoffe, du zeigst sie hier dann auch."

Klar! :-)

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birke
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Beitragvon birke » 31.03.2018, 16:42

Mnemosyne hat geschrieben:Liebe Birke,
das ist schön, danke dir! :-)

birke hat geschrieben:eine stilistische kleinigkeit vielleicht:
"... entsteht ein elefant". ?


Das klingt für mich gerade weder besser noch schlechter als "kriegt man" (ich dachte an Origami). Was ist denn mit dem "kriegt man"? Zu salopp im Vergleich mit dem übrigen Text?



Jep, exakt. zu unelegant, zu ungelenk... so empfinde ich es zumindest, auch im vergleich zum rest des textes.

lg
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 31.03.2018, 17:00

"Kriegen" ist vielleicht nicht optimal, aber "entstehen" finde ich auch nicht eleganter. Mir fällt auch keine Verbesserung ein. Arg stilbrüchig find ichs auch nicht, weil schon der Titel eine leicht unernste Stimmung einführt. Was ich eher überlegen würde, ob der Satzbeginn mit "Selbst knicken" optimal ist. Beim ersten Lesen habe ich das "Selbst" betont, im Sinn von "Selber knicken", do-it-yourself. Beim Weiterlesen habe ich gemerkt, dass ich das "knicken" hätte betonen sollen, wie in "Sogar knicken".

Edit: Vielleicht so?

"Sogar knicken könnte man es, wenn man das ein paarmal richtig macht, bekommt man einen Elefanten."

aram
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Beitragvon aram » 01.04.2018, 01:12

Mnemosyne hat geschrieben:
Selbst knicken könnte man es, wenn man das ein paarmal richtig macht, kriegt man einen Elefanten.


"kriegt man" im kontext dieses satzes finde ich völlig ok. er vermittelt so auch augenzwinkern. die alternativen sind bloß bemühter.
gedankenstrich oder punkt anstelle des ersten kommas fände ich stimmiger.

liebe grüße!


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