Die Verabschiedung

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Teacherman
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Beitragvon Teacherman » 05.04.2019, 21:39

„Warum sind Sie nicht Schriftsteller geworden?“, fragte Jonas.

Peter Schaller schaute von dem selbst gedichteten Text hoch, den er seinen Schülern gerade vorgelesen hatte. Jonas grinste hämisch. Es war klar, dass er seinen Lehrer provozieren wollte. Aber Peter Schaller blieb ganz gelassen.

„Weißt du, Jonas“, begann er, „Lehrer sind eine ganz besondere Spezies, musst du wissen. Lehrer sind nämlich alle verhinderte Irgendwas. Da ist der Sportlehrer, der früher ein ausgezeichneter Schwimmer war, sich dann aber verliebt hat, dem Alkohol zugeneigt war oder einfach nur um fünf Uhr morgens keinen Sinn mehr darin sah, endlos lange Bahnen im Schwimmbad zu ziehen, nur um irgendwann mal bei Olympia schwimmen zu können. Da ist der Musiklehrer, der ursprünglich Konzertpianist hatte werden wollen, dem aber die Finger zu schnell oder zu langsam im Verhältnis zum Takt des Stückes gerieten. Da ist der Kunstlehrer, den die Berliner Akademie für Künste dreimal wegen seiner nichtssagenden Aquarelle abgelehnt hat, oder der Philosophielehrer, der acht Jahre an seiner Doktorarbeit laboriert hat, bevor er entnervt aufgab; und da sind dann noch unzählige Lehrer, die gar nicht richtig versucht haben, ihrer Mittelmäßigkeit zu entfliehen, zu denen, das muss ich zu meiner Schande gestehen, ich mich auch zähle. Dass Lehrer eigentlich gescheiterte Existenzen sind, bemerkt man daran, dass sie mit Schülern wie dir einen Raum teilen müssen. Das ist die Strafe, die sie tagtäglich bezahlen. Selbst wenn sie versuchen, in das Reich des Sublimen, des Erhabenen zu entschwinden, werden sie tagtäglich durch die Banalität des Schulischen auf den Boden der Tatsachen geholt. Wenn du dich also durch deine Frage über mein Geschreibsel lustig machen willst, dann lass mich dir sagen: Du bist ein Meister darin, offene Türen einzurennen, mein pubertärer Eleve.“

Der Schüler Jonas schaute ihn verdutzt an. Es war klar, dass er weder geistig noch rhetorisch dazu in der Lage war, hier einen Konter zu setzen, mit dem er die restlichen Schüler auf seine Seite bringen konnte. Sein Schweigen war ein Sieg für Schaller. Aber dieser Sieg, wie so viele Siege gegen die geistig häufig unterlegenen Schüler, fühlte sich schal an. Schaller hatte schon öfter auf solche Provokationen reagieren müssen, vor allem dann, wenn er zu einem Thema eins seiner eigenen Gedichte oder Prosatexte vortrug. Nicht zuletzt aus diesem Grund saß in der erfolgten Tirade gegen den Schüler Jonas (oder vielmehr der Tirade gegen den Beruf und die Berufung des Lehrers) jedes Wort. Er hatte diesen Konter in anderen Situationen schon zum Besten geben dürfen.

„Aber weißt du, Jonas“, fuhr der Deutschlehrer Schaller fort, „ich habe nie verstanden, warum gewisse Personen den unbändigen Drang verspüren, sich über das Geschriebene anderer Leute lustig zu machen. Ich habe nie verstanden, warum mein Bruder meiner Schwester das Tagebuch aus den Händen riss und mir ihre Einträge mit einem übertrieben säuselnden Ton vorlas, während sie unter Tränen versuchte, ihr Tagebuch wieder zurück zu bekommen. Ich habe auch nie verstanden, warum meine Mitschüler lachten, als unser Deutschlehrer aus Manns Tod in Venedig vorlas. Wirklich nicht. Für mich ist das Wort, geschrieben oder gesprochen, der Wunsch nach Kommunikation, nach Austausch, ein Wunsch, den man niemandem leichtfertig abschlagen sollte. Wer schreibt, hat den Mut, sich verletzbar zu machen. Und, um es mit Büchner zu sagen, Jonas: Ist es nicht ein elendes Vergnügen, andere schlechter zu finden als sich? Wenn du mir also etwas mitzuteilen hast, lieber Jonas, können wir gerne nach der Stunde noch über meinen Text oder deine Meinung dazu reden, einverstanden?“

Nun wirkte der Schüler Jonas völlig überfordert, beinahe eingeschüchtert und gedemütigt. Er ließ den Kopf hängen und wartete darauf, dass die Aufmerksamkeit auf ein anderes Sujet gelenkt würde. Schaller dachte jedoch nicht dran, im Gegenteil, er ließ die peinlich berührte Stimmung noch für einen langen Moment in der Luft hängen, bevor er wieder das Wort ergriff.

„Wir werden nach den Ferien in der Genieperiode weitermachen, besser bekannt auch als Sturm und Drang. Ihr habt zwar noch heute und morgen, aber ich möchte euch an dieser Stelle schon mal schöne Ferien wünschen. Kommt gesund und munter wieder.“

Einige, wenige Schüler hauchten ein ‚Gleichfalls’, der Rest der Schüler verstand das Gesagte lediglich als Signal zum Aufbruch. Hastig packten sie die Taschen, als ginge es bereits in die Ferien, als warte der Flieger gen Süden vor dem Eingang, dabei war dies erst die zweite Stunde des Tages. Die einzige Entspannung die bevor stand, war die des sinnlosen Herumstehens auf dem schmucklosen Pausenhof.

