Wir sind Sehnsucht: Roland Kaisers Tour durchs Immergleiche
Verfasst: 03.12.2018, 18:09
Wir sind Sehnsucht: Roland Kaisers Tour durchs Immergleiche
Leben ist zur Ideologie seiner eigenen Absenz geworden (Adorno)
Suchen ist überflüssig: Noch von der Bahn aus sehen wir den stadioneigenen Parkplatz für 2000 Autos. Vom S-Bahnhof Warschauer Straße aus folgen wir den Massen, mehr Frauen als Männern, 30- bis 70jährig. Wir wollen zu Roland, streben zur Berliner Mercedes-Benz-Arena. An den bombastischen Säulen auf dem Vorplatz laufen mit aufmerksamkeitsheischender Penetranz Werbefilme über Autos und demnächst auftretende Stars, lenken mich noch vor dem Konzert ab von meinen Sorgen, Freuden, Alltagssachen. Jede Säule zeigt gleichzeitig das gleiche Bewegtbild, wie ein Trailer dessen, was mich gleich im Stadion erwartet: Roland Kaiser wird immer dasselbe singen, immer mehr vom Gleichen, und bei jedem neuen Lied werde ich hoffen, dass es mich glücklich macht, oder wenigstens froh, erfüllt.
Draußen Ketten-Restaurants, Adventsglitzerkitsch. Am Glühweinstand schenkt man meinem Begleiter lauwarmen Punsch aus, der, wie der gesamte Abend, nicht halten wird, was er verspricht: Glut. Ohne Alk ist das nicht auszuhalten, prophezeit er mit der gebotenen Selbstironie des Akademikers dem Schlager gegenüber (immerhin hat uns niemand gezwungen, dabei zu sein). Sie ließe sich so gerne fallen. Doch ich halte mich an meine Nüchternheit, will meine fünf Sinne beisammen haben in diesem Tempel der Populärkultur, an dessen Gottheit ich nicht glaube, doch so gerne glauben will, wenigstens für einen Abend, die ständigen Gedanken an der Kasse abgeben, mich fallenlassen in ein Seindürfen, Teil sein dürfen. Es funktioniert nicht. Geist, Herz und Seele lassen sich nicht bescheißen: Ich werde nicht mitmachen können. Von 20 Uhr bis 23:30 Uhr werde ich mir selbst noch entfremdeter sein müssen als sonst, in jener schmerzvollen Klarheit vergeblicher Einsicht: Ich bin am falschen Ort. Fast überall.
Die Schlangen vor dem Einlass werden länger. Ordner scannen die Tickets, Röntgenstrahlen durchdringen die Kleider und Körper, Sicherheitskräfte werfen lustlose Blicke in Taschen.
Ein Bekannter hat mich mitgenommen, sein Nachbar wollte für 40 statt 60 Euro seine Karte loswerden, weil er krank geworden ist. 40 Euro! Was mich dabei geritten hat, weiß ich nicht: Neugier? Die Lust, ein Vorurteil bestätigen zu lassen? Welches? Oder doch, ganz banal, die Sehnsucht nach dem Wahren, Echten, Naturgewaltigen? Alles zusammen? Roland-Kaiser-Fan bin ich nicht, aber neugierig: Wie schafft es der gealterte Mann mit seinen immergleichen gealterten Liederwaren, so viele Leute ins Stadion zu ziehen? Es ist nicht ausverkauft, aber ziemlich voll. 17.000 passen hier rein. Laut Eigenwerbung ist die Halle „eine der erfolgreichsten Multifunktionsarenen der Welt“ mit rund 1,3 Millionen Gästen jährlich. Sport und Pop für die Scharen. Heute ist es Schlager, morgen Eishockey. Was zieht die Leute hierher? Was erwarten wir uns von diesem Abend? Was suchen wir hier? Nichts weniger als Glück, fürchte ich.
