Hinausschwimmen

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Quoth
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Beitragvon Quoth » 28.07.2018, 18:22

Er schwamm hinaus, die weißen Bojen weit hinter sich lassend, weiter und weiter, mied Ohren- und Feuerquallen, schmeckte das süße Salz der Ostsee, die ihn wiegte und einlullte, er ließ sich treiben, verfing sich bisweilen in Tang, der ihn kühl und glitschig umschlang. Da war ihm, als höre er Musik, betörend melodiös, einer Geige und einer Flöte, war das nicht die Musik, die er vor Jahren mit der alten Geigerin gespielt hatte? Duette von Telemann, zu virtuos beinahe, er hatte sich abgequält, vor allem mit dem hohen G, war Telemann nicht aus Hamburg gewesen wie sie? Und hatte sie zu Silvester nicht wahre Wunderwerke von Pförtchen gebacken? Erschöpft legte er sich auf den Rücken, machte „Leiche“ wie als Schulkind, ließ sich wiegen von der Dünung. Sie hatten das gemeinsame Musizieren aufgegeben, weil sie schwer herzkrank war, auch der Schrittmacher genügte nicht mehr, sie kam, kurzatmig, die Treppe nicht mehr herauf, und gesprächsweise hatte sie mal fallen lassen, sie wolle kein Erdbegräbnis, sie wolle, dass ihre Asche über die geliebte Ostsee verstreut würde.
Zuletzt geändert von Quoth am 29.07.2018, 08:20, insgesamt 1-mal geändert.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.07.2018, 18:27

Was für eine schöne Liebeserklärung ...
Was sind denn gebackene Pförtchen? Ist das ein Schreibfehler oder gibt es das wirklich?
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.07.2018, 18:37

Ja, gefällt mir auch, Quoth. Als Titel könnte man auch "Mitschwimmen" wählen.
Pförtchen sind nordeutsche kugelige Pfannkuchen, Zefi.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 28.07.2018, 19:29

Genial, wie sich der Ursprung des Fadens erst ganz am Ende offenbart und sich der Kreis schließt. Ich glaube, so ein Arrangement habe ich gerade zum ersten Mal gelesen.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.07.2018, 19:44

Ich habe mich grade ein wenig belesen über Ascheverstreuung in Deutschland - es scheint nicht zulässig zu sein; anscheinend ist es nicht mal so ohne weiteres möglich, sich die Asche privat aushändigen zu lassen. Schade, ich hätte da auch so meine Vorstellungen ... :hae:
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 28.07.2018, 20:35

Danke für die freundlichen Antworten, Zefira, Mucki und Pjotr. Und hier für Zefira ein paar Rezepte:
https://www.chefkoch.de/rs/s0/pf%C3%B6r ... zepte.html
Sie werden auch Förtchen geschrieben, angeblich ursprünglich mal (Nonnen)Fürzchen, aber das ist umstritten.
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.07.2018, 21:41

"Ameiseneier, gebraten in Butter,
Essen wir täglich, auch Würmchengemüs,
Und später erb ich von meiner Frau Mutter
Drei Nonnenfürzchen, die schmecken so süß."

Heinrich Heine! :haare:
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birke
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Beitragvon birke » 29.07.2018, 00:58

oh, das ist toll, quoth, gefällt mir auch sehr!
guter aufbau und fein die subtile anspielung mit dem spiel der "leiche"..
als titel könnte ich mir auch "freischwimmen" oder "freischwimmer" vorstellen, aber das nur am rande.

zefi, seebestattungen sind ja immerhin schon zulässig.. aber ich finde es auch blöd, dass private ascheverstreuung nicht zulässig ist.
eine freundin, die inzwischen leider auch schon nicht mehr lebt, hat es geschafft, sich darüber hinwegzusetzen (wie auch immer, weiß ich nicht) und hat einen teil der asche ihres lebensgefährten in seiner geliebten heimat (nordengland) verstreut...

lg
birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Quoth
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Beitragvon Quoth » 29.07.2018, 08:38

Zefira: Ja, Heine hat ja drei Jugendjahre in Hamburg verbracht und dort dies Gebäck kennengelernt. Was Ascheverstreuung betrifft, behelfen sich Bestatter mit einem Trick: Sie lassen in Tschechien verbrennen (das ist auch billiger als in Deutschland, wodurch die Überführungskosten teilweise ausgeglichen werden), und wenn die Asche dann aus dem Ausland nach Deutschland kommt, ist sie "frei".

Birke: freue mich, dass das Textchen dir gefällt. "Freischwimmen" würde den Jugendbezug zu stark machen, finde ich.
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Nifl
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Beitragvon Nifl » 29.07.2018, 10:28

Hallo Quoth,

Tang hinter den Bojen? Das habe ich persönlich noch nicht erlebt, aber die Ostsee hat viele Gesichter. Man könnte auch anmerken, was denn Plätzchenbacken mit Ostseeschwimmen gemein hat, aber das ist es ja gerade, das Gelöstsein.
Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 29.07.2018, 11:09

Pförtchen sind keine Plätzchen, lieber Nifl, und losgerissene Tangpflanzen treiben hier tageweise massenhaft im Wasser. Gruß aus dem momentan wieder kühleren Norden!
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Cicero
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Beitragvon Cicero » 30.07.2018, 12:26

Im Dom -
zwischen Bach und Brahms
ein Nonnenfürzchen
Die Sprache sei die Wünschelrute, die gedankliche Quellen findet. (Karl Kraus)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 30.07.2018, 14:41

Wem käme da nicht sofort "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" in den Sinn ... :guckguck:
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Patrick
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Beitragvon Patrick » 02.08.2018, 10:09

Sehr schöner und emotionaler Text. Es gibt so einen "oah!"-Effekt
Mir gefällt das Prinzip der Seebestattung sowieso ganz gut, die Asche der Toten gehen ins Wasser, dem Ursprung des Lebens!
Viele Grüße


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