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Der Selbsteinsetzer

Verfasst: 30.11.2018, 18:05
von Mnemosyne
Der Selbsteinsetzer
(frei nach Elias Canetti - der Ohrenzeuge)

Als der Selbsteinsetzer sechs Jahre alt war, sparte er sein Taschengeld und kaufte eine Glühbirne. Auf die schrieb er mit Filzstift seinen Namen und tauschte sie heimlich gegen die in der großen Lampe im Wohnzimmer aus. Wenn seine Eltern nun Abends noch lasen, verdankten sie es ihm, und auch wenn er schon lange im Bett war, war er irgendwie dabei. Später brachte er Tassen und Teller mit nach Hause und ließ die vorhandenen der Reihe nach beim Abwasch fallen. Noch später hat er seinen Eltern eine neue Wohnung gekauft. Da haben sie sich zwar ein wenig gesträubt, aber da hat er insistiert, monatelang, wozu kauft er denn eine teure Wohnung, wenn sie nicht bewohnt wird! Und irgendwann haben sie eingesehen, dass sie Ruhe brauchen und dass sie die in ihrer alten Wohnung nicht bekommen.
Abends fährt der Selbsteinsetzer gern mit dem Auto herum. Kein Fußgänger ist dann noch vor ihm sicher; sobald er einen sieht, hält er neben ihm an und gibt keine Ruhe, bis der sein Ziel verrät und sich dorthin fahren läßt. "Ich will einfach nur laufen" läßt der Selbsteinsetzer nicht gelten, dann fährt er seinen Fahrgast eben ein wenig in der Gegend herum.
Ein besonderes Vergnügen ist es für den Selbsteinsetzer, passende Partnerinnen und Partner für seine Freunde auszusuchen. Da ist er sehr genau, er beobachtet, protokolliert, erstellt Tabellen und Prognosen, bis er sich seiner Sache ganz sicher ist. Bereits bestehende Liebeleien erwecken dagegen seinen Unmut; die haben sicher ihre Hausaufgaben nicht gemacht, denkt er sich, das wird was Schönes sein! Ist er aber selbst verliebt, so ist ihm jedes Glück an der Geliebten ein Dorn im Auge und er wünscht ihr die Pest an den Hals, nur um sie heilen zu können.
In seinem Garten wachsen Orchideen, Mimosen und eine Vielzahl exotischer Gewächse entlang streng gezogener Linien aus einem stets frisch gemähten Rasen hervor, und der Selbsteinsetzer stellt sich gerne davor und genießt den Anblick. Mit Wäldern, Gebirgen oder dem Sternenhimmel hingegen weiß er wenig anzufangen: Denn so schön sie auch sind, sie sind es nicht durch ihn.

Verfasst: 02.12.2018, 16:17
von Nifl
Du hast aber auch Ideen. An der Bezeichnung Selbsteinsetzer knabbere ich, ist er nicht mehr ein Eigenleister? Nein, auch nicht, denn er ist ja auch Zwangsbeglücker anderer. Vielleicht ganz schlicht Dienstleister?
Ne, klasse wie du diese Psychos skizzierst.


Ein besondere Vergnügen ist es für den Selbsteinsetzer,

Verfasst: 02.12.2018, 17:40
von Mnemosyne
Danke, ist korrigiert. Dieser hier ist eben jemand, der von allem die Ursache sein, bestehendes durch eigenes ersetzen will - daher "Selbsteinsetzer". Da sich das nicht nur auf Menschen bezieht - er mag ja z.B. auch seinen Garten lieber als Gebirge, am liebesten wäre er die Sonne - würde ich "Zwangsbeglücker" oder "Dienstleister" für zu eng halten. Aber stimmt schon, dass der Name etwas sperrig ist. Mal sehen...

Verfasst: 03.12.2018, 13:50
von birke
klasse, dein "psychogramm"! herrlich, die überspitzungen.
eigentlich ist er so eine art "pseudo-altruist" ... ;) selbsteinsetzer, ich habe schon auch gestutzt, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto treffender finde ich diese bezeichnung...
lg,
birke

Verfasst: 03.12.2018, 15:06
von Pjotr
Das Wort "Selbsteinsetzer" finde ich auch passend und elegant. Das ist wohl eine Person, die ständig die Eigeninitiative ergreift. Unelegant ausgedrückt: Eigeninitiativeneergreifer.

Verfasst: 03.12.2018, 16:13
von birke
eigeninitiative ... ja, aber ja viel mehr noch... das geht ja vollkommen ins paradoxe, er will anderen helfen, die das aber gar nicht unbedingt wollen, nur um sich selbst gut zu fühlen...

Verfasst: 03.12.2018, 16:25
von Pjotr
Allein der gute Wille zählt, haha.

Verfasst: 03.12.2018, 16:31
von Mnemosyne
Danke für eure Kommentar, ihr Lieben! :-)

Zum guten Willen: Da würde ich zustimmen; aber der Wille, sich als Helfer (gut) zu fühlen ist - im Gegensatz zum Willen zu helfen, auch wenn man sich dadurch schlecht fühlt - keiner, den ich als gut erkennen könnte.