Im Augenblick verweilen… In die erste Etage führt eine Rolltreppe, danach darf, wer will, auch die eigene Körperkraft auf den vorgegebenen Bahnen benutzen. Toiletten und Garderoben sind weithin sichtbar ausgeschildert, alles ist zweckmäßig, beinahe steril: als warte das Gebäude darauf, baldmöglichst wieder verlassen zu werden. Wenn alles erledigt ist, das Pinkeln, das Trinken, das Knabbern, das Klatschen. Ein Verweilen hier ist rein funktional.
Unsere Plätze befinden sich ziemlich weit oben im Wunderland der Liebe – unten, vor der Bühne, kosten die Karten das Doppelte. Steile Treppen führen auf die Ränge, die mich schwindeln machen. Von hier oben wirkt die große Bühne mickrig. Unten sind nicht alle Plätze besetzt, aber eine Gruppe Hardcore-Fans in der ersten Reihe wird sich später gut für die Fernsehkamera machen, wenn die Ordner kurz vor den Zugaben ihre Stühle räumen und die mehr oder weniger kreischenden Frauen näher an ihr Idol heranlassen, auf dass sie seinen Blick erhaschen, die Illusion einer Kommunikation mit nach Hause nehmen. Dich zu lieben -
Fast pünktlich beginnt das EVENT. Ereignet sich. Roland Kaiser auf Tour beim Auftritt in Berlin, seiner Heimatstadt, wie er mehrfach mit professioneller Glaubwürdigkeit betont: Hier fing alles an. Er muss sagen, dass er sich freut, in der Stadt zu sein, er wird das auch später in Kiel, Stuttgart, Erfurt, Hamburg… leicht abgewandelt wiederholen, und doch glaubt man es ihm. Billige Lichteffekte vervielfältigen die Redundanz von Text und Musik: Feuerzungen flackern, wenn von Leidenschaft die Rede ist, Computerbefehle reihen beliebige Bildchen in wechselnden Farben aneinander, als sei am wichtigsten, dass immer irgendwas los ist, egal was, immer Bewegung, ohne dass etwas passiert. (Damit nichts passiert?) Uns kann jetzt überhaupt nichts mehr passieren. Vor und hinter der Bühne heben und senken sich quadratische Wände, scheinbar zwecklos. Das Gezappel und Gezucke von Licht und Ton lässt keine Lücke entstehen, kein Innehalten, keinen Bruch. Auf der Bühne hampelt ein Kameramann mit Gaffer herum, was ein wenig das elegante Bild stört, doch der Profi, Roland Kaiser im schnittigen Zweireiher, lässt sich nicht aus seiner steifen Ruhe bringen. Seit 44 Jahren tritt er auf, immer im selben Schema. Die gesamte Show ist durchgetaktet, auch die vier Zugaben, bei denen die erste lange herbei zu klatschen, zu verdienen sein, und die anderen drei großzügig nachgereicht werden, bevor wir die Arena frei machen für das nächste große Event, in langen Schlangen das Gebäude verlassend, eine hinter dem anderen, ohne einander zu fragen Wohin gehst du. Bis zu diesem Schluss werde ich mich fühlen wie ein Rädchen im Getriebe der Kulturindustrie: reine Funktion.
Die Gefühle sind frei. Nun sitze ich und kann nicht anders als mich zu fragen: Wie konnte es dazu kommen, und wie kommt es, dass wir, Menschen, Bürgerinnen und Bürger, Arbeiterinnen und Arbeiter, mit einer passiven Erwartung in ein Konzert gehen, als würden wir uns selbst an der Garderobe abgeben – und auch nach dem Konzert mit dem Mantel nicht wieder zurückerhalten, weil wir uns längst verloren haben? Wir kaufen eine teure Karte, gehen vorgegebene, ausgeschilderte Wege, trinken Massenware, verhalten uns wie Massenware, lassen uns etwas vormachen, erhoffen uns davon „einen schönen Abend“, oder wenigstens irgendein Gefühl, das über uns selbst hinausweist, über das, was uns umgibt, hemmt, blockiert. Wir erwarten Glück für 60 Euro, als würde das reichen, als müssten wir dazu nur unsererseits ein paar Erwartungen erfüllen (aufstehen, wenn alle aufstehen, auf 1 und 3 klatschen, Neonleuchten schwenken, den Refrain mitgrölen, jubeln, „Roland“ rufen etc.). Für 60 Euro und drei Stunden Zeit erkaufen wir die Unmöglichkeit der Erfüllung, des Mitwirkens, einer tatsächlichen (nicht vorgemachten) eigenen Empfindung. Wir erwerben das, was die Erfüllung der Sehnsucht nach Gestaltung und Empfindung, erst unerfüllbar macht. Der Kauf des Tickets besiegelt die Enttäuschung. Oder?
