Chóśebuz

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Werner
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Beitragvon Werner » 04.10.2019, 16:34

Ich saß im Lauterbach und wartete. Nicht im hauptgeschäft in der Sprem, sondern in der filiale in der Fürst-Pückler-Passage, gegenüber dem bahnhof, gleich neben dem schwedischen hotel, in dem ich wohnte. Ich wartete auf P, wir waren verabredet. Ich war zu früh. Ich nahm sein manuskript und las.

Wir haben den krieg schon lang vergessen, das ist wahr. Und wahr ist auch, dass ich die menschen liebe, ich habe viel für sie übrig.

Ich hatte mich entschlossen, den fotoband zu machen. Die idee stammte von Gary, und eigentlich auch wieder nicht. Gary hatte auf der party davon gesprochen. Ihm schwebte ein band mit schwarz-weißfotos vor, nur schwarz-weißfotos. Man müsse einfach eine kamera nehmen und damit durch die stadt laufen, überall gebe es motive. Ich hatte Gary auf der party von meinen spaziergängen erzählt. Tagelang hatte ich mich in den gassen und winkeln der historischen altstadt herum getrieben, hatte die außenbezirke durchstreift, war über die gelände der stillgelegten tuchfabriken gestolpert.

Warst du schon im Museum für Neue Kunst? fragte Corinna und fuhr fort, die haben da ein irres gemälde! Und dann beschrieb sie es in allen einzelheiten, ich kannte das bild. Gary meinte, ich müsse gleich am nächsten tag die ersten aufnahmen machen. Fotografiere alles, was dir vor die linse kommt, und überlege nicht lang, wähle nicht aus! Einfach draufhalten und abdrücken, das genüge für den anfang. Aber ich hatte da meine eigenen ideen.

Das bild führt die vergänglichkeit vor augen. Im linken bildvordergrund sieht man die grablegung Christi. Weiße tücher umhüllen den leichnam des Heilands, des erlösers der welt, den sein vater in der stunde des todes verließ. Der verdrehte kopf Christi mit dem vom betrachter abgewandten gesicht weist in den rechten bildhintergrund. Eine stillende mutter mit kind wohnt dort einer kreuzigungsszene bei. Eine menschenmenge aus soldaten in kampfuniformen, alten herren im frack, badegästen und freizeitsportlern bindet eine nackte, farbige frau an einen holzpfahl und peitscht sie aus. Die geschlechtsteile der frau sind überdeutlich abgebildet. Über allem schwebt eine riesige dornenkrone mit der aufschrift vita e morte! Den leichnam Christi trägt ein nacktes paar. In der bildmitte sieht man eine größere, unregelmäßige stelle, die unbemalt ist. Die rohe leinwand bildet dort einen markanten fleck. Vielleicht wollte der künstler damit das unausdrückbare nichts ausdrücken? Seitlich rechts und links von dem gemälde befinden sich große fotocollagen aus fetzen von werbeplakaten, illustrierten, modejournalen, politischen magazinen, tageszeitungen und anderen schriftstücken. Das gesamte ensemble gleicht einem tryptichon. Der titel des kunstwerkes lautet dreieinigkeit oder der sechste schöpfungstag.