Als der letzte Schüler den Raum verlassen hatte, ging Peter Schaller gemessenen Schrittes zurück ins Lehrerzimmer. Er fand das kleine Lehrerzimmer noch relativ verwaist vor, lediglich die vier neuen Referendare und eine ausbildende Kollegin saßen am Katzentisch und schauten ihn verstohlen an.
„Guten Morgen“, sagte er höflich und ging an ihnen vorbei, ohne auf die gemurmelte Erwiderung zu warten. Er ging in das angrenzende, große Lehrerzimmer und blieb vor dem Vertretungsplan stehen. Er schaute nach, ob die von ihm angelegte Klausur mit den entsprechenden Aufsichten auch eingetragen war, fand den Eintrag, sah, dass er unvollständig war und machte auf dem Absatz kehrt um das Büro des stellvertretenden Schulleiters und Stundenplanmachers aufzusuchen.

„Hallo Georg!“, grüßte er den zwölf Jahre jüngeren Kollegen und A15er (plus Zulage) und klopfte dabei an die offene Tür. „Hast du kurz Zeit?“
Georg Weber fixierte für ein paar Sekunden noch den Bildschirm vor ihm, tippte etwas in die Tastatur und schaute dann hoch zu Peter Schaller.
„Klar. Was gibt es denn?“
Sein aufgewecktes, fast jugendliches Gesicht gab Georg Weber etwas sehr Dynamisches. Viele Eltern und neue Kollegen hielten ihn für Mitte Dreißig und waren dann bass erstaunt, wenn sie erfuhren, dass er der stellvertretende Schulleiter war. Und auch wenn er tatsächlich schon über Vierzig war, hatte er innerhalb von zehn Jahren zwei Besoldungsgruppen hinter sich gelassen. Peter Schaller in über zwanzig nur eine.
„Es geht um die Grundkursklausur in der Q1. Ich hatte die Schreiber in Bio, Informatik und Kunst zusammengelegt und in die Aula gepackt. Auf dem Vertretungsplan taucht aber nur die Informatikklausur auf. Ich fürchte, dass die Bio- und Kunstschreiber nicht wissen, wo sie hinmüssen.“
„Stehen denn die Räume nicht auf dem Klausurplan?“, erwiderte Georg Weber forsch.
„Eben nicht!“
„Hmm, warte mal, ich hab da eine Idee.“
Georg Weber wandte sich wieder dem Computer zu und öffnete zwei, drei Fenster des relevanten Softwareprogramms. Er machte ein paar Eingaben, runzelte die Stirn, tippte erneut etwas ein und drückte die Return-Taste. Ein stolzes Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Komm mal rum“, forderte er Peter Schaller auf. Dieser tat wie ihm geheißen.
„Wenn du die Klausuren anlegst, gibst du einfach hier in der zweiten Betreffzeile nochmal die drei Fächernamen ein, dann tauchen die auch auf dem Vertretungsplan auf.“
Peter Schaller schaute sich den Vorgang, den Georg Weber gerade abgeschlossen hatte, aus der Nähe an und war zufrieden mit dem Ergebnis.
„Danke dir, Georg. Wäre ich nicht drauf gekommen!“
„Kein Ding!“

Zurück auf dem Flur, musste er sich bereits einen Weg durch eine kleine Menschenmenge bahnen. Die Schüler waren zwar angehalten, in der großen Pause den Schulhof aufzusuchen, aber eine beträchtliche Menge nutzte diese Zeit, um die Lehrer mit nur scheinbar oder wirklich wichtigen Dingen zu belästigen: Themen für Facharbeiten, Freistellungen vom Unterricht, nachgereichte Hausaufgaben, korrigierte Klassenarbeiten und Klausuren, Notenfeilschereien, Mobbingvorwürfe und vieles mehr. Peter Schaller jedoch hatte Glück. Auf dem Weg in sein Büro sprach ihn nur ein Kollege an: Harald Mertig.

„Du kommst doch nachher, Peter?“
„Harald, mein Freund und Kupferstecher“, sagte Peter Schaller in jovialem Tonfall, „um nichts in der Welt ließe ich mir deine Verabschiedung entgehen.“

Harald Mertig, den viele Schüler aufgrund seines fülligen Gesichtes und des markanten Schnäuzers nur Mr. Pringles nannten, hatte es geschafft. Sein Soll war erfüllt, er hatte vierzig Jahre in die Pensionskasse eingezahlt, keine Altersteilzeit beantragt und war weder physisch noch psychisch das Wrack, als das viele Kollegen vor ihm schon in den Ruhestand gesunken waren. Harald und Peter gaben sich kurz die Hand und gingen dann ihrer Wege.