Warum hast du nicht nein gesagt? Ich sitze und höre, wie Roland Kaiser immer dasselbe erzählt. Ein Mann will eine Frau, die er nicht haben darf, ein Mann sehnt sich nach einer Berührung, die verboten ist, ein Mann erliegt der Ausstrahlung einer Frau, ein Mann ist verliebt in eine Frau, die ihn verlassen wird. Ein Mann liegt bei einer Frau, der er ergeben ist etc. ad infinitum. Totale Sehnsucht, Totale Hingabe, totale Leidenschaft. Totale Eindeutigkeit. Kein Raum für Zwischentöne. Die Begleitmusik zur totalen Eindeutigkeit ist die totale Erwartbarkeit. Jeder Akkord ist Illustration, jede Note vorhersehbar, jede scheinbare Exaltation gesteuerte Wiederholung. Nach der Pause ist die Lautstärke höher, treibt das Publikum, um vor der letzten Zugabe wieder gesenkt zu werden: Wir sind ferngesteuert. Nichts ist dem Zufall überlassen. Da wird nichts Neues, nichts Befremdendes, nichts Überraschendes zugemutet. Kein Wort fällt zu all dem, was dazwischen liegt, zwischen Männern und Frauen, zwischen Trauer und Glück, zwischen Loslassen und Festhalten: kein Zweifel, kein Fragen, nichts vom Leben. Obwohl er doch so viel zu erzählen hätte, der als Roland Keiler bei einer Pflegemutter aufgewachsene Junge, der durch eine Lungenerkrankung lebensbedrohlich erkrankte Mann. Wir hören nichts davon. Am Ende bleiben Tränen. Wir sehen einen Roboter auf der Bühne, dem am Ende Tränen der Rührung kommen, die vermutlich genauso berechnet sind wie alles andere. Als wäre alles Menschliche getilgt, als stünde da eine Schlagermaschine, die das Menschsein nur behauptet, ein Klon seiner selbst. Warum tut er sich das an?
Während ich darüber nachdenke, suche ich die Sehnsucht in mir, die die Lieder eigentlich erwecken müssten, denn dort hat sie ihren Sitz, in mir, lebt auch in all denen, die um mich herum sitzen, mit albernen rosaflackernden Kronen auf den Köpfen, während sie aus Roland-Kaiser-Plastikbechern miesen Rotwein trinken, sich gleichzeitig mit einem Lachen distanzieren und mitfiebern in einem Fieber, das gar keines ist, das reines Produkt ist, ein Imagefilm, der Emotion nur behauptet. Woanders verkauft Mercedes Autos, hier lässt die Firma Roland Kaiser Sehnsucht verkaufen, und die Liebe, die wenigstens für einen Abend lang siegt. Das Timbre in seiner Stimme verspricht sie uns, obwohl er erkältet klingt, nicht ganz bei Stimme zu sein scheint, verspricht uns eine totale Liebe, die es nicht gibt, nie geben wird, die wir aber einen Abend lang glauben sollen, damit die Kassen klingeln, damit wir nicht nachdenken, was die Alternative zu dieser toten Liebe wäre.
Ich glaub, es geht schon. Der kleine Mann auf der Bühne fällt in keiner Sekunde aus der Rolle, kontrolliert sind seine abgehackten Bewegungen, während die Mimik nur wenige Variationen zulässt, und wenn er gerade mal nicht singt, scheint er nicht zu wissen, was er machen soll, wie er stehen oder gehen, wie er gucken soll; dann zieht er sein Kinn nach vorne, als würde er eine Kampfangsage vorbereiten, drückt die Lippen für einen Moment zusammen – bis er den nächsten Ton singt und so tut, als wäre alles in Butter. Er singt Stücke, die er seit Jahrzehnten singt, immer dasselbe, immer auf dieselbe Art, und auf der aktuellen Tour tut er dies dann immer und immer wieder, vor austauschbarem Publikum auf austauschbaren Bühnen. Wie kann er das aushalten? Langweilt er sich nicht mit sich selbst?