Die tage wurden kürzer, die nächte kälter, das wetter schlecht, es war november. Genau die richtige jahreszeit für die fotos, grau und kälte standen der stadt gut. Da waren das nasse kopfsteinpflaster in der Bautzener, dort, wo sie die bahngleise querte, das gras neben dem bordstein, die letzten hundeblumen blühten zwischen den ritzen der pflastersteine, da waren die spiegelungen in den pfützen. Nichts in der stadt war eben und glatt. Da gab es verfallende fassaden der bürgerhäuser aus der gründerzeit gleich neben neu herausgeputzten fassaden.
Kontraste, licht und schatten, ideal für schwarz-weißaufnahmen, rauhe oberflächen, gebrochene strukturen. Mauerwerk ohne mörtel, putz, der nicht haftete, ornamente bis zur unkenntlichkeit verwittert. Gehwege aus fest getretenem erdboden neben neu asphaltierten straßenbelägen. Ich fotografierte alles, arbeitete konventionell, altmodisch: eine sucherkamera, manuelle belichtungsmessung, grobkörniges filmmaterial, unscharfe konturen. Die besten motive wollte ich in einem zweiten gang mit einer mittelformatkamera, makroobjektiv, blitzschirm und feinstem filmkorn noch einmal aufsuchen. Jede einzelne ecke, rauhigkeit wollte ich wie in studioatmosphäre festhalten.
Die Friedrich-Ebert-Straße und die beiden kirchen, die kleine wenden- oder landkirche des ehemaligen klosters und die große bürger- oder stadtkirche, hatten es mir als motive besonders angetan. Es schneite, als ich in die Sprem einbog, die mit matten, hellen granitplatten neu ausgelegt worden war. Futuristische straßenlaternen mit graphitfarbenen masten aus hohlprofilstahlblechen säumten die fußgängerzone. Gary war fasziniert von meinen bildern, Corinna wollte mit mir schlafen.
Warst du schon im fußballstadion? Gary meinte, dass ich da unbedingt bei einem heimspiel hin müsse, die idee hatte ich vor seinem vorschlag auch schon gehabt. Ich wollte die menschen in der stadt fotografieren, die gesichter, mit einem normalobjektiv. Nur kein tele! Ich wollte den menschen ganz nah sein, ihnen auf die pelle rücken. Ich wollte ihre körpertemperatur und ihren atem einfangen, die hautfältchen unter den augen und auf den handrücken festhalten.

Gary tupfte sich mit einem in gesichtswasser getränkten wattebausch die schminke aus dem gesicht, ich stand hinter ihm und beobachtete ihn im spiegel. Die ganze garderobe roch nach isopropylalkohol, schweiß und vaseline. Hast du mich gesehen?
Ich wollte lügen und ja sagen, aber Garys gesichtsausduck merkte ich an, dass er mich durchschaut hatte.
Du warst nicht in der vorstellung, sag es frei heraus!
Ich schwieg.
Gary beendete das schweigen: was hältst du von Corinna, gefällt sie dir, hast du bemerkt, dass sie in dich verknallt ist, verknallt ist nicht der richtige ausdruck, dass sie versucht, dich anzumachen, und mit dir schlafen will?
Hast du schon die probeabzüge der fotos aus dem stadion angeschaut, wie findest du sie?
Gary schminkte sich weiter ab und sagte nur: jetzt lenk nicht ab!

Er begann, sich auszuziehen.
Natürlich habe ich bemerkt, dass Corinna es auf mich abgesehen hat! Und, weil ich Gary nicht belügen wollte, sagte ich es frei heraus: es ist auch schon passiert zwischen uns, zwischen Corinna und mir!
Er sackte bei meinen worten innerlich zusammen.

Nach einer weile sagte er: hast du alles vergessen?
Er war nackt und stand direkt vor mir. Ich schämte mich und wusste nicht, wo ich hinschauen sollte.
Schau mich nur an, schau mich an! schrie Gary.
Früher hast du es oft getan, und noch mehr, du hast dich nie geschämt! Es hat dir sogar gefallen!

Weißt du, dass Corinna es mit jedem und jeder treibt? Und nach einer kurzen pause: warum wirfst du dich so weg?

Und dann fiel er über mich her wie ein tier, wie ein dürstendes und ausgehungertes tier, genau wie damals, beim ersten mal, und ich hatte nicht die kraft, mich zu wehren, erinnerte mich an damals, an unseren sommer, der nicht enden wollte und dann doch geendet hatte. Auf einmal hatten wir genug voneinander gehabt und uns schließlich sogar gehasst.

Als wir aus unserem taumel aufwachten, beide nackt am boden dieser schäbigen garderobe eines drittklassigen provinztheaters, stand Corinna in der tür. Sie musste schon eine weile dort gestanden haben.
Die fotos sind großartig, sagte sie, drehte sich um und ging.