Verfasst: 03.12.2018, 17:45
von Pjotr
Ich denke zu verstehen, was Du meinst und würde das präzisieren: Der Helfensdrang an sich führt immer auch zur Selbstbefriedigung in der Summe mit dem einhergehenden Aktionsschmerz, weil das Unbefriedigtsein ja noch mehr schmerzt, sonst würde man ja das Unbefriedigtsein vorziehen und nicht helfen. Wie auch immer das abgewogen wird, ich finde an der Befriedigung dieses Dranges ("das gute Gefühl") nichts verwerfliches. Was ich abstoßend finde ist, wenn man sich nach getaner Hilfe als Held in den Vordergrund spielt.

Verfasst: 04.12.2018, 16:43
von Kurt
Ja, wenn es denn eine Satire wäre auf einen bestimmten Politiker etwa oder. Aber so macht der Text für mich wenig Sinn. Einfach einen pathologischen am Helfersyndrom bzw. von einer Variante Betroffenen darzustellen ist für mich als Leser unbefriedigend. Soll ich darüber nun amüsiert sein. Das kann ich natürlich nicht. Ich kannte mal eine alte Dame, die, wenn sie ihre Wohnungstür abgeschlossen hatte, noch eine zeitlang am Knauf rüttelte, um auch wirklich sicher zu gehen, ob die Tür fest zu war. Fällt für mich auch schon in den pathologischen Bereich. Sicher könnte ich das Geschehen aufzeichnen. Aber wie? Ins Lachhafte ziehen, ins Nachdenkliche, wobei jeder doch diese Zwangshandlungen kennt.

LG Kurt

Verfasst: 07.12.2018, 21:13
von Mnemosyne
Die Darstellung eines von einer pathologischen Störung Betroffenen könnte in verschiedenen Hinsichten sinnvoll sein; man schaue dazu nur in ein Lehrbuch der Psychopathologie.
Aber die psychologische Perspektive hast Du an den Text herangetragen; sie ist ein Aspekt deiner Lesart, nicht des Textes selbst, und zumal einer, der nur zum Teil auf den Text passt: Denn die Art der Gartengestaltung und das Missvergnügen an Sternenhimmel und Gebirge ist wohl kaum ein Ausdruck eines "Helfersyndroms".
Der Text zeigt, ohne jede Pathologisierung, eine Möglichkeit, Mensch zu sein, und zwar eine, die, wie ich meine, recht verbreitet ist: Nämlich sich selbst zur Ursache machen zu wollen und für sich Bestehendes nicht dulden zu wollen. Der Wunsch etwa, sich zum "Retter" oder "Beschützer" einer geliebten Person machen zu wollen - was dann natürlich heißt: die geliebte Person einer Gefahr oder Bedrohung ausgesetzt sehen zu wollen - füllt Buchläden, Kinos und CD-Läden. Die gleiche Tendenz scheint mir hinter weiten Teilen der Digitalisierung am Werk zu sein - siehe z.B. hier: http://kutura.digital/2016/09/14/warum- ... rden-kann/ .
Was kann der Text also für einen Sinn haben? Nun, er kann auf diese Möglichkeit hinweisen, sie in den Blick rücken, so dass sie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen besser wahrnehmbar wird, und zugleich ein Anlass sein, sich bewusst mit ihr auseinander zu setzen.
Ob das befriedigt? Keine Ahnung - aber ich sehe auch nicht, warum das ein Maßstab sein sollte.

Verfasst: 07.12.2018, 22:19
von Kurt
Es kommt drauf an, wie man diese pathologischen, tragischen oder behinderten Figuren in Szene setzt. Ich denke da an den braven Soldaten Schwejk, an Don Quijote oder an den Blechtrommler Oskarchen. Ich schaue mir im TV gerne Mister Monk an. Bei deinem Text hier fehlt mir dieses. Natürlich ist es eine Gratwanderung und große Kunst.

LG Kurt

Hinzugefügt am 9.12;

Pathologisch hast du die Figur dargestellt, indem sie andere gegen deren Willen „half“. Hättest du einen „normalen“ Menschen gezeichnet, der bewusst solches getan hätte, um andere zu ärgern etwa, das wäre dann etwas anderes gewesen. Und die Gartenszene passt durchaus zu solchen am Helfersyndrom leidenden, denn irgendwann gehen ihnen die „Opfer“ aus, halten sich versteckt vor ihnen und dann zeigt sich eben eine narzistische Komponente.

Verfasst: 10.12.2018, 11:52
von Mnemosyne
Pathologisierung hieße, das Verhalten als Zeichen einer Krankheit auszulegen. Das ginge dann implizit mit der Annahme einher, dass ihm sein Verhalten nicht zuzurechnen ist. Das tut der Text aber nicht, sondern das tust Du in deiner Auslegung, auch in der Rede von einer "narzisstischen Komponente". Der Text zeigt, überzeichnet, eine Möglichkeit, Mensch zu sein. Ob das eine Krankheit ist, was überhaupt eine Krankheit ist und von welcher Position - falls überhaupt von einer - man so etwas festlegen kann, dazu sagt er nichts.