Kein Problem: Roland Kaiser macht in diesem Falschen alles richtig, engagiert sich sozial, hat die deutsche Einheit und eine Lungentransplantation überstanden, tritt in Dresden auf, hat sich sogar gegen Pegida geäußert. Einer von den Guten. Macht einen guten Job, lässt sich nicht lumpen, der zweite Teil nach der Pause ist länger als der erste. Doch ich werde ungeduldig, will raus. Eine Einsamkeit kann nicht größer sein als in einer Menge von Menschen, die hitzig einem Event beiwohnen, das mich völlig kalt lässt. Mein Herz bleibt taub, meine Seele stumm, meine Haut glatt. Alles, was ich spüre, ist die Sehnsucht, etwas spüren zu können. Etwas Eigenes. Das mir nicht aufgedrückt wird. Die Musiker der Band geben alles, aber es ist immer mehr vom Gleichen. Eine Verschwendung: Die Band könnte so gute Musik machen! Die Halle tobt trotzdem. Empfinden sie das wirklich, oder täuschen sie es vor? Wie werden sie sich nachher fühlen, zuhause: Erfüllt? Oder betrogen? Was bringt sie, was bringt uns auf den Gedanken, das Glück sei hier zu finden? Was haben wir hier verloren, in der Mercedes-Benz-Arena, wie Paul Watzlawicks Betrunkener, der unter einer Straßenlaterne einen Schlüssel sucht und sucht, bis einer des Weges kommt und beim Suchen hilft, erfolglos, schließlich fragt, ob der Mann den Schlüssel denn wirklich an dieser Stelle verloren habe. Nein, antwortet der, nicht hier, weiter hinten, aber dort mag er nicht suchen, „dort ist es zu finster“.
Was soll schon geschehn?
Die kursiven Textstellen sind Liedzitate.
Leben ist zur Ideologie seiner eigenen Absenz geworden (Adorno)
Suchen ist überflüssig: Noch von der Bahn aus sehen wir den stadioneigenen Parkplatz für 2000 Autos. Vom S-Bahnhof Warschauer Straße aus folgen wir den Massen, mehr Frauen als Männern, 30- bis 70jährig. Wir wollen zu Roland, streben zur Berliner Mercedes-Benz-Arena. An den bombastischen Säulen auf dem Vorplatz laufen mit aufmerksamkeitsheischender Penetranz Werbefilme über Autos und demnächst auftretende Stars, lenken mich noch vor dem Konzert ab von meinen Sorgen, Freuden, Alltagssachen. Jede Säule zeigt gleichzeitig das gleiche Bewegtbild, wie ein Trailer dessen, was mich gleich im Stadion erwartet: Roland Kaiser wird immer dasselbe singen, immer mehr vom Gleichen, und bei jedem neuen Lied werde ich hoffen, dass es mich glücklich macht, oder wenigstens froh, erfüllt.
Draußen Ketten-Restaurants, Adventsglitzerkitsch. Am Glühweinstand schenkt man meinem Begleiter lauwarmen Punsch aus, der, wie der gesamte Abend, nicht halten wird, was er verspricht: Glut. Ohne Alk ist das nicht auszuhalten, prophezeit er mit der gebotenen Selbstironie des Akademikers dem Schlager gegenüber (immerhin hat uns niemand gezwungen, dabei zu sein). Sie ließe sich so gerne fallen. Doch ich halte mich an meine Nüchternheit, will meine fünf Sinne beisammen haben in diesem Tempel der Populärkultur, an dessen Gottheit ich nicht glaube, doch so gerne glauben will, wenigstens für einen Abend, die ständigen Gedanken an der Kasse abgeben, mich fallenlassen in ein Seindürfen, Teil sein dürfen. Es funktioniert nicht. Geist, Herz und Seele lassen sich nicht bescheißen: Ich werde nicht mitmachen können. Von 20 Uhr bis 23:30 Uhr werde ich mir selbst noch entfremdeter sein müssen als sonst, in jener schmerzvollen Klarheit vergeblicher Einsicht: Ich bin am falschen Ort. Fast überall.