Als Peter sein Büro aufgeschlossen hatte, machte er die Tür hinter sich zu. Er hatte keine reguläre Sprechstunde und so konnte er sich guten Gewissens verschanzen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und holte aus der untersten Schublade seinen in eine Thermoskanne abgefüllten Chevailler Acacia hervor, einen französischen Whiskey aus dem Pays d’Othe. Er schüttete sich einen Fingerbreit Whiskey in einen Pappbecher und stürzte den Alkohol schnell hinunter. Vor mehr als zwanzig Jahren, als Peter Schaller in dieser Schule angefangen hatte, waren die älteren, fast ausschließlich männlichen Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß-Kollegen weniger verstohlen mit diesem Laster umgegangen. Auf Konferenzen knallten die Sektkorken, auf den Tischen stand das Bier, und der gute Whiskey war zwar im Fach verschlossen, wurde aber in der Öffentlichkeit des Lehrerzimmers getrunken. Doch nun waren diese alten Kollegen nur noch Gespenster, Tote, über die man sich unglaublich anmutende Geschichten erzählte und deren tradierte Altherrenwitze wie aus einer anderen Zeit gefallen schienen. Peter Schaller weinte dieser Zeit keine Träne nach, er wunderte sich lediglich, dass sich diese Zustände innerhalb von relativ kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehrt hatten: jetzt stellten Frauen das Gros des Kollegiums, waren Alkohol und Zigaretten geächtet wie nie und musste böser Humor sich der political correctness unterordnen.

Es klopfte an der Tür. Einen Moment lang überlegte Schaller, sich tot zu stellen und die Geduld und Beharrlichkeit des Klopfenden auszusitzen. Doch nach dem dritten Klopfer gab er auf. Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, als könne er damit den Geruch von Alkohol in seinem Rachen vertreiben, erhob sich zügig und öffnete die Tür. Es war Georg Weber.
„Entschuldige, Peter“, sagte er, „aber wir haben Not am Mann. Frau Göpels Tochter hat sich in der KiTa am Arm verletzt und sie muss jetzt ins Krankenhaus fahren. Könntest du die ISK Klasse für sie übernehmen?“
Peter Schaller stöhnte.
„Welche denn?“, fragte er leicht entnervt.
„ISK 2“.
„Sind das die Lieben oder die Bösen?“
Georg Weber tat sein Möglichstes nicht allzu pikiert zu schauen. Aber auch er wusste, dass es eine ISK Klasse mit handzahmen Flüchtlingskindern und eine mit ziemlich renitenten Analphabeten gab.
„Na, egal“, sagte Schaller, „ich werd’s schon rausfinden. Wo sind die denn?“
„Raum 112“, erwiderte Weber.
„Gut, ich geh sofort hoch, ich muss gerade noch bei einem Schüler eine Kursänderung eintragen.“
„Ich danke dir, Peter“.
„Kein Ding“, sagte Schaller ironisch. Er ließ die Bürotür offen, ging zum Computer und schloss lediglich die Fenster seines Browsers.

Als er die Internationale Sprachklasse betrat, war Frau Göpel schon weg. Die dreizehn Schülerinnen und Schüler, die aufgeregt durcheinander liefen, schauten ihn verdutzt an. Schaller ging auf den Jungen zu, den er noch vom letzten Vertretungsunterricht in der Klasse als ‚Anführer’ in Erinnerung hatte, und sagte laut und deutlich zu ihm, er möge sich bitte hinsetzen. Diese persönliche Ansprache funktionierte in seiner Erfahrung besser als eine Ansprache an die ganze Gruppe. Der Junge fügte sich der Anweisung, und sein Gehorsam infizierte den Rest der Klasse. Langsam, aber ohne Umwege, kehrten sie zu ihren Plätzen zurück und setzten sich hin. Da saßen sie nun: vier Kopftuchmädchen, zwei dunkelhaarige Rumäninnen, und sieben Jungs mit schwarzen Haaren und vier Herkunftsländern: Syrien, Irak, Kosovo und Sri Lanka. Das hatte Schaller beim letzten Mal erfragen können und das waren auch die einzigen Fragen, die die Schüler in ganzen Sätzen beantworten konnten. Nicht jedoch, weil sie deren Grammatik durchdrungen, sondern weil sie es auswendig gelernt hatten.

Schaller zwang sich zur Ruhe. Er stellte sich breitbeinig in den Mittelgang, verschränkte die Arme vor der Brust und rührte sich nicht. Sein Blick war frei geradeaus, wie er es beim Wehrdienst vorgemacht bekommen hatte. Als totale Ruhe im Raum herrschte, begrüßte er die Kinder.
„Guten Morgen, Herr Schaller“, grüßten sie zurück.
Peter Schaller nahm das auf dem Pult liegende Deutschbuch und blätterte darin, bis er einen passenden Text gefunden hatte.
„Wir schreiben ein Diktat“, sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, die einen glauben machen konnte, er habe diese Stunde von langer Hand geplant.
„Ich werde zuerst den gesamten Text vorlesen, dann Satz für Satz in angemessenem Tempo. Wenn ihr nicht mitkommt, macht ihr einfach beim nächsten Satz weiter. Verstanden?“
Zwei Schüler nickten.
Peter Schaller begann den Text zu lesen. Es war ein recht simpler Text, Basisvokabular, um den Ablauf eines Morgens zu beschreiben: aufstehen, Zähne putzen, duschen, essen, frühstücken, anziehen, das Auto aus der Garage holen. Die Kopftuchmädchen schrieben fleißig mit, aber der Junge aus Sri Lanka konnte nicht einmal den Stift richtig halten, er grinste nur unverschämt. Die beiden Rumäninnen reihten nur einzelne Wörter aneinander, hauptsächlich Personalpronomen: Ich, Er, Sie, Du, Es. Gelegentlich erkannten sie ein Wort wieder und schrieben es im Infinitiv hin, ein konjugiertes Verb wollte ihnen nicht gelingen. Der Junge aus dem Irak beugte seinen Kopf tief über das Blatt, als Peter Schaller an seinem Tisch vorbeikam. Der Syrer schrieb bis auf ein paar Fehler alles richtig hin.
Als Peter Schaller das Diktat beendet hatte, las er den gesamten Text ein zweites Mal vor. Beim Vorlesen des Textes entstand bereits eine Unruhe, dessen Herd er beim Kosovaren vermutete. Er ging auf dessen Tisch zu und schlug mit der flachen Hand darauf. Er schaute dem kosovarischen Jungen tief in die Augen und sagte dann, durch die Zähne gepresst: „Aufpassen!“

