Der kleine Bär war traurig

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Kurt
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Beitragvon Kurt » 13.04.2018, 15:27

Der kleine Bär zweifelte an sich und ließ den Kopf hängen, als er durch den Wald trottete. Da begegnete ihm der Fuchs und fragte, was los wäre. Da antwortete der kleine Bär, dass er sich betroffen gefühlt habe, und sich etwas vorgemacht hätte. Da sprach der Fuchs:
“Kleiner Bär, wenn du dich betroffen gefühlt hast, dann war es wahr, und du hattest dir nichts vorgemacht. Wenn du aber nicht betroffen gewesen warst und dir gesagt hättest, du seist betroffen, dann hättest du gelogen, und hättest dir etwas vorgemacht. Aber du scheinst ja wirklich betroffen zu sein.” Der Fuchs zog weiter seines Weges, und der kleine Bär ließ weiterhin seinen Kopf hängen, als er auf den Dachs traf.
“Was ist los, kleiner Bär?” fragte der Dachs.
“Ich fühlte mich betroffen, machte mir aber etwas vor oder auch wieder nicht.”
“Wie sowas, kleiner Bär?”
“Ja, ich habe im Fernsehen die Horror-Picture-Show angesehen. Da wurde ein Minibär vom Bus überfahren und alles war voller Blut.”
“Dann ist es ja kein Wunder, dass du entsetzt warst.”
“Ja”. Der keine Bär weinte. “Nach dem Film bin ich nach draußen auf die Straße. Dort wurde gerade mein Freund Bärlibursche überfahren und alles war voller Blut. Und ich hatte das Gefühl, es hätte mich nicht mehr betroffen gemacht, als beim Film gucken. Dabei hatte ich Bärlibursche ganz doll lieb gehabt.”
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Beitragvon Pjotr » 16.04.2018, 17:19

Kurt hat geschrieben:Ich war gerührt beim Anblick und Hören der Vögel, weil sie sich ins Zeug legten. Es sah aus, als wenn sie sich richtig Mühe gaben. Nun aber ist es ja so, dass die Tiere durch ihre Hormone dazu automatisiert sind. Und wenn ich mir dies bewusst mache schwindet mein Gefühl der Rührung.

Was ist schlecht daran, wenn ein Wesen sich seiner Liebe nicht erwehren kann und die Liebe "automatisch" entsteht als Glied einer Kausalkette und durch Einfluss akausaler, heisenbergscher Unschärfe-Zufälle? Das Wesen sagt nicht: "So, ich entscheide mich jetzt eigenwillig dazu, den Kurt zu lieben." Sondern das Wesen in seiner Gesamtheit, ohne Ich-Kern, in seinem Gesamtvolumen mit all seinen Inhalten, erzeugt in sich eine Liebesempfindung für den Kurt. Warum muss man die Wertschätzung des Liebes-Effekts relativieren durch die Frage nach deren Automatisierung? Was ändert die sogenannte "Automatisierung" an der Tatsache, dass Wesen sich lieben? Liebe ist Liebe.

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Beitragvon Pjotr » 16.04.2018, 17:55

Zefira hat geschrieben:
Sie machen es für Dich. Für Dich und alle anderen Lebewesen in der Umgebung. Sie zwitschern, um sich mitzuteilen.


Nun, bestimmt nicht für zuhörende Menschen.

Ich denke, es kommt auf die Sichtweise an. Die Angelegenheit ist sehr komplex. Wenn ich annehme, dass der Vogel seinen Gesang nicht bewusst als Mittel zum Zweck nutzt, sondern dass sein Gesang reflexgesteuert ist, dann ist dieser Reflex erstmal "nur" ein Reflex, und dieser reflexartige Gesang -- ob bewusst gewollt oder nicht -- "erfreut nebenbei" auch jedwedes Lebewesen in der Umgebung, einschließlich Menschen und Raubkatzen. Ich sehe das als Einklang der Natur. Die Natur betrifft jeden Genossen, nicht nur Artgenossen. Wenn ich aus dieser Sicht schreibe, "der Vogel macht das für Dich", dann mag das Wort "für" so eine Art Metapher sein, aber letztendlich trifft das doch zu, weil ein Naturspiel immer ein Zusammenspiel ist. Man kann das Vogelverhalten nicht isoliert betrachten. Sein erster Reflex ist hier wohl sein reines Mitteilungsbedürfnis. Das gute Effekte hat. Der Vogel berechnet die aber wohl nicht. Der schweinwerfergeblendete Menschensänger auf der Bühne sieht auch nicht bewusst jeden einzelnen im Publikum. Er singt zum Publikum; das Publikum ist in dem Moment seine Umgebung. Er singt vor Leuten, weil es ihn freut, wenn Leute ihm zuhören, selbst wenn Tiere ihm zuhören. Allgemeine Erkanntwerdensfreude gibts bestimmt schon seit Jahrmillionen. Als Gegenleistung gibts eine Darbietung. Für alle, die einen erkennen.
Zuletzt geändert von Pjotr am 16.04.2018, 18:32, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Kurt » 16.04.2018, 18:31

Ja, ich sehe oder empfinde das anders. Mein Eindruck des sich Mühegebens und sich schwer ins Zeug legen, was mich rührt, wird durch das Wissen der Automatisierung zum Eindruck eines Bemühtwerdens, was meine Rührung trübt.