Die Schlangen vor dem Einlass werden länger. Ordner scannen die Tickets, Röntgenstrahlen durchdringen die Kleider und Körper, Sicherheitskräfte werfen lustlose Blicke in Taschen.
Ein Bekannter hat mich mitgenommen, sein Nachbar wollte für 40 statt 60 Euro seine Karte loswerden, weil er krank geworden ist. 40 Euro! Was mich dabei geritten hat, weiß ich nicht: Neugier? Die Lust, ein Vorurteil bestätigen zu lassen? Welches? Oder doch, ganz banal, die Sehnsucht nach dem Wahren, Echten, Naturgewaltigen? Alles zusammen? Roland-Kaiser-Fan bin ich nicht, aber neugierig: Wie schafft es der gealterte Mann mit seinen immergleichen gealterten Liederwaren, so viele Leute ins Stadion zu ziehen? Es ist nicht ausverkauft, aber ziemlich voll. 17.000 passen hier rein. Laut Eigenwerbung ist die Halle „eine der erfolgreichsten Multifunktionsarenen der Welt“ mit rund 1,3 Millionen Gästen jährlich. Sport und Pop für die Scharen. Heute ist es Schlager, morgen Eishockey. Was zieht die Leute hierher? Was erwarten wir uns von diesem Abend? Was suchen wir hier? Nichts weniger als Glück, fürchte ich.
Im Augenblick verweilen… In die erste Etage führt eine Rolltreppe, danach darf, wer will, auch die eigene Körperkraft auf den vorgegebenen Bahnen benutzen. Toiletten und Garderoben sind weithin sichtbar ausgeschildert, alles ist zweckmäßig, beinahe steril: als warte das Gebäude darauf, baldmöglichst wieder verlassen zu werden. Wenn alles erledigt ist, das Pinkeln, das Trinken, das Knabbern, das Klatschen. Ein Verweilen hier ist rein funktional.
Unsere Plätze befinden sich ziemlich weit oben im Wunderland der Liebe – unten, vor der Bühne, kosten die Karten das Doppelte. Steile Treppen führen auf die Ränge, die mich schwindeln machen. Von hier oben wirkt die große Bühne mickrig. Unten sind nicht alle Plätze besetzt, aber eine Gruppe Hardcore-Fans in der ersten Reihe wird sich später gut für die Fernsehkamera machen, wenn die Ordner kurz vor den Zugaben ihre Stühle räumen und die mehr oder weniger kreischenden Frauen näher an ihr Idol heranlassen, auf dass sie seinen Blick erhaschen, die Illusion einer Kommunikation mit nach Hause nehmen. Dich zu lieben -
Fast pünktlich beginnt das EVENT. Ereignet sich. Roland Kaiser auf Tour beim Auftritt in Berlin, seiner Heimatstadt, wie er mehrfach mit professioneller Glaubwürdigkeit betont: Hier fing alles an. Er muss sagen, dass er sich freut, in der Stadt zu sein, er wird das auch später in Kiel, Stuttgart, Erfurt, Hamburg… leicht abgewandelt wiederholen, und doch glaubt man es ihm. Billige Lichteffekte vervielfältigen die Redundanz von Text und Musik: Feuerzungen flackern, wenn von Leidenschaft die Rede ist, Computerbefehle reihen beliebige Bildchen in wechselnden Farben aneinander, als sei am wichtigsten, dass immer irgendwas los ist, egal was, immer Bewegung, ohne dass etwas passiert. (Damit nichts passiert?) Uns kann jetzt überhaupt nichts mehr passieren. Vor und hinter der Bühne heben und senken sich quadratische Wände, scheinbar zwecklos. Das Gezappel und Gezucke von Licht und Ton lässt keine Lücke entstehen, kein Innehalten, keinen Bruch. Auf der Bühne hampelt ein Kameramann mit Gaffer herum, was ein wenig das elegante Bild stört, doch der Profi, Roland Kaiser im schnittigen Zweireiher, lässt sich nicht aus seiner steifen Ruhe bringen. Seit 44 Jahren tritt er auf, immer im selben Schema. Die gesamte Show ist durchgetaktet, auch die vier Zugaben, bei denen die erste lange herbei zu klatschen, zu verdienen sein, und die anderen drei großzügig nachgereicht werden, bevor wir die Arena frei machen für das nächste große Event, in langen Schlangen das Gebäude verlassend, eine hinter dem anderen, ohne einander zu fragen Wohin gehst du. Bis zu diesem Schluss werde ich mich fühlen wie ein Rädchen im Getriebe der Kulturindustrie: reine Funktion.
