J.
Verfasst: 23.11.2018, 08:10
Im Spätsommer des vergangenen Jahres kam J. in meine Klasse die Klasse.
Sie war dünn, durchscheinend dünn, und schaute ihre Mitmenschen aus großen braunen Augen an. Ernst meistens, aber manchmal lächelte sie auch. Wenn sie lächelte, ahnte man, dass sie gern fröhlich war.
Im Jahr zuvor waren bei ihr bösartige Tumore in der Halswirbelsäule entdeckt worden. Man hatte sie in Boston operiert und die Halswirbelsäule mit Metall verstärkt. Infolgedessen konnte J. ihren Kopf nicht mehr nach links und rechts drehen. Durch Chemotherapie und Bestrahlung hatte sie ihre Haare verloren, aber sie waren kräftig wieder nachgewachsen. Schon bald trug sie wieder einen Pferdeschwanz.
J. schminkte sich dezent und sorgfältig, ihre Fingernägel waren stets manikürt.
Mit großer Ernsthaftigkeit folgte sie dem Unterricht. Wenn sie etwas nicht auf Anhieb verstand, legte sie den Kopf ein wenig schief. Sie fragte nach. Gab sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Wollte verstehen. Auch das, was nicht zu verstehen war.
Die Tage strengten sie an. Sie kämpfte. Wollte durchhalten. Und endlich den Schulabschluss schaffen.
Die Späße ihrer spätpubertären Klassenkameraden nahm sie nachsichtig und kopfschüttelnd zur Kenntnis. Zwischen ihrem Leben und dem der wilden, ungezügelten Jugendlichen lagen Welten. Ein Ozean. Operationen. Infusionen und Bestrahlungen. Krankenhäuser.
Schon im Herbst war ihr anzusehen, dass es ihr mit jedem Tag schlechter ging. Sie hatte Schmerzen und konnte nicht mehr lange in der Schulbank sitzen. Sie klagte nicht, versuchte, nicht aufzugeben.
Dann die schreckliche Diagnose: der Krebs war zurück. Neue Tumore waren gewachsen. Erneut musste sich J. einem operativen Eingriff und einer Bestrahlung unterziehen.
An Unterricht in der Schule war anschließend nicht mehr zu denken. Zu schwach war sie geworden, zu anfällig.
Die Lehrer unterrichteten sie zuhause. Akribisch bereitete sie sich auf den Unterricht vor. Sorgfältig eignete sie sich den Lernstoff an. Ihr Lächeln war noch seltener geworden. Aber sie hielt durch.
Im März bat sie um ein Gespräch mit Lehrern und Schulleiter. Gefasst verkündete sie dort, dass die Krankheit in einem Maße von ihrem Körper Besitz ergriffen habe, das eine Heilung unmöglich machte. Sie gelte als austherapiert und wolle nun in ihren letzten Wochen Dinge erleben, für die ihre Altersgenossen noch Jahrzehnte Zeit hätten.
J. machte noch einmal mit ihrer Familie Urlaub, in den Bergen. Sie saß noch einmal auf dem Rücken eines Pferdes. Sie spielte Klavier. Und sie durfte einen Film sehen, der erst im Sommer in die Kinos kommen würde. Die Tage strengten sie an. Sie kämpfte. Sie wollte durchhalten.
Die Familie kehrte auf ihren Wunsch hin eher nach Hause zurück. J. wollte wieder in ihrer vertrauten Umgebung sein. Sie wurde mit jedem Tag schwächer. Sie konnte nicht mehr laufen, nicht mehr sitzen. Nicht mehr essen. Und das Brautkleid, das sie so gern einmal getragen hätte, nicht mehr anprobieren.
Sie tröstete ihren Eltern und ihren kleinen Bruder. Das Leben würde weitergehen. Ihren Platz auf dem Friedhof hatte sie längst ausgesucht.
In den Morgenstunden eines Maimontags, kurz nach Ostern, starb J. zuhause, so wie es ihr Wunsch gewesen war. Die Familie war bis zuletzt bei ihr.
Im Spätsommer des vergangenen Jahres kam J. in meine Klasse.
Meine Welt hat sich seitdem verändert. Ich weiß einmal mehr um die Endlichkeit unseres Daseins. Ich habe miterlebt, wie wichtig Liebe, Fürsorge und Wärme sind. Und mir ist bewusst geworden, dass wir unsere Zeit hier auf der Erde geliebt und liebend verbringen sollten.
