Im Abseits

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Kurt
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Beitragvon Kurt » 18.04.2018, 23:32

Die Namen der Toten sind auf dem Friedhof in Steintafeln gemeißelt, sie bezeichnen Personen, welche mit ihrem Ableben ihre Existenz verloren haben. Von ihnen befindet sich nur ein Häuflein Asche unterirdisch oder ein verwesender Überrest. Die Trennungslinie zu den Lebenden in der Stadt bildet eine Formation aus Lebensbäumchen. Wie Wächter der Toten muten sie an. Aber in Wirklichkeit beherbergen sie nur Namensschilder. Als ich den Friedhof verlassen hatte und an den Häusern in der Stadt vorbeiging, sah ich dort die gleichen Namen wie auf dem Friedhof, neben den Klingelknöpfen, von Angehörigen, in deren Herzhöhlen die Toten begraben sind, lebend. Als solche Personen können sich die Toten nur in intakten Gehirnen aufhalten. Die Gräber auf dem Friedhof bleiben leer.

Ich setzte mich, zuhause angekommen, an meinen Schreibtisch und verfasste einen letzten Wunsch hinsichtlich meines Beerdigungsfalles:

Schatzi, sollte ich vor Dir sterben, lasse es nicht zu, dass
mein Leichnam auf dem Friedhof bestattet und damit quasi
den Würmern zum Fraße vorgeworfen wird. So böse darfst
Du nicht sein, und vielleicht noch einen Stein aufzustellen
mit jener Aufschrift „Hier ruht …“ Nein, Schatzi, so sarkastisch
bist Du nicht.

Lass Dir aus meiner Asche einen Diamanten anfertigen und
in einen goldenen Ring einfassen. Und wenn Du nach ungefähr
zwanzig Jahren einen neuen Kerl kennenlernst, nimm bitte den
Ring ab, bevor ihr ins Bettchen steigt.

Für immer Dein.

Dann kam mit der Luftpost dies Überraschungspaket von der Straßenaufsichtsbehörde. Oh Schatzi, darin befand sich lediglich deine eiskalte Hand, abgetrennt vom fehlenden Kadaver. Anhand jener identifizierte ich dich, mein liebestoller Schutzengel. Mit erschrockenem Blick hob ich dich hervor aus dem Sumpf der Erinnerung, aus unseren Blütezeiten im heiligen Schrein, welcher dem neuen Streckenabschnitt zum Opfer gefallen war und wo ich das Warnschild passiert hatte mit der Aufschrift „Gefahrenstelle“ und zwischen die Fronten geraten war auf den Streifen der verlorenen Seelen, zwischen Hasenmörder und Jägerallee wurde ich blutig geschlagen, ans Autobahnkreuz führte kein Weg vorbei. Auffahrt und Abfahrt in dunkle Gründe, in sich überschneidende Sonnenaufgänge, machte ich einen Boxenstop neben der Spur, den Blinker lange gesetzt, während du, meine Schutzempfohlene (in guten sowie schlechten Zeiten), abtrünnig wandeltest auf verschlungenen Pfaden der Aborigines, dich räkeltest im Beutel eines Riesen-Riesenkängurus beim Liebesspiel mit George Clooney.
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

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