Die Gefühle sind frei. Nun sitze ich und kann nicht anders als mich zu fragen: Wie konnte es dazu kommen, und wie kommt es, dass wir, Menschen, Bürgerinnen und Bürger, Arbeiterinnen und Arbeiter, mit einer passiven Erwartung in ein Konzert gehen, als würden wir uns selbst an der Garderobe abgeben – und auch nach dem Konzert mit dem Mantel nicht wieder zurückerhalten, weil wir uns längst verloren haben? Wir kaufen eine teure Karte, gehen vorgegebene, ausgeschilderte Wege, trinken Massenware, verhalten uns wie Massenware, lassen uns etwas vormachen, erhoffen uns davon „einen schönen Abend“, oder wenigstens irgendein Gefühl, das über uns selbst hinausweist, über das, was uns umgibt, hemmt, blockiert. Wir erwarten Glück für 60 Euro, als würde das reichen, als müssten wir dazu nur unsererseits ein paar Erwartungen erfüllen (aufstehen, wenn alle aufstehen, auf 1 und 3 klatschen, Neonleuchten schwenken, den Refrain mitgrölen, jubeln, „Roland“ rufen etc.). Für 60 Euro und drei Stunden Zeit erkaufen wir die Unmöglichkeit der Erfüllung, des Mitwirkens, einer tatsächlichen (nicht vorgemachten) eigenen Empfindung. Wir erwerben das, was die Erfüllung der Sehnsucht nach Gestaltung und Empfindung, erst unerfüllbar macht. Der Kauf des Tickets besiegelt die Enttäuschung. Oder?
Warum hast du nicht nein gesagt? Ich sitze und höre, wie Roland Kaiser immer dasselbe erzählt. Ein Mann will eine Frau, die er nicht haben darf, ein Mann sehnt sich nach einer Berührung, die verboten ist, ein Mann erliegt der Ausstrahlung einer Frau, ein Mann ist verliebt in eine Frau, die ihn verlassen wird. Ein Mann liegt bei einer Frau, der er ergeben ist etc. ad infinitum. Totale Sehnsucht, Totale Hingabe, totale Leidenschaft. Totale Eindeutigkeit. Kein Raum für Zwischentöne. Die Begleitmusik zur totalen Eindeutigkeit ist die totale Erwartbarkeit. Jeder Akkord ist Illustration, jede Note vorhersehbar, jede scheinbare Exaltation gesteuerte Wiederholung. Nach der Pause ist die Lautstärke höher, treibt das Publikum, um vor der letzten Zugabe wieder gesenkt zu werden: Wir sind ferngesteuert. Nichts ist dem Zufall überlassen. Da wird nichts Neues, nichts Befremdendes, nichts Überraschendes zugemutet. Kein Wort fällt zu all dem, was dazwischen liegt, zwischen Männern und Frauen, zwischen Trauer und Glück, zwischen Loslassen und Festhalten: kein Zweifel, kein Fragen, nichts vom Leben. Obwohl er doch so viel zu erzählen hätte, der als Roland Keiler bei einer Pflegemutter aufgewachsene Junge, der durch eine Lungenerkrankung lebensbedrohlich erkrankte Mann. Wir hören nichts davon. Am Ende bleiben Tränen. Wir sehen einen Roboter auf der Bühne, dem am Ende Tränen der Rührung kommen, die vermutlich genauso berechnet sind wie alles andere. Als wäre alles Menschliche getilgt, als stünde da eine Schlagermaschine, die das Menschsein nur behauptet, ein Klon seiner selbst. Warum tut er sich das an?