Am 12. August wäre J. 19 Jahre alt geworden. Es ist nicht zu verstehen.
Sie war dünn, durchscheinend dünn, und schaute ihre Mitmenschen aus großen braunen Augen an. Ernst meistens, aber manchmal lächelte sie auch. Wenn sie lächelte, ahnte man, dass sie gern fröhlich war.
Im Jahr zuvor waren bei ihr bösartige Tumore in der Halswirbelsäule entdeckt worden. Man hatte sie in Boston operiert und die Halswirbelsäule mit Metall verstärkt. Infolgedessen konnte J. ihren Kopf nicht mehr nach links und rechts drehen. Durch Chemotherapie und Bestrahlung hatte sie ihre Haare verloren, aber sie waren kräftig wieder nachgewachsen. Schon bald trug sie wieder einen Pferdeschwanz.
J. schminkte sich dezent und sorgfältig, ihre Fingernägel waren stets manikürt.
Mit großer Ernsthaftigkeit folgte sie dem Unterricht. Wenn sie etwas nicht auf Anhieb verstand, legte sie den Kopf ein wenig schief. Sie fragte nach. Gab sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Wollte verstehen. Auch das, was nicht zu verstehen war.
Die Tage strengten sie an. Sie kämpfte. Wollte durchhalten. Und endlich den Schulabschluss schaffen.
Die Späße ihrer spätpubertären Klassenkameraden nahm sie nachsichtig und kopfschüttelnd zur Kenntnis. Zwischen ihrem Leben und dem der wilden, ungezügelten Jugendlichen lagen Welten. Ein Ozean. Operationen. Infusionen und Bestrahlungen. Krankenhäuser.
Schon im Herbst war ihr anzusehen, dass es ihr mit jedem Tag schlechter ging. Sie hatte Schmerzen und konnte nicht mehr lange in der Schulbank sitzen. Sie klagte nicht, versuchte, nicht aufzugeben.
Dann die schreckliche Diagnose: der Krebs war zurück. Neue Tumore waren gewachsen. Erneut musste sich J. einem operativen Eingriff und einer Bestrahlung unterziehen.
An Unterricht in der Schule war anschließend nicht mehr zu denken. Zu schwach war sie geworden, zu anfällig.
Die Lehrer unterrichteten sie zuhause. Akribisch bereitete sie sich auf den Unterricht vor. Sorgfältig eignete sie sich den Lernstoff an. Ihr Lächeln war noch seltener geworden. Aber sie hielt durch.
Im März bat sie um ein Gespräch mit Lehrern und Schulleiter. Gefasst verkündete sie dort, dass die Krankheit in einem Maße von ihrem Körper Besitz ergriffen habe, das eine Heilung unmöglich machte. Sie gelte als austherapiert und wolle nun in ihren letzten Wochen Dinge erleben, für die ihre Altersgenossen noch Jahrzehnte Zeit hätten.
J. machte noch einmal mit ihrer Familie Urlaub, in den Bergen. Sie saß noch einmal auf dem Rücken eines Pferdes. Sie spielte Klavier. Und sie durfte einen Film sehen, der erst im Sommer in die Kinos kommen würde. Die Tage strengten sie an. Sie kämpfte. Sie wollte durchhalten.
Die Familie kehrte auf ihren Wunsch hin eher nach Hause zurück. J. wollte wieder in ihrer vertrauten Umgebung sein. Sie wurde mit jedem Tag schwächer. Sie konnte nicht mehr laufen, nicht mehr sitzen. Nicht mehr essen. Und das Brautkleid, das sie so gern einmal getragen hätte, nicht mehr anprobieren.
Sie tröstete ihren Eltern und ihren kleinen Bruder. Das Leben würde weitergehen. Ihren Platz auf dem Friedhof hatte sie längst ausgesucht.
In den Morgenstunden eines Maimontags, kurz nach Ostern, starb J. zuhause, so wie es ihr Wunsch gewesen war. Die Familie war bis zuletzt bei ihr.
Im Spätsommer des vergangenen Jahres kam J. in meine Klasse.
Meine Welt hat sich seitdem verändert. Ich weiß einmal mehr um die Endlichkeit unseres Daseins. Ich habe miterlebt, wie wichtig Liebe, Fürsorge und Wärme sind. Und mir ist bewusst geworden, dass wir unsere Zeit hier auf der Erde geliebt und liebend verbringen sollten.
Am 12. August wäre J. 19 Jahre alt geworden. Es ist nicht zu verstehen.