Der Karmasammler
Verfasst: 19.12.2018, 21:30
Der Karmasammler
(frei nach Elias Canetti - der Ohrenzeuge)
Der Karmasammler weiß, dass es in der Welt gerecht zugeht. Zwar mag die Gerechtigkeit nicht immer auf dem Fuße folgen, sie mag verschlungene Wege wählen und auf sich warten lassen; doch früher oder später kriegt jeder, was er verdient.
Seiner Arbeit geht er gerne nach, und für seine Freizeit hat er viele Pläne. Man könnte ins Kino gehen, wandern, etwas lesen oder sogar tanzen. Also arbeitet er; sobald der Stapel auf dem Schreibtisch fort ist, wird er gehen. Wird der Stapel kleiner, kommt jemand und legt etwas neues darauf; da muss er eben schneller sein, irgendwann muss sie doch weg sein, diese Arbeit, wie viel soll denn da noch kommen? Wenn er dann irgendwann, spät in der Nacht, nach Hause geht und einen leeren Schreibtisch zurückläßt, dann weiß er: Morgen klappt es, dafür hat er vorgesorgt. Er wird früh fertig sein und dann ins Kino gehen, wandern, etwas lesen oder sogar tanzen. Ganz bestimmt.
Wenn sich der Karmasammler in eine Frau verliebt, wartet er, bis sie umzieht, dann stellt er sich höflich vor und hilft tatkräftig mit. Auch ihre Sorgen kann sie ihm anvertrauen, Zuhören kann er wie kaum einer. Und bald weiß er sie so tief in seiner Schuld, dass er zufrieden sieht: Nun kann sie gar nicht anders, als ihm früher oder später zu verfallen. Dass sie sich gerade mit einem anderen verlobt hat, kann ihn nicht beunruhigen: Der Kerl ist ja ein Taugenichts, der weder Überstunden macht noch Urlaub verfallen läßt und nicht einmal beim Umzug mitgeholfen hat - der wird schon noch sehen, da braucht man bloß abzuwarten. Und frohen Mutes hilft er bei den Hochzeitsvorbereitungen und übernimmt die erste Taufpatenschaft. Meist weiß die Verehrte gar nichts von seiner Neigung, und er hütet sich auch, sie zu zeigen: Nicht, dass sie sein Interesse erwidert und ihm zufällt, ehe er es verdient hat. Das ginge sicherlich nicht gut.
Überhaupt hat der Karmasammler eine Scheu vor glücklichen Momenten. Jeder davon wird ja mit einem Quantum eigenen Verdienstes teuer bezahlt, und ein Lächeln der Angebeteten kann einen glatt den Umzug kosten! Gewiss, solche Annehmlichkeiten sind verlockend, aber allzu rasch gewöhnt man sich daran, braucht mehr und mehr vom Angesparten auf, und ehe man sich versieht, ist man mittellos, alle guten Taten nichts mehr wert, und wenn das Leben schon jetzt hart ist, wie soll es dann erst werden!
Wenn der Karmasammler stirbt, tut er es oft an einem Herzinfarkt, meist alleine und umgeben von dem, wovon er er nichts gehabt hat. Aber, immerhin: Er hat in der Aussicht darauf gelebt.
(frei nach Elias Canetti - der Ohrenzeuge)
Der Karmasammler weiß, dass es in der Welt gerecht zugeht. Zwar mag die Gerechtigkeit nicht immer auf dem Fuße folgen, sie mag verschlungene Wege wählen und auf sich warten lassen; doch früher oder später kriegt jeder, was er verdient.
Seiner Arbeit geht er gerne nach, und für seine Freizeit hat er viele Pläne. Man könnte ins Kino gehen, wandern, etwas lesen oder sogar tanzen. Also arbeitet er; sobald der Stapel auf dem Schreibtisch fort ist, wird er gehen. Wird der Stapel kleiner, kommt jemand und legt etwas neues darauf; da muss er eben schneller sein, irgendwann muss sie doch weg sein, diese Arbeit, wie viel soll denn da noch kommen? Wenn er dann irgendwann, spät in der Nacht, nach Hause geht und einen leeren Schreibtisch zurückläßt, dann weiß er: Morgen klappt es, dafür hat er vorgesorgt. Er wird früh fertig sein und dann ins Kino gehen, wandern, etwas lesen oder sogar tanzen. Ganz bestimmt.
Wenn sich der Karmasammler in eine Frau verliebt, wartet er, bis sie umzieht, dann stellt er sich höflich vor und hilft tatkräftig mit. Auch ihre Sorgen kann sie ihm anvertrauen, Zuhören kann er wie kaum einer. Und bald weiß er sie so tief in seiner Schuld, dass er zufrieden sieht: Nun kann sie gar nicht anders, als ihm früher oder später zu verfallen. Dass sie sich gerade mit einem anderen verlobt hat, kann ihn nicht beunruhigen: Der Kerl ist ja ein Taugenichts, der weder Überstunden macht noch Urlaub verfallen läßt und nicht einmal beim Umzug mitgeholfen hat - der wird schon noch sehen, da braucht man bloß abzuwarten. Und frohen Mutes hilft er bei den Hochzeitsvorbereitungen und übernimmt die erste Taufpatenschaft. Meist weiß die Verehrte gar nichts von seiner Neigung, und er hütet sich auch, sie zu zeigen: Nicht, dass sie sein Interesse erwidert und ihm zufällt, ehe er es verdient hat. Das ginge sicherlich nicht gut.
Überhaupt hat der Karmasammler eine Scheu vor glücklichen Momenten. Jeder davon wird ja mit einem Quantum eigenen Verdienstes teuer bezahlt, und ein Lächeln der Angebeteten kann einen glatt den Umzug kosten! Gewiss, solche Annehmlichkeiten sind verlockend, aber allzu rasch gewöhnt man sich daran, braucht mehr und mehr vom Angesparten auf, und ehe man sich versieht, ist man mittellos, alle guten Taten nichts mehr wert, und wenn das Leben schon jetzt hart ist, wie soll es dann erst werden!
Wenn der Karmasammler stirbt, tut er es oft an einem Herzinfarkt, meist alleine und umgeben von dem, wovon er er nichts gehabt hat. Aber, immerhin: Er hat in der Aussicht darauf gelebt.