Während ich darüber nachdenke, suche ich die Sehnsucht in mir, die die Lieder eigentlich erwecken müssten, denn dort hat sie ihren Sitz, in mir, lebt auch in all denen, die um mich herum sitzen, mit albernen rosaflackernden Kronen auf den Köpfen, während sie aus Roland-Kaiser-Plastikbechern miesen Rotwein trinken, sich gleichzeitig mit einem Lachen distanzieren und mitfiebern in einem Fieber, das gar keines ist, das reines Produkt ist, ein Imagefilm, der Emotion nur behauptet. Woanders verkauft Mercedes Autos, hier lässt die Firma Roland Kaiser Sehnsucht verkaufen, und die Liebe, die wenigstens für einen Abend lang siegt. Das Timbre in seiner Stimme verspricht sie uns, obwohl er erkältet klingt, nicht ganz bei Stimme zu sein scheint, verspricht uns eine totale Liebe, die es nicht gibt, nie geben wird, die wir aber einen Abend lang glauben sollen, damit die Kassen klingeln, damit wir nicht nachdenken, was die Alternative zu dieser toten Liebe wäre.
Ich glaub, es geht schon. Der kleine Mann auf der Bühne fällt in keiner Sekunde aus der Rolle, kontrolliert sind seine abgehackten Bewegungen, während die Mimik nur wenige Variationen zulässt, und wenn er gerade mal nicht singt, scheint er nicht zu wissen, was er machen soll, wie er stehen oder gehen, wie er gucken soll; dann zieht er sein Kinn nach vorne, als würde er eine Kampfangsage vorbereiten, drückt die Lippen für einen Moment zusammen – bis er den nächsten Ton singt und so tut, als wäre alles in Butter. Er singt Stücke, die er seit Jahrzehnten singt, immer dasselbe, immer auf dieselbe Art, und auf der aktuellen Tour tut er dies dann immer und immer wieder, vor austauschbarem Publikum auf austauschbaren Bühnen. Wie kann er das aushalten? Langweilt er sich nicht mit sich selbst?
Kein Problem: Roland Kaiser macht in diesem Falschen alles richtig, engagiert sich sozial, hat die deutsche Einheit und eine Lungentransplantation überstanden, tritt in Dresden auf, hat sich sogar gegen Pegida geäußert. Einer von den Guten. Macht einen guten Job, lässt sich nicht lumpen, der zweite Teil nach der Pause ist länger als der erste. Doch ich werde ungeduldig, will raus. Eine Einsamkeit kann nicht größer sein als in einer Menge von Menschen, die hitzig einem Event beiwohnen, das mich völlig kalt lässt. Mein Herz bleibt taub, meine Seele stumm, meine Haut glatt. Alles, was ich spüre, ist die Sehnsucht, etwas spüren zu können. Etwas Eigenes. Das mir nicht aufgedrückt wird. Die Musiker der Band geben alles, aber es ist immer mehr vom Gleichen. Eine Verschwendung: Die Band könnte so gute Musik machen! Die Halle tobt trotzdem. Empfinden sie das wirklich, oder täuschen sie es vor? Wie werden sie sich nachher fühlen, zuhause: Erfüllt? Oder betrogen? Was bringt sie, was bringt uns auf den Gedanken, das Glück sei hier zu finden? Was haben wir hier verloren, in der Mercedes-Benz-Arena, wie Paul Watzlawicks Betrunkener, der unter einer Straßenlaterne einen Schlüssel sucht und sucht, bis einer des Weges kommt und beim Suchen hilft, erfolglos, schließlich fragt, ob der Mann den Schlüssel denn wirklich an dieser Stelle verloren habe. Nein, antwortet der, nicht hier, weiter hinten, aber dort mag er nicht suchen, „dort ist es zu finster“.
Was soll schon geschehn?
Die kursiven Textstellen sind Liedzitate.