Mit Müh und Not schaffte Schaller es, die Konzentration für den Rest der Stunde hoch zu halten. Als die Glocke zur Pause ertönte, entwich sowohl aus Schallers als auch der Kinder Körper schlagartig die gesamte Anspannung. Das Werk war vollbracht. Er hatte seine Autorität bewahrt. Aber auch hier kam keine Form des Stolzes auf. Warum nicht? Weil er keinen der Schüler zum Umdenken bewegt hatte. Sie reagierten nur auf Härte und Unnachgiebigkeit. Mit eiserner Strenge konnte man sie dazu bewegen, eine gewisse Form der Disziplin zu wahren, da sie diesen Unterrichtsstil aus ihren Herkunftsländern gewohnt waren. Aber, so hatte Frau Göpel in einer Lehrerkonferenz erklärt, das eigentliche Ziel sei es ja nicht, die allzu autokratische Bildungskultur ihrer Heimatländer nachzuahmen, sondern ihnen den demokratischen Erziehungsstil angedeihen zu lassen, was ungleich schwerer, und vor allem zeitaufwändiger war. In einer Einzelstunde, noch dazu in einer Vertretung, konnte man dies nicht bewerkstelligen, und so wählte Schaller jedes Mal den Weg des geringsten Widerstands: Härte.

Schaller verließ den Raum grußlos, und begegnete auf dem Flur der Ablöse für die Folgestunde.
„Und, wie sind die Kinder drauf?“, fragt Frau Dräger gut gelaunt.
In zehn Minuten vom Linksliberalen zum AfD-Wähler, wollte Schaller bemerken, aber er kannte Frau Dräger als relativ humorlose Kollegin, bar jeder Selbstironie, und so sagte er, dass alles in Ordnung gewesen wäre.

Die sechste und letzte Stunde des Tages verschwendete Peter Schaller wieder vor seinem Computer hinter verschlossenen Türen in seinem Büro. Er musste die Zeit bis zum Schulschluss überbrücken um dann die Verabschiedung seines Kollegen Harald Mertig gebührend begehen zu können. Der Nachmittagsunterricht war für diesen Tag abgesagt, alle Kollegen waren dazu angehalten, ins Landheim nach Bahrnau zu fahren, einer im Ländlichen gelegenen Herberge, die der Schule gehörte. Schaller wartete nach dem letzten Klingeln noch weitere zwanzig Minuten im Büro, um nicht noch auf Kollegen zu treffen, die ohne fahrbaren Untersatz gekommen und auf die Hilfe motorisierter Lehrer angewiesen waren. Als die Geräusche im Flur und die Geräusche startender Motoren draußen erstarben, nahm Schaller die Jacke vom Stuhl und ging gemächlich nach draußen. Sein schwarzer Mercedes 200D stand verloren auf dem Lehrerparkplatz und absorbierte die Hitze des Spätsommers. Schaller machte für ein paar Minuten alle Türen auf und ließ die angenehmere Außenluft einmal durch das Innere des Wagens zirkulieren. Dann stieg er ein und fuhr los.

Keine vierzig Minuten später fuhr er durch die breite Einfahrt des Herbergsgeländes. Vor dem Eingang des Hauptgebäudes standen schon etliche Kollegen, darunter auch einige Pensionäre und deren Gattinnen. Der alte Schulleiter war ebenfalls da und unterhielt sich angeregt mit Georg Weber und einem pensionierten Sportlehrer. Die Referendare standen am Grill und bereiteten das Fleisch und die Salate vor. Um die aufgestellten Stehtische herum wuselten ein paar Oberstufenschüler, die sich freiwillig zum Kellnern bereit erklärt hatten. Schaller parkte seinen Wagen, holte aus dem Kofferraum das in Altpapier eingewickelte Buchgeschenk für seinen Kollegen Harald Mertig und gesellte sich dann zu der Gruppe müßig herum stehender Lehrkörper.