Aber das ist mein Verständnis und meine Reaktion darauf, auch intuitiv. Man kann es ja auch anders sehen, wie ich an deiner Stellung dazu vernehme.

LG Kurt
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Beitragvon Pjotr » 16.04.2018, 18:41

Was für eine Mühe meinst Du?

Die Mühe, etwas schwieriges zu bewältigen? So eine Mühe schließt Automation nicht aus.

Oder die Mühe, einen Eigenantrieb zu entwickeln? Das ist letztlich ebenfalls eine Automation.

Was bedeutet denn Automation in der Natur? Die Automation ist eine Kausalkette, bedingt durch die Naturgesetze. Hast Du das Bedürfnis, aus der Natur romantisch auszubrechen, um in etwas Metaphysisches hineinzukommen, für dessen Beschreibung Dir momentan das Vokabular fehlt?

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Beitragvon Kurt » 16.04.2018, 19:22

Für mich ergibt es keinen Bedarf, darüber weiter nachzudenken. Ich liebe ohnehin nicht solche Gefühle der Rührung. Wenn ich jetzt nur noch angerührt bin, betrübt mich das in keiner Weise und meine Freude an den Vögeln ist ungebrochen.

LG Kurt
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Beitragvon Zefira » 16.04.2018, 19:39

Zum Thema Automation fällt mir eine Passage aus Emile Zolas "Germinal" ein, die ich für vor Jahren mal für meinen Blog abgeschrieben habe; es ging damals um einen Vergleich verschiedener Übersetzungen. Ich kopiere die Passage mal hierher:

"Fünfzehn Nagelschmiede aus den Werkstätten in Marchiennes hatten der Aufforderung entsprochen und waren, jeder mit einem Dutzend Vogelbauer, eingetroffen. Die kleinen verhangenen Käfige mit ihren unbeweglich dahockenden, geblendeten Finken hingen bereits im Hof der Schenke an einem Bretterzaun. Es handelte sich darum, festzustellen, welcher von den Finken im Verlauf einer Stunde seinen Triller am häufigsten wiederholen würde. (...) Die Finken hatten angefangen, die einen tiefer, die anderen höher, zunächst noch schüchtern und selten einen Triller wagend. Doch dann feuerten sie einander an, sangen schneller und wurden schließlich von einem so wütenden Wetteifer fortgerissen, daß man einige von ihnen tot umfallen sah. Die Nagelschmiede trieben sie heftig an, schrien ihnen auf wallonisch zu, sie sollten weitersingen und immer und immer noch ein Stückchen, während die Zuschauer, etwa hundert an der Zahl, inmitten dieser Höllenmusik von hundertachtzig Finken, die alle durcheinander immer dasselbe wiederholten, in stummer Leidenschaft dastanden. Einer von den höher singenden Finken gewann den ersten Preis, eine Kaffeekanne aus Blech."

Da kann dem Leser die Rührung beim Vogelzwitschern erstmal gründlich vergehen.

Ich finde diese Passage mit dem "Blech" als Gipfelpunkt umwerfend ausdrucksstark. Leider liegt mir das Original im Moment nicht vor, bei Zola habe ich manchmal den Verdacht, dass die Übersetzungen sprachlich besser sind als das Original. Diese stammt von Johannes Schlaf.
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Beitragvon Pjotr » 16.04.2018, 22:16

Ja, "Blech" ist ein sehr wirkungsvolles Wort -- in seiner Mehrdeutigkeit und in seinem Klang, der buchstäblich blechig ist.

Was meint er mit "geblendeten Finken"? Waren die etwa erblindet wie Michael Strogoff?

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Beitragvon Zefira » 16.04.2018, 23:36

Das habe ich mich auch gefragt, zumal in der anderen Übersetzung von Germinal (von Armin Schwarz) an dieser Stelle nur von "unbeweglich dahockenden" Finken die Rede war.
Von Zola war ich eine Zeitlang so begeistert, dass ich von einigen seiner Romane mehrere Ausgaben habe, und da ist die Diskrepanz zwischen den Übersetzungen manchmal erstaunlich, bis hin zu entgegengesetztem Sinn. Da heißt es einmal: "Jetzt, wo sich alle niedergelassen hatten, wurde gelacht und gescherzt", in der anderen Ausgabe: "Jetzt, wo sich alle gesetzt hatten, verebbten Scherze und Gelächter", was das Gegenteil bedeutet - ein Beispiel unter vielen. Aber das gehört nicht mehr hierher in Kurts Faden.
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