Auf dem weg zurück in mein hotel wartete ich lange vor der geschlossenen schranke des bahnübergangs an der Bautzener und stierte über das nasse kopfsteinpflaster. Der mann im stellwerk beobachtete mich. Nass vom regen erreichte ich das hotel.

Erinnerung und vergessen liegen manchmal ganz nah beieinander, manchmal sind sie aber auch sehr weit voneinander entfernt.

Ich legte das manuskript beiseite und schaute aus dem fenster: grau. P kam noch immer nicht. Ich bestellte einen kaffee. Ein theaterstück fiel mir ein, das ich vor jahren verlegt hatte.

In dem ersten bild des stücks, einem vorspiel im paradies, war es auf der bühne zuerst ganz dunkel gewesen. Eine männer- und eine frauenstimme hatten im wechsel freiheit, die ich meine, gleichheit für alle, brüderlichkeit, schwesterlichkeit gesagt. Beim spielen der Marseillaise war das licht angegangen: eine aufrecht gehende, nackte frau hatte einen gebeugt gehenden, nackten mann an einem lederhalsband mit leine über die bühne geführt. Der mann hatte versucht, sich aufzurichten, war aber mit peitschenhieben von der frau daran gehindert worden. Auch seine hilferufe hatten ihm nichts genützt. Dann war das licht erloschen, und über lautsprecher hatte man den John-Lennon-Song woman is the nigger of the world gehört.
Im weiteren verlauf des stücks war eine inzestgeschichte zwischen vater und tochter vorgekommen. Die tochter hatte über ihr seelisches leiden gesprochen, der vater war in form eines geistes, eines gespenstes erschienen.

Gespenster, überall gespenster. Geister.

Teacherman
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Beitragvon Teacherman » 24.11.2019, 18:32

Lieber Werner,

gefällt mir dein Text, vor allem, weil ich was gelernt habe. Das Cottbus auf Niedersorbisch Chósebuz heißt, dass John Lennon ein Song mit diesem Titel geschrieben hat. Ich mag deine assoziativ, eher unprätentios daher kommende Sprache und finde auch spannend, wie am Ende plötzlich die Handlung ins Spiel kommt und regelrecht explodiert. Du nimmst den Leser nicht bei der Hand und erklärst ihm alles, sondern er muss sich selbst einen reim auf das Geschriebene machen. Eine Frage habe ich noch: gelegentlich stoße ich auf Texte wie deine und frage mich: ist diese konsequente Kleinschreibung rechtens?

LG,

Teacherman

P.S.: Das beschriebene Kunstwerk aus dem Museum für neue Kinst, gibt es das wirklich? Falls ja, wüßte ich gerne den Namen des Künstlers/ der Künstlerin?

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Werner
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Beitragvon Werner » 24.11.2019, 20:16

Danke für Deine Zustimmung zum Text, die freut mich natürlich!

Das Kunstwerk gibt es nicht.

"rechtens?" Ich arbeite hier mit meiner eigenen neuen, "europäischen Rechtschreibung" (gilt nur für meine Prosa). Das heißt, wie in den großen "europäischen" Weltsprachen, z. B. im Englischen, Französischen, Spanischen, Italienischen, Portugiesischen usw., verwende ich Großschreibung nur am Satzanfang und bei Eigennamen (gut im Englischen wird I = Ich immer groß geschrieben), sonst ist alles klein geschrieben, auch Substantive. Bei den genannten anderen europäischen (Welt-)Sprachen wundert sich niemand darüber ... in keinem Buch, in keinem Sprachkurs oder in keiner Schule. Warum also im Deutschen? Von einer durchgängigen Kleinschreibung (alles!) halte ich wenig, da ein Text sonst weniger strukturiert ist (z. B. Satzanfänge). Auch verzichte ich in der Prosa (im Gegensatz zu meiner Lyrik, dort schreibe ich alles klein, ganz ohne Satzzeichen) nicht auf Satzzeichen.


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