Er war durch die vielen vorhergehenden Feste bereits geübt darin, an jedem Stehtisch ein lockeres Gespräch mit aktuellen, alten und angehenden Kolleginnen und Kollegen zu initiieren. Zu einem großen Teil bestanden diese Gespräche aber aus Automatismen: mit alten Kollegen sprach er über Familie und Gesundheit, mit aktuellen Kollegen über gemeinsame Schüler und Erfahrungen, mit angehenden Kollegen über grundsätzliche Philosophien der pädagogischen Arbeit. Die Gespräche waren oft die gleichen, nur die Kollegen änderten sich. Bei aller Freundschaftlichkeit waren diese Gespräche auch Kalkulation: die alten Kollegen verfügten teilweise über Kontakte zu Entscheidern, die in der Bezirksregierung saßen, mit den aktuellen Kollegen musste man ein Auskommen finden, da im Konfliktfall ihre Sympathie wichtig war und die neuen Kollegen konnten einem künftig die ein oder andere Arbeit abnehmen. Nur für eine Handvoll Kollegen empfand Schaller so etwas wie echte, tiefgründige Sympathie. Nur hier fand ein Austausch statt, den Schaller als belebend, humorvoll und tiefgründig empfand. Einer dieser Kollegen war Harald Mertig.

„Und, Harald, bereit für die Abschiedszeremonie?“, fragte Schaller ihn in leicht ätzendem Tonfall.
Harald lächelte milde. „Die meinen’s ja nur gut“, gab er sich nachsichtig.

Über den Flurfunk war kolportiert worden, dass die Deutsch-Fachschaft einen klassischen deutschen Schlager eigens für ihn umgedichtet hatte. Schaller stellte sich auf einen jener Fremdschäm-Momente ein, der für die Verabschiedungen am Leonhard-Euler Gymnasium so kennzeichnend war. Dabei war den Kollegen kein Vorwurf zu machen, denn Verabschiedungen erfolgten immer zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt: entweder am Ende eines Schuljahres oder Schulhalbjahres oder zumindest kurz vor den Ferien, also zu einer Zeit, in der den Kollegen der Schulstress schon in den Knochen steckte und sie erschöpft die Tage bis zum Beginn der Ferien zählten. In diesem Zeitfenster dann noch einen fulminanten Abschied mit grandiosen Laudatoren, einem unterhaltsamen Programm und standing ovations zu erwarten, dafür war die personelle Fluktuation im Schulbetrieb doch zu groß. Harald Mertig konnte dankbar sein, dass er an diesem Tag der Einzige war, der verabschiedet wurde. Auf dem vorhergehenden Fest vor den Sommerferien waren drei Kolleginnen in den Ruhestand getreten, und bei der Letzten, Frau Lehweiß, konnte die Kollegin von Glück sagen, dass keiner nach dem eineinhalbstündigem Verabschiedungszeremoniell seinen Gefühlen freien Lauf gelassen und ‚Hau endlich ab!’ geschrien hatte.

„Wie geht’s dann übermorgen bei dir weiter?“, fragte Schaller seinen Kollegen und Freund.
„Erstmal auspennen und dann sehen wir weiter. Am Samstag geht’s mit dem Boot los!“

Harald Mertig hatte in den letzten zwei Jahren seinen Bootsführerschein gemacht und sein großer Traum, den Rhein und die Ruhr rauf und runter zu schippern, sollte nun in Erfüllung gehen. Fast jede Verrentung begann so. Erst fühlte sich alles wie Urlaub und Ferien an, dann aber, wenn die Schule wieder ohne einen losging, tat sich den Pensionären die endlos scheinende Zeit wie ein schwarzes Loch auf, das einen Sog entwickelte, der so manch gestandenem Veteran das Fürchten lehrte. Jetzt kommt nur noch der Tod, dachten sie dann, und dieser Gedanke wandelte sich nicht selten zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Harald Mertig jedoch schien optimistischer.

Als Schaller sein Gespräch mit Mertig fortführen wollte, ertönte plötzlich eine Trompete aus dem Hintergrund. Schlagartig drehten die Kollegen ihren Kopf zur Quelle des Geräusches: auf der Mitte des Hofes, rechts von der Bierbänken und Tischen, stand stolz und dickbäuchig der Musiklehrer Kutz in seiner abgewetzten Jeans samt Holzfällerhemd und Hosenträger und blies eine Fanfare. Hinter ihm aufgereiht standen fünf weitere Kollegen, zwei junge, drei alte, die Partyhüte aus Pappe auf ihrem Kopf und Blasinstrumente aus Plastik in ihrer Hand trugen. Die Reihe setzte sich gemächlich in Gang und versuchte im Gleichschritt den Kopf des Platzes zu erreichen. Als sie dort angekommen war, stellten sich die Kollegen nebeneinander auf und der Musiklehrer Kutz holte eine Schriftrolle hervor, die er übertrieben theatralisch aufrollte. Verstohlen und verschmitzt schaute er nach links und rechts, fuhr sich mit seiner massigen Pranke durch das halblange, längst ergraute, leicht fettige Haar und hob zum Sprechen an, noch bevor sich alle ihm zugewandt hatten und still geworden waren.
„Hört, hört, liebe Leute, ich bringe euch frohe Kunde, so seid nun einmal still in der Runde. Unser Freund und Kollege Harald Mertig, hat, wie der Trapper Toni einst sagte, endlich fertig. Er wird, nach über vierzig Jahren, mit seinem Boot von dannen fahren. Wird er auch von uns scheiden, so können wir ihn doch gut leiden. Weitere Worte mache ich nicht viel, lieber Harald, ich wünsche dir stets eine Handbreit Wasser unterm Kiel.“

Während einige Kollegen lachten, unter anderem auch Harald Mertig, musste Schaller hier bereits das erste Mal mit den Augen rollen. Er nahm sich zu diesen Anlässen zwar immer wieder vor, die positive und freundlich gesonnene Stimmung zu absorbieren, merkte aber dann schnell, dass es wider seine Natur war. Vielleicht war es auch Ernüchterung darüber, dass sich in der Darbietung seiner Kollegen die eigene Mittelmäßigkeit spiegelte.

Nach der Verkündung gesellten sich noch einige Kollegen zu der Gruppe und stellten sich in der Formation eines Chors auf. Zwei junge Mathematiklehrer, Gerner und Lehmann, taten dies so eilfertig und mit einer exzessiven Mimik, die allen Anwesenden vermitteln sollte, dass die beiden eine ironische Distanz zum eigenen Handeln besaßen. Eine ältere, rothaarige Kollegin, Frau Rademacher, die vor allem die männlichen Schüler nur ‚die Hexe’ nannten, reihte sich ohne jegliche Allüren ein und holte nebst Lesebrille ein Blatt mit Noten aus ihrer Handtasche. Einer weiteren Kollegin, Frau Schulze, die aufgrund ihres massigen Gewichts den ganzen Tag nur ängstlich durch die Flure und Klassen des Leonhard-Eulers-Gymnasiums huschte, sah man an, dass sie lieber woanders wäre, und ein ebenso beleibter Kollege, den Schaller noch nicht mit Namen kannte, versuchte, ebenso erfolglos, mit seiner Masse in der anderen zu verschwinden.

Musiklehrer Kutz gab den Dirigenten und stellte sich vor dem Lehrerchor hin. Er zählte an und dann begannen zwölf Kolleginnen und Kollegen ein Lied zu intonieren, das der Melodie eines Gassenhauers von Udo Jürgens ähnlich war, aber einen auf den Kollegen Mertig gemünzten Text enthielt. Die Reime und Sprüche in diesem Lied waren dem Einfallsreichtum der vorhergehenden Verkündungsszene in nichts überlegen und von den Tönen der Melodie wurde auch nur jeder dritte annähernd getroffen. Schaller versuchte, seinen Blick auf den Boden zu wenden, um nicht laut lachen oder weinen zu müssen. Er konnte sich mit Mühe bis zum Schluss des Liedes beherrschen und hatte sich dann sogar so weit wieder im Griff, dass er den Menschen um ihn herum wieder in die Augen schauen konnte.

Nachdem diese musikalische Tortur beendet war und der Chor den Platz verlassen hatte, trat der Schulleiter, Herr Diedrichs, aus der Menge der Umstehenden hervor und stellte sich, mit einer Kladde bestückt, ungefähr dahin, wo Musiklehrer Kutz kurz zuvor noch gestanden hatte. Reinhold Diedrichs, inthronisiert von seinem Vorgänger und Parteifreund Manfred Siemer, war erst seit drei Jahren Schulleiter und selbst einmal Schüler des Leonhard-Euler-Gymnasiums gewesen. Diese quasi inzestuöse Regelung der Nachfolge war Schaller sauer aufgestoßen, allerdings hatte sich der einzige externe Bewerber in einer Vorstellungsrunde im Rahmen einer Lehrerkonferenz so schwach präsentiert, dass Schaller die Schule hinsichtlich ihrer künftigen Führung zwischen Skylla und Charybdis wähnte. Reinhold Diedrichs war auf den ersten Blick ein gemütlicher, umgänglicher und fairer Schulleiter, doch was er wirklich taugte, ließ sich noch nicht sagen.

„Mein lieber Harald“, begann der neue Schulleiter und erhob sein Bierglas.

Was folgte, war eine weder sehr persönliche, noch allzu distanzierte Eulogie auf den scheidenden Kollegen unter Zuhilfenahme der Personalakte und anderer Paraphernalien. Die aus der Akte entnommenen Daten dienten dem Lobredner als Trittsteine, die ihm über das seichte Gewässer seines munter dahin plätschernden Monologs auf die andere Seite helfen sollten, auf der übrigens auch das Grillbüffet mit den Referendaren stand. Ein Trittstein war die Beurteilung des ehemaligen Schulleiters, der Mertigs Beförderung zum Oberstudienrat ermöglicht, ein anderer Trittstein war der Sonderurlaub, den er für seine Vermählung zugestanden bekommen hatte und ein weiterer Trittstein der Bericht eines Oberstufenschülers über eine Studienfahrt nach Weimar im Jahre 1992. Der letzte Trittstein schließlich war ein Versuch des Schulleiters, sich selbst mit seiner ganzen Leibesfülle aufs Korn zu nehmen, offensichtlich, um nahbarer und menschlicher zu wirken.

„Lieber Harald“, sagte er, „uns allen ist nicht verborgen geblieben, dass so mancher Schüler dir den Kosenamen Mr. Pringles gibt, der natürlich vor allem auf deinen wundervollen Schnauzbart abzielt. Das rundliche Gesicht ist natürlich ebenso Teil dieser Physiognomie, aber lass dir gesagt sein, dass beide Elemente eine, wie ich finde, wundervolle Einheit bilden. Und neben mir, lieber Harald, gehst du doch immer noch als dünner Hering durch. Ich wünsche dir also im Namen des Kollegiums und der Mitglieder der Schulleitung einen schönen Start in die Pension und einen weiterhin gesunden Appetit.“

Unter dem teils verhaltenen, teils lauten Beifall, unter dem Gelächter und Gelächel der versammelten Kollegen, machte sich der Schulleiter, mit einem von der Sekretärin gereichten Blumenstrauß und Geschenk auf dem Weg zum scheidenden Kollegen. Die Art, wie beide sich umarmten, ließ Schaller an die aufblasbaren Sumoringer-Anzüge denken, die er mal auf einem Abischerz gesehen hatte. In den Gesichtern der umstehenden Leute konnte er ähnliche Gedanken ablesen, aber jeder unterdrückte den Impuls, dieses Schauspiel zu kommentieren. Als der Schulleiter sich aus der Umklammerung löste, war es an Harald Mertig, sich mittig hinzustellen und ein paar warme Worte zu verlieren.

„Tja“, begann Harald Mertig, und seufzte in der ihm eigenen Art. „Nu iss er da, der Tag X.“

Wie Harald da so stand, so unprätentiös wie unvorbereitet, hätte Schaller ihn gerne direkt in den Arm genommen. So manch scheidender Kollege vor ihm hatte diesen letzten Auftritt für ein Abrechnung mit der Schulleitung, der Bildungspolitik oder unliebsamen Kollegen genutzt, manche hatten auch in einer ellenlangen Suada mit Intellekt zu glänzen versucht oder vermocht und wiederum andere hatten sich dieser Abschiedszeremonie ohne Ankündigung komplett entzogen. Harald aber stand einfach nur da, echt und ehrlich, und sprach wie er immer sprach: von Herzen.

„Erstmal möchte ich mich bei den Kollegen bedanken, die so toll gesungen haben. Der Udo Jürgens ist ja schon auch ein toller Sänger, so watt kann man gar nich verhunzen. Ich möchte mich aber auch bei allen Anwesenden heute bedanken, ich war immer gerne Lehrer und ich war immer gerne am Leonhard-Euler. Vierzig Jahre sind ne lange Zeit und klar hab ich mal dran gedacht, mich versetzen zu lassen, nochmal watt anderes zu machen, Fachleiter werden zum Beispiel. Aber irgendwie, irgendwie war ich immer zu faul, zu gemütlich, wahrscheinlich weil et mir ja eigentlich gut ging hier. So, ich möchte jetzt auch gar nich mehr lange reden, denn ich hab Hunger, aber eins möchte ich doch noch sagen, watt vielleicht wie ein Appell rüber kommt aber gar nich unbedingt so gemeint ist. Wir sind ja mittlerweile eine, hier, wie sacht man datt jetzt, ne Brennpunktschule. Und die Schülerschaft hat sich wirklich sehr gewandelt in den letzten Jahren. Früher waren dat die Arbeiterkinder, dann kamen die Gastarbeiterkinder und jetzt sind datt fast nur noch deren Kinder, also mit Migrationshintergrund, wie ett jetzt so schön heißt. Aber die Arbeit ist eigentlich doch dieselbe geblieben. Wir sind ein Gymnasium, ja, aber eins im Norden der Stadt und datt heißt datt wir nicht nur Lehrer für die Kinder sind, sondern bisschen auch sowat wie Eltern. Und datt, finde ich, sollten wir nicht vergessen. Am Leonhard-Euler waren immer Kollegen, die die Schüler in den Blick genommen haben, die den Schülern ne Chance geben wollten, und dat wünsche ich mir von ganzem Herzen, datt dat bitte so bleibt. Tja, dat wart eigentlich schon. Danke nochmal und guten Hunger!“

Der Applaus, den Harald Mertig für diese improvisierte Rede bekam, war, wie Harald selbst, aufrichtig und echt. Auch Peter Schaller, der viele Jahre mit Harald Seite an Seite gearbeitet hatte, war gerührt und auch ein wenig betroffen vom Weggang eines geschätzten Kollegen. Harald war einer der letzten Granden, dank des an Schulen grassierenden Schweinezyklus’ wurde in den vier letzten und fünf kommenden Jahren das komplette Kollegium einmal ausgetauscht. Jüngere rückten nach, mit neuen Ideen und vor Energie strotzend, die ergrauten Frontalunterrichtler dankten ab. Peter Schaller hing diesbezüglich in der Mitte, er war mit seinen zweiundfünfzig Jahren weder richtig jung noch richtig alt. Aber nun, als er den Blick in die Runde warf und sich ausschließlich von Zwanzig- bis Dreißigjährigen oder Sechzig- bis Siebzigjährigen umgeben sah, fühlte er sich wie ein waidwunder Soldat im Niemandsland, irgendwo zwischen Kampf und Aufgabe.

Der Nachmittag klang gemütlich aus. Schaller blieb noch insgesamt zwei Stunden, unterhielt sich mit Harald, schwatzte mit Frau Rademacher und scherzte mit Herrn Diedrichs. Zwischendurch kam einer der neuen Referendare fast schon demütig auf ihn zu und fragte, ob er nach den Ferien bei ihm im Englischunterricht in der Q1 hospitieren und vielleicht auch unterrichten könne. Schaller sagte sofort zu, nicht nur, weil er gerade neben dem Schulleiter stand, aber auch. Der Referendar, der sich als Niklas Wagner vorstellte, war überdurchschnittlich groß, blass und hager. Sein blondes Haar fiel ihm in dünnen Strähnen ins Gesicht, seine Ohren waren leicht überdimensional, seine blauen Augen durchdringend und der Mund eher schmal. Er wirkte wie ein ausgewachsener Michel aus Lönneberga, der Schalk saß ihm immer noch im Nacken, aber er konnte ihn kontrollieren. Schaller war sich unschlüssig darüber, ob dieser Niklas vor einer Klasse bestehen könne. Aber er hatte auch schon Referendare erlebt, die rum liefen wie Falschgeld, kaum Körperspannung besaßen, jedoch, sobald sie einen Klassenraum betraten, einen unsichtbaren Schalter umlegten, und plötzlich eine Begeisterung und Dynamik ausstrahlten, die auf die Schüler übersprangen. Vielleicht war dieser Niklas so ein Kandidat. Es blieb abzuwarten.

Gegen sechs Uhr abends fuhr Schaller nach Hause. Der Verkehr auf der Autobahn floss zäh dahin, aber Schaller hatte es nicht eilig. In Gedanken hing er dem Nachmittag nach, dem Abschied eines geschätzten Kollegen. Seine Stimmung war zunächst nostalgisch-melancholisch, doch mit jedem gefahrenen Kilometer fühlte Schaller eine Verzweiflung in sich aufsteigen. Frei nach der amerikanischen Dichterin Anne Sexton, derzufolge ein Schmerz wie eine Seuche erforscht werden müsse, versuchte Schaller den Grund seines plötzlichen Trübsals zu eruieren. Was bekümmerte ihn?

Aber dann, plötzlich, kam die Erleuchtung. Als er die Ausfahrt nach Hause nahm, wusste er, dass ihm durch die Art und Weise, wie Harald sich und wie man Harald verabschiedet hatte, etwas klar geworden war. Wenn man ihn, Oberstudienrat Schaller, in dreizehn Jahren genauso verabschiedete, würde er, im Gegensatz zu Harald Mertig, sein Leben als gescheitert und unerfüllt betrachten. Und momentan sah es so aus, dass es genauso kommen würde.
Zuletzt geändert von Teacherman am 06.04.2019, 11:28, insgesamt 1-mal geändert.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 06.04.2019, 10:43

Hallo Teacherman, Du hast geschrieben:
Erst fühlte sich alles wie Urlaub und Ferien an, dann aber, wenn die Schule wieder ohne einen losging, tat sich den Pensionären die endlos scheinende Zeit wie ein schwarzes Loch auf, das einen Sog entwickelte, der so manch gestandenem Veterinär das Fürchten lehrte.

Lehren steht m.W. mit doppeltem Akkusativ. Und völlig schleierhaft ist mir, warum Du die Pensionäre aus Veteranen des Lehrerberufs in Tierärzte verwandeln willst. Soll das lustig sein?
Ich habe im übrigen auf Textarbeit verzichtet, da Du sowieso nichts änderst. Das vielleicht Realistischste an dem Text ist seine Ereignisarmut und das Gefühl von Leere, Langeweile und Überdruss, das er vermittelt. Die einzige Gegnerschaft, die ich spüre, ist die von Lehrern und Schülern. Warum stülpt Schaller der Migrantenklasse das dämliche Diktat über und erkundet nicht mal, was sie interessiert? Was bei ihnen momentan Thema ist? Für sowas sind Vertretungsstunden ideal. Er will gar kein Gespräch mit ihnen, sie interessieren ihn nicht. Er fühlt sich durch sie nur gestört. Er ist eben ein - Beamter.
Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 06.04.2019, 20:21

Whiskey. Erstaunlicher Zufall. Ich dachte immer, es sei eine Besonderheit unseres Rektors damals gewesen, wenn er hin und wieder im Dienst nach der Whiskeyflasche griff.

Also ich meine jetzt nicht Alkohol im Dienst allgemein; das ist ja bekanntlich weit verbreitet. Sondern ausgerechnet Whiskey ...

Teacherman
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Beitragvon Teacherman » 07.04.2019, 15:03

@Quoth

Hab Nachsicht mit mir, ich habe erst gestern erkannt, wie man Texte nochmal überarbeitet. Den Veterinär hab ich schon in Veteran geändert, war keine Absicht (im Englischen kann zumindest die Kurzform 'Vet' beides bedeuten). Zeugniskonferenz wird ebenfalls zeitnah redigiert.

LG, Teacherman

Nifl
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Beitragvon Nifl » 09.04.2019, 19:05

Hallo Teacherman,

geht mir ähnlich wie Quoth. Ich würde "streichen, streichen, streichen", kill your Darlings oder wie auch immer, diese ziellos wirkende Detailtreue ist ermüdend. Gehe einen Schritt zurück und frage dich, was diese Szene transportieren sollte. Ich brauche nicht jede Geste von irgendeiner Randfigur. Ich würde den Protagonisten markanter/besonderer machen, das mit dem Whisky war schon gut und auch mit der Migrantenklasse, aber bitte löse dich von dem minutiösem Stasiberichtsstil. Gehe auch näher an den Schaller ran, das ist alles viel zu distanziert. Auch dein Botschaftsgehabe, weg damit.
Dann könnte ich mir durchaus vorstellen, dass das -für mich- lesbar wird. Das Ende ist jedenfalls vielversprechend.

Viele Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)


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